Wiedereinführung der Videoüberwachung in der Mannheimer City
Die Verwaltungsspitze „informiert“ den Ausschuss für Sicherheit und Ordnung – es darf diskutiert werden. In den Haushaltsberatungen wird nur über das Geld entschieden
Erneut aufgebracht hat die Beschäftigung der Stadt mit Videoüberwachung des öffentliches Raumes die damalige AfD-Fraktion im November 2014 mit einer Anfrage: „Mehr Prävention und verbesserte Aufklärungsmöglichkeiten durch Videoüberwachung“ (A279/2014). Das war noch vor der aufgeregten Sicherheitsdebatte im Anschluss auf die Aufnahme von bis zu 15.000 Geflüchteten 2015. Die Antwort der Verwaltung enthielt die Botschaft, es gebe keine Veranlassung und vor allem auch im Rahmen des Polizeigesetzes Baden-Württemberg keine Möglichkeit, die von 2001 bis 2007 praktizierte Videoüberwachung in der City wieder aufzunehmen. CDU, ML griffen das Thema dann 2016 erneut auf. Die Verwaltung antwortete mit einer „Informationsvorlage“ (V084/2016): „Die Verwaltung wird in Abstimmung mit dem Polizeipräsidium Mannheim, auf Basis der Lagebeurteilung hinsichtlich der Kriminalitätsbelastung, die Voraussetzungen für die (Wieder-) Einführung der punktuellen Videoüberwachung an einzelnen Kriminalitätsbrennpunkten im Stadtgebiet Mannheim schaffen.“ Bis heute hat der Gemeinderat bzw. der fachlich zuständige Ausschuss für Sicherheit und Ordnung (ASO) lediglich weitere Info-Vorlagen zur Kenntnisnahme bekommen, die die Wiederaufnahme der Videoüberwachung (teilweise „Videoschutz“ genannt) immer weiter präzisieren. Am 18.9. steht die neueste Ausgabe (V450/2017) „zur Kenntnisnahme“ auf der Tagesordnung.
Aber tatsächlich soll dann auch ein Beschluss gefällt werden: Im Ausschuss für Umwelt und Technik am 19.9. (V447/2017) und dann in den Etatberatungen: Da sollen 800.000 Euro locker gemacht werden für die Installation einer „intelligenten Videoüberwachung“, für den „Aufbau eines verlässlichen und rechtskonformen Systems zur algorithmusbasierten Bewegungsmustererkennung“.
Der Beschluss der Arbeitsgruppe aus Stadtverwaltung und Polizei:
Die „intelligente“ Videoüberwachung soll an folgenden Plätzen, alles „Kriminalitätsschwerpunkte“, installiert werden:
- Vorplatz am Hauptbahnhof (Beibehaltung und Modernisierung der Bestandsmaßnahmen)
- „Breite Straße“ (von Paradeplatz, inklusive Marktplatz bis Neckartor)
- Bereich „Alter Messplatz“ (Alter Messplatz, Am Alten Messplatz, Am Messplatz, Brückenstraße)
- Fußgängerzone O 7 / P 7 (sog. „Plankenkopf“)
An 28 Standorten sollen insgesamt 71 Videokameras (60 statische und 11 sog. PTZ-Kameras [schwenkbar, mit Zoom-Funktion]) montiert werden. Die Speicherfrist soll 72 Stunden betragen, die Löschung automatisch erfolgen.
„Bezugspunkt der Kriminalitätsbelastung ist vor allem der Bereich der Straßenkriminalität. Delikte der Straßenkriminalität sind Straftaten, die in ihrer Tatphase ausschließlich oder überwiegend auf öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen begangen werden und visuell wahrnehmbar sind, etwa Raub, Körperverletzung, Betäubungsmitteldelikte, Sachbeschädigung, Sexualdelikte, Diebstahl, insb. Taschendiebstahl, etc.“
Die „Intelligenz“ der Kameras soll darin bestehen, dass sie „nur auf das Erkennen solcher Verhaltensmuster ausgerichtet (ist), die auf die Begehung einer Straftat hindeuten. Dadurch ist klargestellt, dass insoweit keine Detektion von Szenarien zulässig ist, die als Ordnungswidrigkeit bloßes Verwaltungsunrecht darstellen.“
Eine Dauerbeobachtung durch einen Polizeibeamten am Monitor wie zu Beginn des Jahrhunderts („Mannheimer Weg“), soll dadurch erübrigt werden. Die Software soll alles Nicht-Relevante herausfiltern und damit nur auf Eingriffsnotwendigkeiten hinweisen. In einem solchen Fall soll sofort eine polizeiliche Interventionsgruppe losgeschickt werden.
Die Sache mit dem subjektiven Sicherheitsempfinden
Ausgangspunkt der Überlegungen der Verwaltung ist das „subjektive Sicherheitsempfinden“ auf dem Hintergrund einer Zunahme der Straßenkriminalität seit 2015. „Das Sicherheitsgefühl (auch) der Mannheimer Bürgerinnen und Bürger hat in jüngster Zeit erheblich abgenommen und die Kriminalitätsfurcht ist – wie in ganz Deutschland – gestiegen. Die Unsicherheit der Menschen stellt dabei eine soziale Realität dar: Gefühlte Unsicherheit ist reale Unsicherheit. Und vorliegend korrespondiert das Gefühl mit der Lage.“
Das subjektive Sicherheitsempfinden ist eine komplexe Angelegenheit. Richtig ist, dass man die Befindlichkeit der gefühlten Unsicherheit ernst nehmen muss. Sie schränkt die gesellschaftliche Teilhabe der betroffenen Menschen ein, indem sie sich nicht mehr wie zuvor „rausbewegen“. Die Einrichtung der Videoüberwachung soll demonstrativ das Sicherheitsgefühl stärken.
Wer das Sicherheitsgefühl stärken will, muss sich jedoch auch fragen: Welche Situationen genau machen den Menschen ein schlechtes Gefühl, so dass sie diese meiden? Ist es der Spaziergang auf der Breiten Straße? Der nächtliche Nachhauseweg? Die Präsenz von lärmenden Männergruppen? Die Nähe von Junkies oder Dealern?
Ist das Gefühl durch eigenes oder kolportiertes fremdes Erleben verursacht? Welche Rolle spielen Diskurse in den social media und Presseberichte oder gerade das angebliche Unterschlagen von kriminellen Aktionen? Lässt sich der Diskurs durch Aufklärung und durch verstärkte Kampagnen gegen das Wegschauen beeinflussen?
Die Einrichtung eines technischen Mittels springt hier zu kurz. Niemand bezweifelt, dass das Sicherheitsempfinden in „unsicheren Zeiten“ durch Polizeipräsenz auf der Straße am besten zu stärken ist. Nur sei dies eben nicht bezahlbar. Dies jedoch ist keine technische, sondern eine politische Frage.
Wer oder was beweist eigentlich die Wirksamkeit der Videoüberwachung hinsichtlich Kriminalitätsverhinderung?
Immer wird in den Verwaltungsvorlagen behauptet, die Straßenkriminalität sei in der Innenstadt während der Phase 2001 bis 2007 so eklatant zurückgegangen, dass sie dann mangels „Verhältnismäßigkeit der polizeilichen Mittel“ von Rechts wegen eingestellt werden musste. Tatsächlich stieg die Straßenkriminalität jedoch erst einmal an. Der Spitzenwert lag etwa auf dem Niveau, wie es für 2016 festgestellt wurde. Nach Einstellung der Überwachung verharrte die Straßenkriminalität weitere sieben Jahre in etwa auf dem 2007 erreichten Niveau. Warum? Hatten die potenziellen Täter immer noch Angst vor der Überwachung? Oder folgt die Kriminalitätskurve etwa ganz anderen Parametern?
Verdachtslose Überwachung ist ein Verfassungseingriff gegen die informationelle Selbstbestimmung
Videoüberwachung ist nach bestehendem Gesetz und herrschender Rechtsprechung nur in sehr engen Grenzen zulässig: Nur an definierten Kriminalitätsschwerpunkten, nur bezogen auf strafwürdiges Verhalten. Die Stadt bewertet die Verfassungsmäßigkeit in V142/2017 folgendermaßen: „Die Durchführung der Videoüberwachung in den überproportional belasteten Räumen stellt einen verhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht der informationellen Selbstbestimmung dar.“ Und weiter: „Dem erheblichen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einer Vielzahl von Personen stehen die öffentlichen Interessen an der Verhütung und Abwehr von Straftaten der Straßenkriminalität sowie an deren wirksamer Verfolgung gegenüber. Diesen öffentlichen Interessen kommt eine hohe Bedeutung zu. Der Ausgleich zwischen diesen Polen und Bedürfnislagen ist eine Frage des Maßes“.
Ob dieses Maß gefunden ist, muss in Zweifel gezogen werden. Mit erheblichem Aufwand sollen „lediglich“ „Interaktionsmuster (‚schlagen/treten‘) und Sturzdetektion (‚hinfallen/stürzen‘)“ ins Visier genommen werden. Alles Andere soll verpixelt werden. Allerdings solle „als Unterfall hierzu, die Personenverfolgung von mutmaßlichen Straftätern, das sog. ‚Tracking‘ zum Einsatz gelangen“. Das erfordert Scharfstellung. Ob auf diese Weise nennenswerte Teile der Straßenkriminalität erfasst werden können, darf bezweifelt werden. Stattdessen sind Fehlinterpretationen wahrscheinlich, wie z.B. bei schnellem Laufen zu Haltestellen oder sich freundschaftlich auf die Schulter Klopfen. Das In-eine-fremde-Tasche-Greifen z.B. oder das Zücken eines Springmessers gehören (vorerst?!) nicht zum programmierten Algorithmus. Auch nicht das „Tütchen übergeben“.
Das wirft die Frage auf, wer – wenn erst mal alles installiert ist – mögliche Weiterentwicklungen des Algorithmus kontrolliert. Und auch die räumliche Ausdehnung ist schon angedacht: „Falls es in der Kombination dieser Maßnahmen, der Videoüberwachung in der „Breiten Straße“ und flankierenden Einsätzen in den umliegenden Quadraten wider Erwarten nicht gelingen sollte, das vorhandene Störungspotenzial nachhaltig zu reduzieren und namentlich den Drogenhandel hinreichend einzudämmen, wird ein Ausbau der Videoüberwachung in der Zukunft auch in den S-, T- und U-Quadrate unter Auswertung des aktuellen Kriminalitätsaufkommens in Betracht gezogen.“
Weiterhin steht die Videoüberwachung, wenn sie denn tatsächlich als intensiv empfunden wird, im Verdacht, dass sich die Straßenkriminalität in nicht exponierte Teile der City, die trotzdem belebt und lukrativ sind, verlagert. Dies bestreitet die Verwaltung zwar vehement. Aber die Vertreibung der „Gambier“ von der Neckarwiese und ihr Auftauchen in den S- und T-Quadraten spricht eine gänzlich andere Sprache.
Das Polizeigesetz muss für die intelligente Videoüberwachung geändert werden
Das algorithmusbasierte Beobachten übersteigt die Möglichkeiten des bestehenden Polizeigesetzes Baden-Württemberg. Das hat die Stadtverwaltung auch frühzeitig erkannt und nach eigener Aussage das Innenministerium zu einer entsprechenden Änderungsvorlage aufgefordert. Die wurde zusammen mit einem wahren Gruselkatalog am Dienstag in Erster Lesung im Landtag diskutiert. Einige „Highlights“:
- “präventiv-polizeilichen Telekommunikationsüberwachung” inkl. Brechen von Verschlüsselung: Quellen-TKÜ, vulgo: Staatstrojaner
- Fußfesseln gegen “mutmaßliche Gefährder”
- Überwachung von Leuten “bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie innerhalb eines übersehbaren Zeitraums” eine Straftat begehen, zum Beispiel “eine Behörde … mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt zu nötigen”. Die Tat muss gar nicht geschehen, man muss nur die Annahme haben, sie tun es.
- Man darf auch den überwachen, dessen Endgerät für eine Nachricht eines solchen mutmaßlichen Täters vermutlich verwendet wird
- Über Überwachungsmaßnahmen muss nicht unterrichtet werden, wenn “anzunehmen ist, dass sie kein Interesse an einer Unterrichtung hat”
Der Landesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit von Baden-Württemberg bewertet in seiner Stellungnahme den Grundrechtseingriff der „intelligenten Videoüberwachung“ als sehr hoch:
„Zutreffend weist die Begründung darauf hin, dass die automatische Auswertung einen zusätzlichen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen darstellt. Widersprüchlich ist es jedoch, wenn im Weiteren einerseits eine höhere Eingriffsintensität verneint, andererseits aber eine Eingriffserhöhung aufgrund der quantitativen Steigerung der Datenverarbeitungsmöglichkeiten „nicht verkannt“ wird. Auch ist die Aussage, die automatisierte Auswertung von Verhaltensmustern, wie etwa Bewegungsabläufen oder Gruppenbildung, erfolge nicht anhand personenbezogener Merkmale, schlichtweg nicht nachvollziehbar. Zu den „persönlichen und sachlichen Verhältnissen“ einer Person (§ 3 Absatz 1 des Landesdatenschutzgesetzes – LDSG) gehören auch Verhaltensweisen der Person. Gerade das Erkennen solcher („auffälligen“) Verhaltensmuster ist das Ziel der „intelligenten“ Videoüberwachung.
Nach unserer Auffassung wirkt die Software gestützte Auswertung der Videoaufnahmen anhand zuvor festgelegter Algorithmen tatsächlich eingriffsintensivierend“. (https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2017/10/H-1100-38r1.pdf)
Zusammenfassend lässt sich sagen:
Die von Mannheim im Verbund mit der Landespolizei als bundesweites Pilotprojekt betriebene „intelligente Videoüberwachung“
- stellt einen schwer kontrollierbaren und zu Verschärfung tendierenden Grundrechtseingriff dar
- bringt nichts; sie kann nur einige wenige Aspekte der Straßenkriminalität an einigen wenigen Stellen erfassen, ohne noch mehr in Grundrechte einzugreifen
- führt abermals zu Verdrängungseffekten
- ist rein symptomatisch ansetzend und lenkt von der sozialen Ursachenbekämpfung ab
- stellt puren Aktionismus dar und nimmt das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung nicht wirklich ernst.
Die vorerst 800.000 Euro sind dafür zu schade.
(Thomas Trüper, Stadtrat DIE LINKE)