Ticketloser ÖPNV – was ist das und wie finanziert er sich
hho – Verkehrspolitische Visionen gibt es viele. Mindestens genau so zahlreich sind die Debatten über diese Visionen und über die Instrumente, wie sich die Visionen realisieren lassen. Eine dieser Debatten ist die um den ticketlosen Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) oder auch ÖPNV zum Nulltarif.
Einfach in den Bus oder die Bahn einsteigen und losfahren, ohne sich Gedanken über Tarifstrukturen zu machen und ohne vor der Fahrt ein Ticket kaufen zu müssen, das ist die grundlegende Idee vom ticketlosen ÖPVN. Der in diesem Zusammenhang ebenfalls häufig verwendete Begriff „kostenfreier ÖPNV“ ist irreführend, da weiterhin Kosten entstehen, etwa für Anschaffung und Wartung / Instandhaltung der Fahrzeuge und der Netze sowie Lohn- und Energiekosten. Tatsächlich weg fallen würden unter anderem Ausgaben für Fahrkartenautomaten und Fahrkartenkontrolleure, für welche im Schnitt 6 – 8% der Nettofahrgeldeinnahmen ausgegeben werden. Dazu kommen nicht zu vernachlässigende durch Schwarzfahren verursachte Kosten in der Strafverfolgung und im Justizvollzug. In Berlin beispielsweise beschäftigen sich 25 – 30% der Gerichtsverfahren mit Schwarzfahren. Der Anteil von Personen, die wegen Schwarzfahrens im Gefängnis sitzen ist ähnlich hoch.
Templin, Hasselt, Tallinn, Frankreich – Praxisbeispiele
Bleibt die Frage, wie der ticketlose ÖPNV finanziert werden kann und wie eine Umsetzung praktisch aussehen kann. Für beides gibt es mehrere Modelle und Praxisbeispiele. In den 90ern führten die brandenburgische Kleinstadt Templin und die belgische Stadt Hasselt den ticketlosen ÖPNV ein. In beiden Städten war der Nutzungsanstieg des ÖPNV größer als erwartet. In beiden Städten wurde es aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten wieder abgeschafft. Als es den ticketlosen ÖPNV in Hasselt gab, hat die Stadt etwa 1% ihres Budgets für diesen ausgegeben. 2013 führte die estnische Hauptstadt Tallinn einen ticketlosen ÖPNV ein. Zudem ist der ÖPNV über 20 Verkehrsverbünden in Frankreich ticketlos.
Zu den Finanzierungsquellen gehörten in Templin unter anderem und in Hasselt hauptsächlich Einnahmen aus der Parkraumbewirtschaftung. Für Hasselt stellte sich dies langfristig als Problem heraus, da mit der Zeit der Autoverkehr und die Nachfrage nach Parkplätzen zurückging, was auf der einen Seite das Ziel der Förderung des ÖPNV war, auf der anderen Seite aber auch bedeutete, dass die Finanzierung für diesen wegfiel. In Templin wurde zusätzlich die Kurtaxe erhöht. Dafür profitierten auch Gäste von Außerhalb vom ticketlosen ÖPNV.
In Tallinn hingegen ist die ticketlose Nutzung des ÖPNV Einwohnern der Stadt vorbehalten. Für 2€ Pfand gibt die Stadt eine Karte aus, die in Kombination mit dem Personalausweis die Nutzung des ÖPNV ohne weiteres Ticket berechtigt. Menschen von Außerhalb (oder solche, die sich noch keine Karte haben geben lassen), müssen weiterhin das reguläre Beförderungsentgelt zahlen.
Allen drei Städten ist gemein, dass die Umstellung der Tarifstruktur einherging mit einer Ausweitung des Liniennetzes und einer Erhöhung der Taktfrequenz. Gleichzeitig wurden in Hasselt das Parkplatzangebot reduziert und verteuert und Straßen begrünt, womit nebenbei Platz für Fahrradfahrer und Fußgänger geschaffen wurde.
In den Gebieten Frankreichs, in denen es einen ticketlosen ÖPNV gibt, werden zur Finanzierung Unternehmen herangezogen. Betriebe ab zehn Mitarbeitern zahlen pro Mitarbeiter eine Abgabe, über die der ÖPNV finanziert wird. Quasi eine Art verpflichtendes Jobticket, das – weil alle Betriebe sich beteiligen müssen – je nach Höhe der Abgabe ausreichen kann, um den ÖPNV zu finanzieren.
Weitere Modelle
Neben den bereits vorhandenen Modellen eines ticketlosen ÖPNV gibt es noch viele weitere Überlegungen, zur Finanzierung und Realisierung desselben.
Zur Realisierung stellt sich die Frage, ob wie in Tallinn die ticketlose Nutzung des ÖPNV Bewohnern der jeweiligen Region vorbehalten wird und den Personalausweis als „Fahrtberechtigungsschein“ gilt (womit automatisch der anfangs erwähnte Wegfall von Fahrkartenautomaten und -kontrolleuren wegfallen würde), oder alle Nutzer, unabhängig davon wo sie wohnen und warum und wie lange sie in der Region sind, den ÖPNV ohne Ticket nutzen dürfen.
Ein rein bewohnerfinanzierter ÖPNV ist bei einem ticketlosen ÖPNV für alle schwierig zu vermitteln. In jedem Modell kann allerdings eine Abgabe der Einwohner der betroffenen Region ein Baustein für die Finanzierung eines ticketlosen ÖPNV sein.
Neben einer Abgabe für Einwohner ist eine Überlegung, „Publikumsmagneten“ zur Finanzierung des ticketlosen ÖPNVs heran zu ziehen. Das können wie in Frankreich die Betriebe sein, deren Beschäftigte ja zur Arbeit kommen müssen. Wie in Templin könnte man Gäste über die Kurtaxe oder eine Art Übernachtungsabgabe heranziehen. Großveranstalter haben bereits heute häufig Verträge mit Verkehrsunternehmen, durch die Eintrittskarten gleichzeitig Tickets für den ÖPNV sind oder berechtigen Park&Ride-Angebote zu nutzen. Großveranstalter an den Kosten eines ticketlosen ÖPNV zu beteiligen ist daher nicht nur aufgrund der Frage nach dem Auslöser von Verkehrsströmen interessant, sondern würde für die Großveranstalter nicht zwingend zu Mehrbelastungen führen. Und auch wenn diese Aufzählung nicht vollständig sein kann, nicht fehlen in einer Auflistung von Publikumsmagneten darf der Einzelhandel, für den ein gut ausgebauter ÖPNV ein Standortsvorteil ist.
Einnahmen aus Parkraumbewirtschaftung oder einer City-Maut Finanzierung des ticketlosen ÖPNV heranzuziehen hat den Vorteil, dass es sich zu einem Maßnahmenbündel zur Reduktion des Motorisierten Individualverkehrs und Stärkung von Alternativen verknüpfen lässt – und den Nachteil, dass die Kosten für den ÖPNV mit wachsendem Erfolg der Maßnahmen steigen, die Einnahmen aus einer City-Maut und der Parkraumbewirtschaftung gleichzeitig aber sinken. Zur langfristigen Finanzierung eines ticketlosen ÖPNVs sind City-Maut und Parkraumbewirtschaftung also ungeeignet, als Anfangsfinanzierung allerdings durchaus denkbar.
Außerdem möglich ist ein rein steuerfinanzierter ÖPNV, was gleichzeitig bedeutet, dass der ticketlose ÖPNV dauerhaft in Konkurrenz um Geld mit anderen steuerfinanzierten Aufgaben steht.
Ticketloser ÖPNV in Baden-Württemberg
In Baden-Württemberg macht vor allem Tübingen mit dem Vorhaben einen ticketlosen ÖPNV einzuführen von sich Reden. Am 7. Mai berichtete das Schwäbische Tagblatt, der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer wolle einen für die Einwohner Tübingens ticketlosen Busverkehr über eine Erhöhung der kommunalen Steuern finanzieren. Eine Finanzierung rein über die Grundsteuer würde gleichzeitig eine Verdoppelung der Grundsteuer bedeuten, für eine Finanzierung rein über die Gewerbesteuer müsste die Gewerbesteuer um ca. 40% erhöht werden. Andere Möglichkeiten als eine Anhebung der kommunalen Steuern gibt es allerdings derzeit nicht um einen ticketlosen ÖPNV innerhalb Baden-Württembergs einzuführen. Für andere Finanzierungsquellen müsste erst einmal die kommunale Abgabenordnung geändert werden – ein Projekt, welches sich die aktuelle grün-rote Landesregierung 2011 in den Koalitionsvertrag geschrieben hatte, aber bis heute nicht umgesetzt wurde und laut Bericht von Kontext:Wochenzeitung in dieser Legislaturperiode auch nicht mehr umgesetzt wird.