Ist die menschliche Natur ein Hindernis für den Sozialismus?
Es gibt sie tatsächlich noch und zwar nicht nur in Berlin: Spannende und lebhafte Diskussionen unter linken AktivistInnen und Interessierten.
“Sozialismus ist gut in der Theorie, kann aber nicht funktionieren. Das Problem sind die Menschen. Sie sind zu egoistisch.” Mit Argumenten wie diesen beschäftigte sich am Mittwoch, dem 11. Januar eine öffentliche Veranstaltung von Marx21 Rheinland-Pfalz im Büro der Ludwigshafener Linksfraktion des Stadtrats in der Heinigstraße.
Systemkrisen kreisen uns ein, kommen uns näher von allen Seiten: In der ersten Reihe stampfen Klimakrise, Krieg, Inflation, Energiekrise und Artensterben auf uns zu. In der zweiten Reihe marschieren neue Pandemien, Finanzkrisen, Rezessionen und Umweltkatastrophen. Auch Gesundheits-, Bildungs- und Verkehrssysteme erodieren und schlittern in Zusammenbrüche. Es ist erkennbar, wird spürbarer, kann nicht mehr abgestritten werden, dass es so nicht weitergehen kann. Den Kapitalismus aber zu überwinden, dessen Gesetze ja die letztliche Ursache jeder dieser Krisen sind, scheint ‚die menschliche Natur‘ nicht zu erlauben.
Dass die Menschen ‚von Natur aus‘ egoistisch seien, dass ‚alle‘ ‚immer‘ mehr haben wollen und vor allem mehr als die anderen, dass Gemeinschaften nur ‚funktionieren‘, wenn sie hierarchisch geordnet sind und ‚mit starker Hand‘ geführt werden. Dies sind weit verbreitete und von interessierter Seite wirksam und immer wieder vertretene Vorstellungen. Deren Grundlage ist ein auch von der berüchtigten christlichen Erbsünde-Ideologie unterstütztes negatives Menschenbild, nach dem gleiche und unterstützende Beziehungen zwischen Menschen nur innerhalb einer von Herrschaftsbeziehungen getragenen Gemeinschaft möglich sind. Aber stimmt dieses Menschenbild und die ihm vorausgehenden Annahmen?
Eine Menge logischer Argumente und historischer Tatsachen wurde vorgetragen, die belegen: Es ist zumindest offen, ob Menschen sich gut oder schlecht, egoistisch oder altruistisch, pro- oder antisozial verhalten. Denn erstens hängt dies von den Umständen ab, und zweitens belegen viele neue wissenschaftliche Befunde: ein prosoziales, empathisches Verhalten in Verbindung mit gegenseitiger Unterstützung war in entscheidenden Abschnitten der Menschheitsentwicklung ein ausschlaggebender Evolutionsvorteil und ist deshalb ein Teil unserer biologischen ‚Programmierung‘. Trotz all der von Menschen begangenen Grausamkeiten, die sich durch die Geschichte ziehen, können wir heute mit einem fundierten Optimismus sagen: Ein negatives, die Herrschaft von Menschen über Menschen rechtfertigendes Menschenbild ist mit den vorliegenden, v.a. anthropologischen und neurologischen Erkenntnissen nicht mehr vereinbar.
Nach dem halbstündigen Vortrag führte eine lebendige Diskussion zu einer weitgehenden und wohltuenden Einigkeit in diesem Thema und es blieb noch etwas Zeit für einen Austausch über Proteste und Aktionen in der Region.
Michael Kohler