Wird Ludwigshafen zum Paradebeispiel systemischer Ausländerfeindlichkeit?
Die ‚Rheinpfalz‘ berichtet am Samstag, dem 3.12.2022 sowohl Empörendes als auch Beängstigendes. Unter der Überschrift „Konsequentes Ignorieren der Bürger“ schildert sie ein in Ludwigshafen seit Jahren bestehendes und bekanntes Problem: Die Ausländerbehörde ist nicht erreichbar und auch bei dringendsten und existenziellen Belangen werden keine Termine vergeben. Diese Zustände können nicht mehr nur als behördliches Versagen gesehen werden. Sie zeugen von einem rücksichtslosen Verheizen der Beschäftigten, sind ein erschütterndes Beispiel systemischer Ausländerfeindlichkeit und verletzen fortgesetzt die Grundrechte tausender Menschen.
Ein seit 20 Jahren in Deutschland lebender und mit einer Deutschen verheirateter Brite kann am 2. November diesen Jahres nicht zur Beerdigung seiner Schwester ausreisen. Zwar hat er Dauerbleiberecht, das aber nach dem Brexit durch eine sogenannte Aufenthaltskarte bestätigt werden muss. Seit Dezember 2020 hatten er und seine Frau per Telefon und per Mail unermüdlich, aber erfolglos versucht, diese Bescheinigung zu erhalten. An dem Tag, an dem die Polizei ihn am Frankfurter Flughafen aufhält, versucht seine Frau über fünf Stunden erfolglos, in der Ausländerbehörde, in der Zentrale und bei den Bürgerdiensten eine zuständige Person zu erreichen.
Ein aus Indien stammender junger Praktikant in einer Chemiefirma hat zusätzlich zu seinem Visum einen Identitätsnachweis, der im November durch die Ausländerbehörde verlängert werden muss. Bereits vier Wochen vor dem Termin beginnt er, sich um die Verlängerung zu bemühen. Er ruft an, schreibt E-Mails und wirft sogar seine Unterlagen in den Behörden-Briefkasten ein. Die Behörde aber reagiert in keiner Weise, er erhält noch nicht mal eine Bestätigungsmail. Er traut sich nicht mehr auf die Straße, aus Angst davor, kontrolliert und ohne gültige Papiere angetroffen zu werden.
Zwei von vielen Beispielen, die in Ludwigshafen seit Jahren alltäglich sind. Die Ausländerbehörde ist zuständig für alles, was mit Aufenthaltstiteln, Visa-Anträgen, Duldungen, Erwerbstätigkeit von Ausländern und mit Asylrecht zu tun hat. Bei vielen Fragen, etwa einer Aufenthaltserlaubnis, ist ein Termin zu einer persönlichen Vorsprache erforderlich. Bereits im Oktober 2018 beschäftigt sich der Beirat für Migration und Integration mit einem Antrag der Linken, der die Stadtverwaltung auffordert, die Zustände in der Ausländerbehörde zu ändern. Schon damals wird der Antrag damit begründet, es sei „oft eine unüberwindbare Herausforderung, einen Sachbearbeiter der Ausländerbehörde zu erreichen, um einen Termin zu bekommen.“ Das Beiratsmitglied Mehmet Ali Aty berichtet in der Sitzung von seinem Alltag als Unternehmer: “Wir beschäftigen 20 Leute, die eine Aufenthaltsgenehmigung brauchen. Wir müssen fast sechs Monate vor Ablauf versuchen, jemanden bei der Ausländerbehörde zu erreichen.“ Der Linken-Antrag wird schließlich einstimmig – auch mit den Stimmen der CDU – verabschiedet.
29,9 Prozent der über 172.000 Einwohner*innen Ludwigshafens besitzen keinen deutschen Ausweis. Das sind über 51.000 Menschen, die auf die Ausländerbehörde angewiesen sind. Viele von ihnen kamen unter traumatischen Umständen zu uns. Den Aufenthaltsstatus betreffende Unsicherheiten werden von ihnen häufig als extrem bedrohlich erlebt. Leo Tolstoi sagte: „Unrecht ist das, was einem anderen Menschen schadet.“ Der Schaden und damit das Unrecht, das diese Behörde durch ihr Tun bzw. Unterlassen verursacht, ist riesig und stellt eine massenhafte und massive Verletzung der Menschenrechte dar. Und schließlich: Der zu Recht vielfach beklagte ‚Riss durch die Gesellschaft‘ wird wohl durch kaum etwas mehr vertieft als durch solche Zustände und Praktiken.
Michael Kohler