Untergetaucht in Freiburg, verhaftet in Mannheim, Neuanfang im Baskenland [mit Video]
Tomas Elgorriaga über seine Flucht- und Gefängniserfahrungen und die Aufarbeitung von Folter im spanischen Staat
Hondarribia, eine Kleinstadt am Meer an der französisch-spanischen Grenze. Die Menschen, die hier leben, würden sagen: „mitten im Baskenland“. Anfang September fand die alljährliche Fiesta statt und die Straßen waren voller Menschen. Wir trafen hier Tomas Elgorriaga, der mit dem rund 1000 Kilometer entfernten Mannheim ein schwieriges Verhältnis hat.
„Ein bisschen Panik bekomme ich, wenn ich ab und zu mit dem ICE an Mannheim vorbei fahre“, erzählt Tomas. Wir sitzen am Fischerhafen in der Abendsonne und sein freundliches Gesicht wird ernst. Vor acht Jahren wurde der heute 59-jährige Baske in Mannheim verhaftet. U-Haft, Auslieferung nach Frankreich und knapp 3 Jahre Gefängnis folgten. Mitgliedschaft in der baskischen Untergrundorganisation ETA war der Grund seiner Verhaftung.
Link zum Videobeitrag: https://youtu.be/cS8JrPRgB-Y
Gefoltert, angeklagt, geflohen
Tomas war 1998 wie viele junge Menschen aus der baskischen Unabhängigkeitsbewegung verhaftet worden. Die Guardia Civil, eine paramilitärische Polizeieinheit, brachte ihn nach Madrid in Polizeigewahrsam. Dort wurde er gefoltert und pauschal wegen Mitgliedschaft in der ETA angeklagt.
Tomas war ein politisch links aktiver Mensch und in seiner Heimatstadt Hondarribia ein bekannter Stadtrat. Die Zeit sei damals sehr kämpferisch gewesen, erzählt er. Die baskische Unabhängigkeitsbewegung war stark, radikal und hatte einen großen Rückhalt in der Bevölkerung. Viele junge Menschen engagierten sich.
Die Untergrundbewegung ETA hatte Zulauf und führte einen kompromisslosen, militanten Kampf gegen den spanischen Staat. Dieser wiederum schlug mit voller Härte zurück und schickte die paramilitärische Guardia Civil ins Baskenland, die tausende Aktivist*innen verhaftete, nach Madrid verschleppte und folterte.
„Die Angst vor dem Ersticken, hervorgerufen mit einer Plastiktüte über den Kopf“, das sei die am häufigsten angewandte Methode gewesen, erzählt Tomas. Es hinterlasse keine Spuren, die ein Arzt dokumentieren könne, löse aber extreme Panik und Angst aus, so dass Geständnisse schnell freiwillig unterschrieben werden. Auch sexuelle Erniedrigung und Vergewaltigung gehörten zu den Foltermethoden. „Man denkt immer, das trifft nur Frauen“, berichtet Tomas, „aber auch ich wurde sexuell misshandelt.“
Er kam dann auf Kaution bis zum Prozess frei. Aus Angst vor weiterer Folter und langer Gefängnisstrafe entschied er sich dazu unterzutauchen. Der Prozess vor dem Sondergerichtshof in Madrid fand ohne ihn statt. Seine Mitangeklagten wurden zu langen Haftstrafen verurteilt. In Abwesenheit wurde Tomas später von einem französischen Gericht wegen Mitgliedschaft in der ETA verurteilt, vermutlich weil die Sicherheitsbehörden davon ausgingen, dass er in Frankreich untergetaucht sei. Die Beweise kamen allerdings von den spanischen Ermittlungsbehörden. Spanische und französische Polizei- und Justizbehörden arbeiten beim Thema ETA eng zusammen.
„Viele sind damals untergetaucht und abgehauen. Manche konnten nicht, da sie Kinder hatten“, erzählt Tomas. Da er die deutsche Sprache spricht, ging er nach Deutschland und baute sich in Freiburg unter falscher Identität ein neues Leben auf. Er studierte, arbeitete an der Uni und lebte 14 Jahre in Südbaden bis zu jenem folgenreichen Tag im Oktober 2014, als er in Mannheim verhaftet wurde.
Nach einem knappem Jahr Untersuchungshaft in Mannheim wurde er an Frankreich ausgeliefert. Dort sollte er eine 18-jährige Haftstrafe antreten. Als sein Anwalt das Verfahren neu aufrollte und die pauschalen Vorwürfe bemängelte, wurden daraus 5 Jahre und nach 2 Jahren wurde er auf Bewährung aus dem französischen Gefängnis entlassen.
Das Verfahren, das gegen ihn in Spanien lief, war mittlerweile verjährt. So entschloss sich Tomas 2018 dazu, in seine baskische Heimatstadt Hondarribia zurück zu kehren.
Zu Besuch im baskischen Kulturverein
Hondarribia, Donnerstag, 8. September 2022. Schon am frühen Morgen ist von der Straße eine Melodie zu hören, die uns den ganzen Tag begleiten wird. Heute ist Fiesta, „der wichtigste Tag im Jahr“, wie uns Tomas erklärt. Gefeiert wird der Sieg über französische Eroberer im 17. Jahrhundert, die unter anderem von den Volksmilizen aus Hondarribia zurück gedrängt wurden. Die Küstenstadt gehörte damals zum Königreich Kastilien. Es gebe hier eine bis heute fortdauernde Tradition der Selbstverteidigung, wird uns erklärt. Die Basken seien nicht in die reguläre spanische Armee eingegliedert worden, mussten sich dafür aber auch selbst verteidigen.
Deshalb laufen heute fast alle Menschen in der Stadt als Milizionärinnen und Milizionäre verkleidet herum: Weiße Kleidung, rotes Halstuch, rote Baskenmütze. Viele Männer und Jungen haben ein Gewehr dabei. Immer wieder knallen in den Straßen Platzpatronen.
Die ersten Umzüge der „Volksmilizen“ ziehen am Morgen nach festen Ritualen durch die Stadt. Aufgeteilt in 23 Kampanien dürften es viele Hundert Menschen allen Alters sein, die sich daran beteiligen. Überall ertönt die immer gleiche Marschmusik, gespielt mit Flöten und Trommeln.
Um 14 Uhr sind wir im „Olagarro“ (deutsch: Oktopus) zum Mittagessen eingeladen. Das ist ein linker Kulturverein, der Räumlichkeiten am Rand der Altstadt hat. Ca. 130 Mitglieder soll er haben. Hinter der Theke hängen Bilder der politischen Gefangenen und rote Sterne. Wir sitzen auf der Terrasse, im Raum nebenan wird lautstark „Bandiera Rossa“ gesungen.
Heute wird vor allem gefeiert, erklärt uns Tomas, der auch im traditionellen Kostüm der Volksmilizen gekleidet ist und ein Gewehr mit sich herum trägt. Es gibt Crevetten mit Mayonnaise und Brot, später gegrilltes Lamm. Für die veganen Extrawürste aus Deutschland werden schnell ein paar Peperoni gegrillt und Bratlinge gebraten – alles ganz unkompliziert und ohne viele Worte. Die Flaschen mit Sagardoa (baskischer Apfelwein) und Rotwein leeren sich schnell und die Stimmung ist laut, locker und freundschaftlich.
Feministische Kämpfe und baskische Traditionen
Am späten Nachmittag gibt es dann noch einmal die großen Umzüge der „Volksmilizen“. Interessant ist hier ein seit Jahren schwelender Konflikt zwischen Traditionalist*innen und Modernisierer*innen. Letztere kämpfen dafür, dass auch Frauen an den Umzügen teilnehmen dürfen und haben sogar vor Gericht geklagt. Der traditionelle Umzug ist nämlich alles andere als zeitgemäß. Er besteht nur aus Männern, außer einer einzigen Frau pro Kompanie, die voraus laufen und winken darf.
Vorläufiges Ergebnis dieses Konflikts: Es gibt zwei Umzüge. Im kleineren läuft eine gemischte Kompanie. Männer, Frauen und nicht binäre Menschen ziehen gemeinsam durch die Straßen. Ihr Erkennungszeichen ist ein buntes Halstuch. Der traditionelle, große Umzug besteht aus den einzelnen Frauen pro Kompanie und sonst ausschließlich aus Männern und Jungen. Sie tragen rote Halstücher.
Tomas Haltung ist etwas ambivalent. Einerseits findet er es wichtig, die Traditionen fortzusetzen und ihnen treu zu bleiben. Außerdem laufen seine alten Schulfreunde dort mit. Andererseits unterstützt er die feministischen Forderungen und hat an der Strategiekommission für einen gemischten Umzug mitgewirkt. Er ist der Meinung, man müsse Machtstrukturen verändern und Erneuerung von innen heraus erreichen. Man sollte sich nicht absondern. „Wahrscheinlich laufe ich auch ein bisschen beim traditionellen Umzug mit“, sagt er lachend, während er das bunte Halstuch der Feminist*innen trägt.
Nach dem Exil: Enttäuschung und Neuanfang
„Als ich nach vielen Jahren zurück in meine Heimatstadt kam, war ich erst mal enttäuscht“ erzählt Tomas von seiner ersten Zeit nach dem Exil. Nach 18 Jahren Flucht, Untergrund und Gefängnis sei der Neuanfang schwierig gewesen. „Vieles hatte sich verändert. Die Bewegung war nicht mehr so stark und kämpferisch. Die Reformisten hatten sich durchgesetzt.“
Die ETA hatte 2011 einseitig einen Waffenstillstand erklärt. Die baskische Unabhängigkeitsbewegung schlug in der Mehrheit einen reformistischen Kurs ein und konzentrierte sich auf die parlamentarische Arbeit – teilweise mit Erfolg, denn in vielen Bereichen wird der Region Autonomie zugestanden.
Doch Tomas will sich damit nicht zufrieden geben. Dass die soziale Frage vernachlässigt wurde, hält er für einen Fehler. „Wir werden in Europa in den nächsten Jahren starke Veränderungen erleben.“ Er prognostiziert eine fortschreitende Armut in Folge von Wirtschaftskrise und Inflation. „Das wird nicht nur die Peripherie treffen, auch Zentraleuropa.“ Daher müsse man sich über die Grenzen hinaus vernetzen, zusammenschließen, über Organisierung und soziale Kämpfe reden.
„Bi Arnas“ – auf Tour mit einem Film über Folter
Ein Projekt, an dem sich Tomas aktuell beteiligt, ist der Dokumentarfilm „Bi Arnas“. Die Produktion porträtiert eine baskische Aktivistin und ihre Mutter. Vor 20 Jahren wurde die damals junge Frau schwer gefoltert. Die Guardia Civil hatte damit eine Aussage erpresst, die sie für Aktivitäten der ETA verantwortlich macht. Sie tauchte vor der Gerichtsverhandlung in den Untergrund ab und wurde Jahre später in Frankreich verhaftet. Heute sitzt sie in einem Pariser Gefängnis ihre Strafe ab. Die Geschichte erinnert stark an das, was Tomas selbst erlebt hat.
Der Film beschäftigt sich mit der Perspektive der Mutter, die selbst das Kind eines Kämpfers gegen Franco im spanischen Bürgerkrieg ist. Die Hilflosigkeit einer Mutter, die eigene Tochter nicht vor Folter, Vergewaltigung und Gefängnis beschützen zu können, ist tragischer Bezugspunkt des Films.
Umrahmt wird die persönliche Geschichte vom aktuellen Stand der Forschung zum Thema Folter in Spanien. Tausende Fälle wurden dokumentiert, nicht nur im Baskenland, viele auch in Navarra. Mit Aufarbeitung und Wiedergutmachung tue sich der spanische Staat schwer, so der Vorwurf im Film. Daher wird ein gesamteuropäischer Blick bemüht und die Macher*innen des Films versuchen, das Thema auch außerhalb Spaniens in Kinos und bei Festivals zu zeigen.
Tomas wird den Film im Herbst in mehreren deutschen Städten zeigen. Er ist für die deutsche Übersetzung (Untertitel) verantwortlich und wird bei den Vorstellungen dabei sein. Es werde eine zweigeteilte Veranstaltung mit Film und Diskussion werden, kündigt er an. „Es geht auch um Vernetzung und Diskussion über den Aufbau linker Organisationen.“ Man müsse mehr miteinander reden und voneinander lernen. Der Ex-Freiburger kennt beide Welten. „In Deutschland wird alles sehr theoretisch gesehen, viel geredet, vor allem auch in den Parlamenten.“ Es passiere zu wenig auf der Straße. Bei den Bask*innen gebe es dagegen das Problem, dass die Bewegung zu aktionistisch sei und abgesehen von den Anfängen in den 1970er Jahren viel zu wenig diskutiert wurde.
Wer mit Tomas diskutieren möchte, hat am Samstag, 15. Oktober in Mannheim Gelegenheit dazu. Ab 20 Uhr wird im SWK, Fritz-Salm-Straße 10 der Film „Bi Arnas“ gezeigt und über die baskische und die deutsche Linke diskutiert. (cki)
Di 11.10. Berlin
Di 11.10. Frankfurt
Mi 12.10. Giessen
Do 13.10. Mainz
Fr 14.10. Wendland
Sa 15.10. Mannheim
So 16.10. Heidelberg
Di 18.10. Dresden
Mi 19.10. Freiburg
Link zum Trailer “Bi Arnas”: https://youtu.be/zlPd2o3f5_g
Zum Hintergrund: ETA – Euskadi Ta Askatasuna (Baskenland zur Freiheit)
Die ETA ist eine militante baskische Untergrundbewegung, die 1959 als Widerstandsorganisation gegen die Franco-Diktatur gegründet wurde. Die ideologischen Grundpfeiler der ETA sind Unabhängigkeit des Baskenlands von Spanien und Frankreich, Freiheit und Sozialismus. Von Spanien, Frankreich und verbündeten Staaten wird die ETA als terroristische Organisation eingestuft. Sie hatte zeitweise einen sehr großen Rückhalt in der baskischen Bevölkerung und dementsprechend viele Unterstützer*innen. Sie lieferte sich blutige militärische Auseinandersetzungen mit dem spanischen Staat. Es gab viele Tote auf beiden Seiten. Der spanische Staat wiederum reagierte mit Massenverhaftungen, Folter und dem Verbot zahlreicher (auch nicht-militanter) baskischer Organisationen und Zeitungen. 2011 erklärte die ETA einseitig einen Waffenstillstand und will sich nach Vorbild der IRA unter internationaler Aufsicht demilitarisieren. Der spanische Staat ignoriert diese Entwicklung bisher.