Interview zu den „Lebensschützern“: Nicht in die Fallen der Pseudoberatungsstellen tappen!
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Abtreibungsgegnerin mit weißem Holzkreuz beim “Marsch für das Leben” in Berlin | Archivbild: Oliver Feldhaus/Umbruch Bildarchiv
Die christlich-fundamentalistischen „Lebensschützer“ agitieren für die Bestrafung von Schwangerschaftsabbrüchen und haben ein Netzwerk von Vereinen, Organisationen und Beratungsstellen aufgebaut. Beim Dachverband „Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen“ (TCLG) hat es nach vielen Jahren einen Vorstandswechsel gegeben. Neuer Vorsitzender ist laut einer Pressemitteilung von TCLG Dr. Michael Kiworr, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, „Familienvater und Christ aus Mannheim“. Ulrike Bitter beobachtet die Szene der „Lebensschützer“ seit vielen Jahren. Kommunalinfo Mannheim sprach mit ihr über die rechten Netzwerke der Fundamentalist*innen, ihre Verankerung in der Rhein-Neckar-Region und die Bedeutung ihrer Familienberatungsstellen.
KIM: Was sind die sogenannten „Lebensschützer“ und warum werden sie aus linker und feministischer Perspektive kritisiert? Leben zu schützen klingt doch erstmal gut, oder?
Ulrike: Es sind sehr unterschiedliche Organisationen, die sich für das völlige Verbot und die Durchsetzung der Bestrafung von Schwangerschaftsabbruch nach § 218 StGB einsetzen. Sie nennen sich selbst gern „Lebensschützer“ oder „Lebensrechtler“. Diese selbst ernannten „Lebensschützer“ haben seit gut 50 Jahren alle Register gezogen, um das „gute Wort“ mit anderem Inhalt zu füllen: sie belästigen Frauen vor entsprechenden Kliniken, schwadronieren von Massenmord und „Babycaust“, mal christlich fundamentalistisch, mal rechtsradikal, rassistisch. Und auch mal als sogenannte „Beratungsstelle“ für Schwangere. Und natürlich versuchen Sie Einfluss auf die Gesetzgebung zu gewinnen.
KIM: Der „Marsch für das Leben“ ist die bekannteste regelmäßige Aktion der Szene. Was hat es mit dieser Demo auf sich, die einmal im Jahr in Berlin stattfindet?
Ulrike: Nach eigenen Angaben kommen dort 4.000 bis 8.000 Demonstrierende zu dem Marsch, viele mit weißen Holzkreuzen. Es ist eine bundesweite Aktion, zu der ein ganzes Jahr lang aufgerufen wird. Da zählt man offenbar seine Schäfchen. Interessant ist, wer alles Grußbotschaften sendet: letztes Jahr war es allen voran der Kölner Kardinal Woelki, dann die gesammelte „rechtsgläubige“ katholische Prominenz und ihre evangelikalen Brüder und Schwestern.
KIM: Wo ist das „Weiße Kreuz“ innerhalb der christlichen Religion angesiedelt? Wie ist das Verhältnis zu den großen Kirchen in Deutschland?
Ulrike: Das „Weiße Kreuz“ ist ein eingetragener, als gemeinnützig anerkannter Verein mit Sitz in Kassel. Es ist eine evangelikale Organisation, d.h. nicht katholisch, aber „erweckt“ und mit einem krassen wortwörtlichen Bibelverständnis. In den USA haben Evangelikale viele Anhänger. Die evangelische Kirche in Deutschland ignoriert das Weiße Kreuz mehr oder weniger, auch wenn der Verein bei evangelischen Kirchentagen auftaucht. Viele Mitarbeitende der Diakonie haben aber nie etwas vom „Weißen Kreuz“ gehört.
Das Weiße Kreuz behauptet jedoch, Mitglied des Diakonischen Werks zu sein und bundesweit 200 Beratungsstellen zu betreiben. (Quelle: https://www.weisses-kreuz.de/ueber-uns/verein-und-vernetzung). Das Weiße Kreuz hat eine Tradition bis ins Kaiserreich, damals hat es „Onanie“ schon mal verteufelt und „Keuschheit“ gepredigt. Auch jetzt verbreiten sie Handreichungen zum Thema „Liebe wartet“ und es werden „Ehevorbereitungskurse“ angeboten.
KIM: Der neue Vorsitzende des „Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen“ (TCLG), Dr. Michael Kiworr, stellt sich als Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe und „christlichen Lebensberater“ aus Mannheim vor. Was ist bisher über ihn und seine Organisation bekannt.
Ulrike: Dr. Michael Kiworr, Jahrgang 1967, ist im Vorstand des „Weißen Kreuzes“. Er stellt sich selbst als super kompetenten Berater für alle Fragen der Sexualität vor. Zusammen mit seiner Frau Jutta betreibt er darüber hinaus eine eigene Webseite bes-therapie.de. Jutta Kiworr bezeichnet sich darin als „Beratungsstelle des Weißen Kreuzes (Fachverband für Sexualethik und Seelsorge innerhalb der Evangelischen Diakonie)“.
Beide verweisen auf ihre Ausbildung beim „ICL Institut für christliche Lebens- und Eheberatung“, das „Seelsorge-Ausbildung auf biblischer und individualpsychologischer Grundlage“ anbietet. Dieses Institut hat weltweit Standbeine. In der Ukraine und in der zentralafrikanischen Republik betreibt es Soziale Dienste. Die Einschätzung als Missionstätigkeit drängt sich auf. (Quelle: http://www.icl-help.org)
Um den Eindruck der Seriosität zu verstärken, gibt es sogar eine Zertifizierung durch eine weitere Organisation aus dem Dunstkreis der Lebensschützer: die German Association of Christian Counsellors (ACC), die sich als der „deutsche Qualitäts-Fachverband für Zertifizierung der Weiterbildungsqualität Christlicher BeraterInnen“ darstellt.
Das Ehepaar Kiworr erwähnt auf seiner Webseite im Abschnitt „Grundsätze“ ein zu zahlendes Honorar, nicht jedoch, dass es keine Bescheinigung über die Beratung gibt.
Im Abschnitt Schwangeren- und-Elternberatung steht: „Wie sieht es im Falle einer ungeplanten oder unerwünschten Schwangerschaft aus? Bei letzterer führen wir keine Scheinabgabe nach § 219 durch, sehr wohl aber eine differenzierte Beratung und Begleitung.“ Abgesehen davon, dass im § 219 nichts über einen Schein steht, sondern in der Beratungsregelung nach § 218a Absatz 1 StGB, hat die Pseudoberatungsstelle keine staatliche Anerkennung als Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle.
Eine weitere Webseite, https://lebenswertvoll.de, wird von Jutta Kiworr betrieben, in der sie ihre „Individual psychologische Praxis“ mit einem klaren Bekenntnis zum evangelikalen Christentum vorstellt. Erreichbar ist diese Praxis unter derselben Telefon-Nummer wie die vom Weißen Kreuz ihres Ehemannes. Von der Beratung ungewollt Schwangerer ist hier nicht die Rede, dafür aber am unteren Rand der Hinweis auf ihre „Finanz- und Versicherungsberatung“. Sie ist schließlich gelernte Versicherungsfachwirtin.
Das „Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen“ (TCLG) ist in den 1990er Jahren entstanden. Es organisiert jährlich ein „Lebensrecht-Forum“ in Kassel – zufällig auch der Sitz des Weißen Kreuzes. Nach eigenen Angaben handelt es sich weniger um ein Treffen von Organisationen, als vielmehr um den Austausch und die Vernetzung von Aktiven und MultiplikatorInnen. Auf der Webseite des TCLG sind die Adressen von erschreckend vielen sogenannten „Beratungsstellen“ in Deutschland und Österreich aufgeführt. (Quelle: https://www.tclrg.de/adressen)
Über die Zahl der tatsächlichen Beratungsfälle habe ich keine Zahlen gefunden.
KIM: Welche Aktivitäten und Personen sind in der Rhein-Neckar-Region ansonsten anzutreffen? Ist hier ein Schwerpunkt der Szene?
Ulrike: Im Raum Mannheim/Heidelberg sind einige der einschlägigen Organisationen ansässig: Pseudoberatungsstellen wie „Die Birke“ und „Pro Femina“ in Heidelberg. Die „Aktion Leben“ ist in Weinheim aktiv. Klaus-Günter Annen, unsäglicher Webseitenbetreiber von „abtreiber.de“ und „babycaust.de“ und seine „Initiative Nie Wieder“ ist schon mehrfach vorbestraft wegen Verleumdung und Holocaust-Relativierung. Das tangiert ihn nicht. In Teilen der Bewegung gilt er offenbar als Vorkämpfer. Er hat über massenhafte Anzeigen auf der Grundlage des § 219 Ärztinnen und Ärzte drangsaliert. Die Auswirkung dieses Paragrafen, nämlich dass sich immer mehr Kliniken oder ÄrztInnen aus diesem Bereich zurückgezogen haben, ist immer noch zu spüren.
Das klingt nach viel, im täglichen Leben aber tauchen die „Lebensschützer“ hier in Mannheim und Umgebung bisher nicht auf.
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Protest mit Regenbogenfahne gegen den “Marsch für das Leben” in Berlin | Archivbild: Oliver Feldhaus/Umbruch Bildarchiv
KIM: In der letzten Zeit gab es einige gesetzliche Änderungen zum Thema Schwangerschaftsabbruch, weitere sind angekündigt. Wie ist die Entwicklung einzuschätzen und was bedeutet das für die Szene der „Lebensschützer“?
Ulrike: Der § 219, der allein schon die Information über Schwangerschaftsabbruch als Werbung dafür unter Strafe stellte – übrigens Relikt aus der NS-Zeit – ist kürzlich gestrichen worden. Das ist schon mal ein Fortschritt. Jetzt steht die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch auf der Agenda der Regierung. Ich bin gespannt! Die meisten jüngeren Frauen wissen gar nicht, dass es den Paragrafen noch gibt und was er beinhaltet.
Die „Lebensschützer“ werden natürlich aufheulen, wo sie doch alles dafür tun, das Abtreibungsverbot zu verschärfen. Ob sie wirklich für dieses Thema neue Massen auf die Straße bekommen, ist fraglich. Aber die AfD wird ihnen zur Seite stehen. Und alle, die das deutsche Volk bedroht sehen oder sonst noch Stoff für ihre populistische Pöbeleien brauchen.
KIM: Was könnte einem als schwangere Frau passieren, wenn man auf einen „Lebensschützer“ trifft, der vielleicht auch noch Gynäkologe, Geburtshelfer oder Lebensberater ist? Und wie könnte man aus feministischer Perspektive damit umgehen?
Ulrike: Die schwangere Frau, die ein Kind bekommen will, kann da durchaus zufriedenstellend behandelt werden. Solle aber vielleicht doch die Praxis wechseln.
Wenn sie aber zu einem Abbruch entschlossen ist, braucht sie nach heutigem Recht einen Beratungsschein und darf nicht über die 12. Woche kommen. Dafür sollte sie nicht in die Hände von falschen BeraterInnen geraten. Das zu erkennen, ist möglicherweise nicht auf den ersten Blick möglich. Denn geschultes Personal der Pseudo-Konfliktberatungsstelle begegnet den Frauen durchaus mit Feingefühl und Gespür.
Die Lebensschützer stellen sich ausführlich auf ihren durchaus professionellen Internetseiten vor, jung, frisch und angeblich frauenfreundlich. Erst wird allgemeines Verständnis für die schwierige Situation der ungewollt Schwangeren aufgetischt, dann kommen „Windelpatenschaften“ und weiter unten im Text blutiger Horror und lebenslanges Leiden. Irgendwann dann Gebete. Eigentlich sollte das erkennbar sein.
Man sollte sich das durchlesen und auf „blinde Flecken“ achten. Ist das eine staatlich anerkannte Beratungsstelle nach § 218a? Ja oder nein?! Diese Frage kann man von vorne herein stellen.
Was tun als FeministInnen? Auf alle Fälle darüber berichten, aufklären nicht verschweigen!
KIM: Vielen Dank für das Interview! (cki)
Bilder: Umbruch Bildarchiv e.V.