Ludwigshafen: Politik der verbrannten Erde

Ludwigshafen: “Viele Jahre wurden Geschenke auf Pump verteilt. Jetzt muss für zukünftige Generationen diese Geschenke wieder zurückgeholt werden.“ sagt die Oberbürgermeisterin | Bild: KIM-Archiv
Sparen bei den Kindern und Jugendlichen, den Armen, der Kultur, den städtischen Beschäftigten und bei der Demokratie.
In zynischem Neusprech wurde dem Ludwigshafener Stadtrat Ende Januar durch den Stadtvorstand eine aus mehr als 300 Posten bestehende „Verbesserungsliste zum Haushalt 2023“ vorgelegt, die die Neuverschuldung der Stadt von 98 auf 39 Millionen Euro reduzieren soll. Der Stadtvorstand besteht aus der Oberbürgermeisterin Jutta Steinruck, der Bürgermeisterin Prof. Dr. Cornelia Reifenberg (seit 2003 Dezernentin für Kultur, Schule, Jugend und Familie) sowie den Beigeordneten Beate Steeg (Bereichsleitung Steuerung, Dezernentin für Soziales und Integration), Andreas Schwarz (zuständig für Finanzen, Ordnung, Immobilien und Bürgerdienste) und Alexander Thewalt (Dezernat Bau, Umwelt und Verkehr, WBL). Zur Überraschung aller wurde die Liste noch am selbigen Tag ergänzt durch inzwischen zurückgezogene weitere persönliche „Verbesserungsvorschläge“ von Jutta Steinruck. Mit denen sie, wie sie wiederholt formulierte, aufzeigen wollte, dass ein ausgeglichener Haushalt unmöglich sei, „ohne einer Stadt jegliche Lebensqualität zu rauben“. Diese Äußerung löst Unverständnis und Befremden aus. Will sie aus pädagogischen Gründen die Lebensqualität der Stadt untergraben? Damit jeder mal sieht, wie das ist? Es bleibt zu hoffen, dass sie nicht in weiterer Verfolgung dieser Art von Pädagogik mit einem Leopard über den Berliner Platz fährt, um aufzuzeigen, wie schlimm ein Krieg ist. Ihre Taktik, so sie überhaupt durchdacht war, kann wohl nur den Zweck haben, dem Delinquenten (in diesem Fall der Stadtbevölkerung) erst mal alle Folterinstrumente zu zeigen, um dann in dem hochnotpeinlichen Verfahren der Haushaltsberatung doch noch zum angestrebten Ziel eines radikalen sozialen und kulturellen Kahlschlags zu kommen.
Hauptopfer Bildung
Die „Verbesserungen“ auf der Liste des Stadtvorstandes sind nach Beträgen absteigend angeordnet. Auf den ersten beiden (von acht) Seiten sind „Verbesserungen“ im sechs- und siebenstelligen Bereich aufgeführt. Die Stadt will nach Steinrucks Worten, „wieder handlungs- und gestaltungsfähig“ sein. „Dafür brauchen wir einen echten Befreiungsschlag.“ Der erste und härteste „Befreiungsschlag“ richtet sich gegen die Schulen. Ernst-Reuter-Schule, Wittelsbachschule, Goethe-Schule, Mozart-Schule, Realschule Plus am Ebertpark und BBS (Berufsbildende Schule). Diese Schulen sind allein auf der ersten Seite von „Verbesserungen“ – im sechs- und siebenstelligen Bereich – betroffen.
Das Schuljahr 2022-23 begann am 5. September. Schon vor Weihnachten gab es wie jedes Jahr in fast jeder Klasse zwei oder drei oder noch mehr Kinder, die nicht mitkamen. Für die klar war, dass sie in diesem Jahr die Inhalte des Lehrplans nicht schaffen werden und dass bei den meisten von ihnen in den kommenden Jahren die Schwierigkeiten nur weiter zunehmen. Das sind Kinder, für die schon nach wenigen Wochen in der ersten Klasse feststeht, dass ihre Chancen im Leben sehr viel schlechter sein werden als bei anderen Kindern. Vor allem in sozialen Brennpunkten sagen die LehrerInnen: „So schlimm wie dieses Jahr war es noch nie.“ Die GEW Rheinland-Pfalz sprach bereits am 1. September mit Blick auf den Mangel an Fachkräften von einem misslungenen Schuljahresbeginn. Dieser Mangel betrifft besonders die Grund- und Förderschulen.
Für die Fraktion ‚Die Linke‘ im Stadtrat hatte Liborio Cicccarello bereits zum Haushalt 2022 festgestellt, dass Ludwigshafen in Rheinland-Pfalz den höchsten Anteil an Schulabbrechern hat und deshalb große Anstrengungen erforderlich seien zur Intensivierung schulischer Förderangebote und für bessere Nachhilfeangebote. GEW-Vorstandsmitglied Anja Bensinger-Stolze wies im vergangenen Sommer darauf hin, dass die soziale Spaltung an deutschen Schulen größer wird. In einer aktuellen Studie ergab sich, dass der Erwerb schulischer Kompetenzen immer mehr von der sozialen Herkunft abhängt. Dies wurde bereits 2001 in der PISA-Studie festgestellt, seitdem aber öffnet sich die Schere statt sich zu schließen. Seit 2016 kann festgestellt werden, dass dieser Trend ganz besonders Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungshintergrund betrifft. Es steigt aber nicht nur die soziale Ungerechtigkeit im Bildungssystem stetig an, auch die Lern- und Leistungsbereitschaft insgesamt nimmt ab. Der Anteil der Kinder, die den Mindeststandard beim Lesen, Zuhören und Rechnen nicht erreichen, steigt stark an.Gleichzeitig nimmt der Anteil der Kinder, die über diesem Standard liegen ab.Bei dem, was der Stadtvorstand nun bei den Schulen streichen will, geht es nicht nur um neue Fenster oder Fassaden, es geht auch um die Streichung der Schultheaterwoche, Reduzierung der Schulsozialarbeit, höhere Musikschulgebühren, Einsparungen bei der Medienpädagogik, bei Schulbudgets, Beendigung der qualifizierten Haushaltshilfe, Einsparungen bei der Sommerferienbetreuung und der Stadtranderholung usw. usf.
All dies wird Kinder aus armen und aus migrantischen Familien am härtesten treffen, gegen sie richtet sich der Haupt-„Befreiungsschlag“, bedroht ihre Lebensqualität und ihre Zukunftsperspektiven und wird auch dazu führen, dass einige von ihnen in die Kriminalität abrutschen. Zu diesem düsteren Trend werden der geplante Wegfall der Stelle „Antidiskriminierung“ und die geplanten Einsparungen bei der Integrationsarbeit zusätzlich beitragen. Jeder einzelne in der Bildung ausgegebene und nicht eingesparte Euro könnte uns allen aber mehr helfen als hundert Euro für ein neues Polizeipräsidium.

Das ehemalige Rathaus, das auf seinen Abriss wartet, steht symbolisch für eine andere Zeit | Bild: KIM-Archiv
Sleep inn
Wie KIM bereits Anfang Januar aus Ludwigshafen berichtete, lässt es sich bei den Armen am schnellsten sparen. Deshalb wurde am letzten Tag des alten Jahres mitgeteilt, dass es ab dem ersten Tag des neuen Jahres das sogenannte Sozialticket für Bezieher von Hatz IV, Grundsicherung und Asylbewerberleistung nicht mehr gibt. Die Empörung über diesen unsozialen Coup war aus den Medien rasch verschwunden. Jetzt scheint es anders auszusehen. Außer aus den Reihen der SPD kamen von allen im Rat vertretenen Parteien schockierte und entrüstete Äußerungen über den beabsichtigten sozialen Kahlschlag. Besonders entsetzt waren viele über diesen „Befreiungsschlag“: Die beabsichtigte Schließung des ‚Sleep inn‘, einem Angebot, das sich vor allem an Drogen konsumierende junge Menschen richtet und ihnen, falls sie wohnungslos sind, eine Notunterkunft anbietet. Der bekannte CDU-Ortsvorsteher Christoph Heller äußerte, dass sowas „in die falsche Richtung geht“. Bei winterlichen Temperaturen, wie sie derzeit herrschen, sei damit zu rechnen, dass mehr Menschen auf der Straße erfrieren. Scharfsinnig folgerte er: „Wenn wir jede humanitäre Hilfe einstellen, dann sind wir nicht mehr humanitär.“ CDU-Fraktionschef Peter Übel äußerte gleichfalls fundamentale Kritik an der von SWR-Aktuell so genannten „Liste des Schreckens“. Die soziale Struktur, die Kultur und die Sportvereine, so Übel, dürften nicht massiv geschädigt werden, denn das sei „der Kitt, der die Stadtgesellschaft zusammenhält.“
Auch der Verfasser dieses Artikels war bestürzt von der beabsichtigten Schließung des ‚Sleep inn‘ und wollte deshalb ein Telefoninterview mit den MitarbeiterInnen des Hauses führen, kündigte seinen Wunsch zunächst per Mail an und wählte am folgende Tag die auf der Homepage der Stadt angegebene Telefonnummer. Dort wurde ihm jedoch mitgeteilt, man sei nicht zu Mitteilungen an die Medien berechtigt und solle alle Anfragen an die Pressestelle der Stadt verweisen. Ein Anruf dort verlief insofern unbefriedigend, als offensichtlich keine tiefere Kenntnis der Arbeit der KollegInnen und der Verhältnisse vor Ort bestand. Als ich deshalb meine Absicht wiederholte, mit KollegInnen vor Ort sprechen zu dürfen, sagte mir die Pressebeauftragte, sie wolle sehen, was sie für mich tun kann. Einige Tage später wurde mir mitgeteilt, Frau Steeg als zuständige Dezernentin würde gerne selbst Rede und Antwort stehen. Eine Erlaubnis, mit den KollegInnen vor Ort zu sprechen, erhielt ich also wiederum nicht.
Deshalb seien hier ersatzweise die Worte eines jungen Mannes wiedergegeben, der am 31.1. vor dem Pfalzbau an einer kleinen Demonstration gegen die Schließung des ‚Sleep inn‘ teilnahm und gegenüber dem SWR folgendes äußerte: “Das Sleep Inn ist eine Notunterkunft, wo jeder direkt schlafen kann. Zu dem Hintergrund muss man wissen: Es gibt in Ludwigshafen keine andere Stelle dieser Art. Das heißt, ich hab’ zum Beispiel aktuell wieder eine Wohnung, aber wenn ich jetzt morgen aus meiner Wohnung wieder rausflieg’ oder aus sonst irgendeinem Grund obdachlos werde, muss ich, wenn es das Sleep inn nicht gibt, auf der Straße schlafen. Es gibt in Mannheim die Bonadiesstraße, da darf ich als Ludwigshafener nicht schlafen. Es gibt noch ein anderes Obdachlosenheim, da sind aber aktuell nur zwei Plätze frei, und da braucht man auch eine Woche Anlaufzeit. Das heißt, wenn ich heute aus meiner Wohnung flieg’ und ich hab’ keinen guten Kumpel oder Familie, die mich aufnimmt, muss ich am Berliner Platz oder irgendwo unter einer Brücke im Schlafsack schlafen. Bei den Temperaturen! Für solche Fälle gibt’s halt das Sleep inn und wenn es das nicht mehr gibt, trägt man halt auch die Armut mehr in die Innenstadt. Die Leute müssen ja irgendwo schlafen.”
In der gleichen Sendung sagte OB Steinruck zum SWR: “Die Schonzeit ist vorbei.” Obige Worte des jungen Mannes wie auch ein Blick in die „Verbesserungsliste“ zeigen, wessen Schonzeit jetzt vorbei ist. Steinruck sagte außerdem: “Viele Jahre wurden Geschenke auf Pump verteilt. Jetzt muss für zukünftige Generationen diese Geschenke wieder zurückgeholt werden.“ Falls der junge Mann doch wieder im Schlafsack nächtigen muss, so wünschen wir ihm wenigstens, dass niemand vom Stadtvorstand bei ihm vorbeikommt, um Geschenke zurückzuholen.
Wie weiter?
Es braucht nun dringend bis zum 15. März und über dieses Datum hinaus einen intensiven gesellschaftlichen Diskurs, wie ihn Thomas Trüper in diesem Blatt bereits im Dezember forderte. In der betroffenen Basis entwickeln sich bereits unübersehbare und unüberhörbare Impulse für einen solchen Diskurs. Mütter auf vergeblicher Suche nach einem Kita-Platz fanden sich in einer Facebook-Gruppe und organisierten innerhalb weniger Tage eine beeindruckende Kundgebung am 4. Februar auf dem Berliner Platz. In Mundenheim schlossen sich die Elternvertreter der Schiller-Gundschule und von vier Kitas zusammen, um einen Brief an die Fraktionsvorsitzenden im Stadtrat zu verfassen. Die Eltern, die etwa 900 Kinder vertreten, geben ihrer Hoffnung Ausdruck, dass mit Steinrucks Rückzieher auch die Schließung der Mundenheimer Stadtteilbibliothek vom Tisch sei. Gruppen- oder Klassenbesuche dort seien für die Leseförderung essenziell, gerade von Kindern, die sonst wenig Kontakt zu Büchern haben. Man könne, so ein zentrales Argument der Elternvertreter, die von Steinruck als Ziel angegebene Generationengerechtigkeit nicht durch den Abbau von Bildungschancen erreichen.
Die aktuellen Geschehnisse in Ludwigshafen sind Teil allgemeiner Entwicklungen, innerhalb derer einige Städte reicher und viele andere ärmer werden. Diese Form der sozialen Polarisierung, die immer auf Kosten der ärmeren geht, bedroht die Zukunft der Stadt in vielerlei Hinsicht. Deshalb ist es zukunftsentscheidend, dass viele und starke Initiativen wie die obigen entstehen und damit beginnen, Straßen und Säle zu füllen. Zunächst wären Gruppen und Organisationen aufgefordert, die sich den Interessen der am härtesten betroffenen verbunden fühlen, vor allem Gewerkschaften und Sozialverbände. Wir alle aber sind aufgefordert, uns in den Gemeinschaften, in denen wir uns befinden, zu informieren, auszutauschen und zu engagieren. Gerechte Zukunftschancen und gerechte Lastenverteilung wären zu besprechen, Schuldenschnitte und die Koexistenz mit großen Unternehmen, die ihre Steuern mit allen Mitteln drücken, Gemeinden erpressen, aber die Infrastrukturen nutzen, die die Gemeinden ihnen zur Verfügung stellt. Auch die Verkehrswende, Stadtbegrünung und Klimaschutz sind Themen, die zu wichtig sind, um sie allein den politischen Gremien zu überlassen. In diesem Sinne könnte eine aktuelle Aussage von Jutta Steinruck hilfreich sein: „Wir brauchen noch viel mehr Mut!“
Michael Kohler