Ach hätten wir nur … die Wahl
In zwei Nachbarländern von Baden-Württemberg wurde am vergangenen Sonntag gewählt und in beiden Ländern haben Konservative, aber vor allem auch rechte Kräfte deutlich zugelegt. In einigen Kommentaren wurde darauf hingewiesen, dass „die Mitte“ nach wie vor sehr stark ist und von einem „Rechtsruck“ deswegen nicht gesprochen werden könne. Ein beschwichtigender Verweis auf diese Mitte taugt jedoch kaum, legt die vor wenigen Wochen veröffentlichte Studie „Die Distanzierte Mitte“ doch nahe, dass rechtsextremes Gedankengut und auch die Toleranz gegenüber rechtsextremer Gewalt weiter in die Mitte der Gesellschaft vordringen.
So verwundert es auch nicht, dass sowohl die Bundespolitik, als auch die letzten Wochen der Wahlkämpfe in Bayern und Hessen durch ein Thema bestimmt wurden, das von konservativen und rechten Erzählungen dominiert wird, die Migrationsabwehr. Der Diskurs über Migration, welche nicht nur als Normalfall unserer Geschichte gelten muss sondern von deren gelingen vermutlich auch die Zukunftsfähigkeit Deutschlands und Europas abhängt, wurde auch von Grünen, Liberalen und Sozialdemokraten auf die Begrenzung und Abwehr „illegaler Migration“ (Kein Straftatbestand in Deutschland) heruntergedampft. Ob Lager an den europäischen Außengrenzen, Grenzkontrollen an deutschen Grenzen oder die unsägliche Leier von einer scheinbar notwendigen Obergrenze. Grenzen beherrschen den Diskurs.
Dass Rechte und Konservative gerade dort Heimvorteil genießen und ihre Punkte einfahren, ist keine neue Erkenntnis. Umso deutlicher zeigt sich deshalb das politische Versagen der Ampelkoalition darin, keinen Gegenentwurf präsentieren zu können, der Migration aus einer solidarischen, humanitären und ökonomisch begründeten Perspektive betrachtet. Doch auch viele Medien und Journalist:innen konnten den rechten Flötentönen und Bildern kaum widerstehen und sind ihnen darin gefolgt, dass das Thema Migration hauptsächlich entlang der Abwehr von Menschen zu präsentieren sei. Die rechte Regierung in Italien hat es viel zu leicht geschafft eine Migrationskrise zu inszenieren, indem der komplette Fokus auf eine kleine Insel im Mittelmeer gelenkt wurde, die verständlicherweise mit tausenden Menschenüberfordert ist. Gleichzeitig hat Italien 2022/23 insgesamt weniger Migrant:innen aufgenommen, als Deutschland, Polen oder Österreich. Die von Italien geforderte gerechte Verteilung von Geflüchteten würde also vermutlich eher dazu führen, dass mehr Migrant:innen nach Italien verteilt werden müssten. Ob Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dies Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni mitgeteilt hat? Wohl kaum.
Seit 2015 ist die deutsche Bevölkerung laut Statistischem Bundesamt von 82,18 Mio um 2,08 Mio auf 84,26 Mio angewachsen. Das entspricht einem Bevölkerungswachstum von 2,53% in acht Jahren. Wenn die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt nicht in der Lage sein soll, mehr Menschen sozial und ökonomisch zu integrieren, dürften auch die wirtschaftlichen Aussichten Deutschlands, unabhängig von externen Krisen, kaum positiv ausfallen, was den Nährboden für weitere Rechtsverschiebungen bestellt. Die Folgen der Erderwärmung oder mögliche militärische Auseinandersetzungen sind dabei noch nicht berücksichtigt.Dass sich das mit Abstand bevölkerungsreichste Land Europas, das nur um seinen Wohlstand zu erhalten jährlich mehr als 400.000 Migrant:innen benötigt, bei etwa 200.000 Asylanträgen im Jahr 2023 von einer Gruppe rechter und konservativer in eine vermeintliche Migrationskrise und Abschottungshysterie hineinziehen lässt, ist schon fragwürdig genug. Wenn die vorgeschlagenen Lösungen für das „Migrationsproblem“ dann entweder rechtlich nicht umsetzbar oder untauglich (manchmal beides) und nicht nur unmenschlich erscheinen, wie Joachim Gauck urteilt, sondern es auch sind, sind das klare Anzeichen für eine völlig gekaperte Debatte oder die vielgenannte Diskursverschiebung nach rechts.
Und auch wenn nicht von der Hand zu weisen ist, dass viele Kommunen in Deutschland finanziell und personell überfordert sind, handelt es sich doch oft um Probleme, die wenn überhaupt von Migration nur verstärkt, aber keineswegs verursacht wurden. Fehlender Wohnraum, verschuldete Kommunen, die Vernachlässigung sozialer Infrastruktur oder Ungerechtigkeiten im Gesundheitssystem sind nicht die Folgen von Migration und werden deshalb durch weniger Migration auch nicht gelöst. Doch statt auf diese Komplexität hinzuweisen und den Ursachen auf den Grund zu gehen, sehen wir auch sogenannte Leitmedien, die sich darin genügen den ihnen gegenübergestellten Politiker:innen die ewig gleichen Sätze zu entlocken und dies mit einer vermeintlichen Stimmungslage in Astadt oder Bedorf zu begründen. Das Ergebnis sind Gespräche, Interviews und Analysen, die auch ein Chatbot zu Stande gebracht hätte und die vermutlich nicht inhaltsleerer wären.
Was für eine progressive Politik fehlt, sind sicher nicht die Themen. Wohl aber der Mut, diese mit eigenen Positionen und Ideologie zu vertreten. Stattessen werden Themen häufig unter dem Fokus betrachtet, wie sich die AfD zu diesem oder jenem verhalten könnte und die Angst vor dieser Reaktion wurde immer mehr zum Fixpunkt konservativer bis linker Politiker:innen. Bei den einen führte dies zu Kontaktschuld und Selbstzensur und bei den anderen zu Anbiederung und Übertrumpfungswahn. Nach zehn Jahren ist die AfD nun aber im bundesdeutschen Parteienspektrum angekommen und normalisiert. Es wird nun auch Zeit, die zum Teil kindlich anmutende „FCK AFD“- Phase hinter sich zu lassen und die Rechten ernsthaft, inhaltlich und politisch entschlossen zu stellen. Dass die AfD in wirklich keinem Politikfeld sinnvolle Lösungen anzubieten hat, zeigt sich am ehesten, wenn man sich nicht auf das Spielfeld ziehen lässt, das sie selbst abgesteckt hat und dessen Regeln sie beherrscht.
Die Aussage, dass Wähler:innen sich im Zweifel für das Original entscheiden, hat sich mal wieder bestätigt. Nun können daraus zwei Strategien abgeleitet werden. Entweder eine Partei schafft es einer anderen den Anspruch auf das Original streitig zu machen, so wie es der AfD in Bezug auf Migrationsabwehr mit der CDU gelungen ist. Dabei zeigt sich gerade beim Kampf um konservative und rechte Themen häufig, dass der Diskurs tendenziell ins Extreme abgleitet, weil die „Härte“ bestimmter Forderungen als Kompetenz missverstanden wird. „Weiche“ Faktoren wie Menschenwürde oder Humanismus oder gar Fakten, gelangen in diesem race to the bottom unter die Räder. Die Rechten gewinnen dadurch doppelt, dass ihre Positionen in die Parteien der Mitte dringen und Stimmen der Mitte zu ihnen abwandern.
Eine zweite Möglichkeit darauf zu reagieren wäre, dass Parteien versuchen einen Diskurs vom scheinbaren Original anderer Parteien auf das Feld der eigenen Originalität hinüber zu verschieben. Gäbe es zum Beispiel eine Partei, die ursprünglich den Arbeiter:innen nahesteht, könnte diese Partei Migration als Chance sehen, die Organisierung der Arbeiterschaft gegenüber dem Kapital zu stärken und den Arbeitsmarkt und die Arbeitsbedingungen für alle Lohnabhängigen zu verbessern. Gäbe es beispielsweise eine Partei, deren Ursprung der Umwelt- und Klimaschutz ist, könnte diese auf das Arbeitskraftpotenzial durch Migration hinweisen, das benötigt wird die Transformation hin zu erneuerbaren Energien zu schaffen und damit auch ökonomische Nachhaltigkeit und Wohlstand für alle zu fördern. Gäbe es zum Beispiel eine Partei mit liberalen Wurzeln, könnte diese auf den Wert individueller Rechte, wie das Recht auf Asyl oder die Menschenwürde hinweisen und diese Rechte gegen ihre Missachtung durch übermächtige Institutionen verteidigen. Oder hätten wir eine Partei, die sich auf christliche Werte beruft und Hilfe für Geflüchtete aus ihrer Überzeugung ableiten könnte, dass jeder Mensch ein Geschöpf Gottes sei und Migration sowie Vertreibung zu den Urerfahrungen von Gemeinschaften gehören.
Und hätten wir doch nur eine Presse- und Medienfreiheit, die es Journalist:innen erlaubt, Politik nicht nur als Schauspiel mit vorgegebenen Rollen und Texten zu präsentieren, sondern politische Prozesse kritisch und mit Haltung zu begleiten, um damit das Korrektiv einer Demokratie zu bilden, die sich bewusst ist, niemals perfekt sein zu können.
Ach hätten wir doch nur…
Kommentar: DeBe