Ukrainer:innen unter sich – Schwieriges Verhältnis zwischen den Menschen aus der Ukraine und der Friedensbewegung
Beide, die ukrainischen Menschen, die sich auf die Flucht vor dem Krieg begeben haben, und die deutsche Friedensbewegung „mögen“ diesen Krieg nicht. Aber wo immer die Friedensbewegung eine Kundgebung gegen den Ukrainekrieg macht, versuchen ukrainische Aktivist*innen, sich Gehör zu verschaffen für ihre Sicht der Dinge und ihre Forderungen. Umgekehrt: Wenn ukrainische Geflüchtete oder schon länger hier lebende Menschen eine Kundgebung gegen den Krieg machen, macht die Friedensbewegung lieber einen Bogen um die Veranstaltung. Es kommen auch beide nicht auf die Idee, sich zu koordinieren oder gegenseitig einzuladen, von den großen Kultur-gegen-den-Krieg-Events mal abgesehen.
Natürlich hängt diese Distanz mit sehr unterschiedlichen Auffassungen zu diesem Kriegsgeschehen zusammen. Die ukrainische Community fordert im Wesentlichen bessere Waffen, um die russischen Invasoren aus dem Land zu drängen. Darin werden sie von grünen, christdemokratischen und einer Mehrheit der sozialdemokratischen Offiziellen lauthals unterstützt. Die linke community und die Friedensbewegung halten dies für einen völlig falschen Weg.
Zu spüren ist aber bei vielen Menschen, die teils Jahrzehnte lang auf Demonstrationen und Kundgebungen ein klares Programm hatten, nämlich „die Waffen nieder!“. „Frieden schaffen ohne Waffen“ etc., eine merkliche Verunsicherung. Vor dem diesjährigen Ostermarsch, der eigentlich angesichts eines heißen Krieges vor der Haustür und mit Weltenbrand-Potenzial, aus allen Nähten hätte platzen müssen, war schon die eine oder andere Stimme zu hören: „Da gehe ich dieses Jahr nicht hin – da hab ich kein gutes Gefühl – wie man es macht ist es falsch.“
Die Verunsicherung ist riesig. Irgendwie passt das gewohnte, in einem imperialistischen und über Jahrzehnte höchst aggressiven Kontext entwickelte Denkwerkzeug nicht so richtig. Es befasst sich mit der Verhinderung von Aggression durch den „eigenen“ Staat. Zur Frage der Verteidigung gegen äußere Aggression gab es in der 2. Hälfte des 20. Jh. bestenfalls das Konzept der „sozialen Verteidigung“.
Die in der spezifischen Situation des russischen Angriffs auf die Ukraine auf „altem Wissen“ basierend schon immer alles ganz genau wissen, wissen es vielleicht einfach deswegen ganz genau, weil sie sich keine(n) weiteren Fragen stellen.
Der Pazifismus hatte seine größten Zeiten in Zwischenkriegs- und Vorkriegszeiten mit zahlreichen internationalen Friedenskongressen, wie z.B. dem Friedenskongress der II. Internationale in Basel 1912. Dort ging es um das Schaffen und Erhalten von Frieden ohne Waffen. Seine größten Niederlagen hatte der Pazifismus, wenn dann doch der Krieg von den Herrschenden vom Zaun gebrochen wurde. Die hehren Versprechen der nationalen Organisationen der europäischen Arbeiter:innenbewegung, sich nicht in das gegenseitige Rauben und Morden der imperialistischen Mächte hineinziehen zu lassen, brachen 1914 zusammen. „In der Stunde der Not stehen wir zu unserem Vaterland“ – wie das der Mannheimer Sozialdemokrat und Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank sinngemäß sagte, bevor er binnen zweier Wochen fiel. In der deutschen Arbeiter:innenbewegung und Sozialdemokratie war diese Position ja auch deswegen verbreitet, weil man im Zarismus zu Recht die Spitze und das Bollwerk der europäischen Reaktion sah und nicht die bis dahin erreichten politischen und sozialen Errungenschaften vom Zarismus zertreten lassen wollte.
1915 fand noch ein Internationaler Frauen-Friedenskongress in Den Haag statt – die bis dahin in Politik und Wirtschaft dominanten Männer hatten versagt. Dieser Kongress stellte wegweisende Forderungen auf, die dann erst nach dem Krieg aufgegriffen wurden.
Bertha von Suttner starb wenige Tage vor Kriegs-„Ausbruch“ 1914. Sie hatte getan, was sie tun konnte gegen die Kriegstreiber. Sie hätte wahrscheinlich auch im Krieg gerufen und geschrien: Die Waffen nieder! Und das war in einem Weltkrieg, in dem alle teilnehmenden Mächte im Angriffs- und Expansionsmodus waren, auch die einzig richtige Position, und sie war – das muss man sagen – auch eine ganz einfach zu findende Position. Wären alle Krieger nach Hause gegangen – der Krieg wäre zusammengebrochen. Und tatsächlich haben Massendesertion und Revolution zumindest seitens des Zaren- und des Kaiserreichs den Krieg zusammenbrechen lassen.
In der Zwischenkriegszeit war dann die Errichtung des Völkerbunds ein Erfolg auch der pazifistischen Bewegungen gewesen. In Deutschland – inzwischen bürgerliche Republik – braute sich unter den Augen einer tief gespaltenen Arbeiter:innenbewegung der Nationalsozialismus als Massenbewegung zusammen, der zügig zur Revision der Ergebnisse des Ersten Weltkriegs und zur Eroberung des Ostens, Frankreichs, Großbritanniens und der Wiedererlangung von Kolonien schritt. Die Position des Pazifismus war im Deutschen Reich Wehrkraftzersetzung und Widerstand. In den angegriffenen Ländern war angesichts des barbarischen Feindes die Position des Pazifismus sicherlich schwierig. Wohl kaum jemand sang „Frieden schaffen ohne Waffen!“. Bis sich dann – nach dem militärischen Sieg über den NS-Terror – alle Pazifist:innen im Kampf gegen Atombewaffnung international wieder zusammenschließen konnten und heute weniger denn je lockerlassen dürfen.
Und was sagt der Pazifismus nun nach dem Untergang der Sowjetunion und der Mutation der Russischen Föderation zu einer despotischen, völkischen und alte Reichsambitionen verfolgenden Macht nach deren Überfall auf die Ukraine?
In linken Kreisen wird auf die Geschichte der NATO-Osterweiterung, auf den Verzicht des Westens auf eine wirklich breite europäische Friedensordnung unter Einbeziehung der Russischen Föderation verwiesen. Zu Recht. Aber aus politischen Konflikten und Provokationen einen offenen Angriffskrieg („Politik mit andern Mitteln“?) abzuleiten ist einfach unentschuldbar. Wer den gravierenden Unterschied zwischen Nicht-Krieg und Krieg relativiert ist zynisch.
Also muss die Position des Pazifismus sein: Sofortiger Waffenstillstand und Abzug der Invasoren! Zurück zur Diplomatie! Stärkung der UNO, ernsthafte Gedanken über eine europäisch / eurasische Friedensordnung! Schon jetzt die Plattformen bauen, auf denen dann verhandelt werden kann.
Wenn aber der Aggressor zu Verhandlungen keinerlei Anlass sieht?
Und wie ist das mit dem völkerrechtlich verbürgten Selbstverteidigungs- und Beistandsrecht eines überfallenen Landes? Dies wird nicht dadurch gemindert, dass in viel zu vielen Fällen zuvor schon Länder überfallen wurden – nicht von Russland, sondern von der NATO, europäischen Mächten oder den USA. Das Selbstverteidigungsrecht wird auch nicht durch die inneren Verhältnisse gemindert, welche die Ukraine im Spiegel der geordneten rechtsstaatlichen liberalen Demokratie nicht besonders vorteilhaft erscheinen lassen.
Darf die deutsche Friedensbewegung den Ukrainerinnen und Ukrainern, ob sie auf dem Paradeplatz stehen oder innerhalb ihres Landes auf der Flucht sind, in zerschossenen Städten ausharren oder militärisch kämpfen, von sicherem deutschen Boden aus die Kapitulation empfehlen? Ist der Streit über Waffenlieferungen und Sanktionen nicht einfach auch ein verdeckter Streit über die Kapitulationsempfehlung?
Womit wir bei der nicht zu lösenden Frage angekommen sind: Dürfen Menschenleben gegen „Freiheit“, politische und kulturelle Selbstbestimmung, gegen Wohlstand und Lebensqualität aufgewogen werden? Gemäß der alten im Kalten Krieg im Westen immer wieder propagierten Alternative: Lieber tot als rot? versus: lieber rot als tot? (Diese Fragestellung wird wegen ihrer unübertroffenen Kürze zitiert, nicht weil es hier irgendwie um „rot“ – außer dem Blut – geht). Diese Frage muss man eigentlich den Menschen überlassen, die sie unmittelbar betrifft.
Abschließend sei noch an einem beliebten militärtheoretischen Dogma gerüttelt: „Waffenlieferungen eskalieren nur die Lage und machen alles schlimmer.“ Nach über fünf Monaten offenem Krieg ist die Lage in der Ukraine augenscheinlich die, dass der Krieg im Osten und Südosten der Ostukraine tobt, wo er – wenn auch nicht so weit nach Westen vorgedrungen wie jetzt – 2014 begann. Zwei Drittel des Landes haben unter relativ seltenen Raketeneinschlägen zu leiden, ermöglichen aber noch ein einigermaßen ziviles Leben. Der Ruf nach Raketenabwehrsystemen (wenn auch nicht nach geschlossenem Himmel, der nur unter NATO-Einsatz funktionieren würde), hat eine gewisse Evidenz. Waffen sind per se nie defensiv. Dieselben Waffen, die defensiv zur Landesverteidigung eingesetzt werden, können – über die Landesgrenze hinaus geschoben – offensiv, ja aggressiv eingesetzt werden.
Und genau hier besteht die ernsthafte Aufgabe von Friedenspolitik: Die Rote Linie zwischen Landesverteidigung und dem Umschlag in Aggression deutlich machen. Und stets – offen oder im Hintergrund – ausloten, ob, wo, wie und wann Ansätze für Diplomatie entwickelt werden können. Der fragile Einstieg in die Getreideausfuhr ist ein solcher kleiner aber bedeutungsvoller Ansatz. Die UNO ist dabei unentbehrlich (wird aber in den Nachrichtensendungen gerne unterschlagen oder nur am Rande erwähnt).
Es gibt Vieles zu diskutieren. Aber wann, wie und wo?
Thomas Trüper