ES BRAUCHT NICHT VIEL. Wie wir unseren Sozialstaat demokratisch, fair und armutsfest machen. – Buchbesprechung
Ein Jahr ist die Debatte um das sogenannte Bürgergeld nun her. Das Gesetz dazu wurde im Herbst 2022 von der Ampelkoalition beschlossen und zum 01.01.2023. hat das Bürgergeld Hartz4 als vermeintliche Grundsicherung abgelöst. Vor Kurzem wurden Fragmente aus der Debatte erneut aufgegriffen, als die planmäßige Erhöhung des Regelsatzes konservative und liberale, aber auch vermeintlich progressive zu der Frage veranlasste, ob sich denn Arbeiten nun überhaupt noch lohne. Dass sowohl der neue Name als auch die kaum die Inflation ausgleichenden Erhöhungen der Regelsätze für Arme und Armutsgefährdete wenig an ihrer Lage verändert haben, legen Helena Steinhaus und Claudia Cornelsen in ihrem Buch “ES BRAUCHT NICHT VIEL” dar.
Nach einer Einleitung mit einem Ausblick auf die Gedanken hinter dem Buch und der Arbeit des Vereins Sanktionsfrei e.V., in dessen Vorstand
die beiden Autorinnen aktiv sind, wird die Entstehungsgeschichte des Bürgergeldes nachgezeichnet. Statt der “größten Sozialreform der letzten Jahrzehnte” entlarfen Steinhaus und Cornelsen das Bürgergeld als “eine unwesentliche Reform des Altbekannten”. Diesen Standpunkt stellen die Autorinnen in elf Kapiteln auf sehr eingängige Weise immer wieder dar, wenn sie Aspekte der Sozialpolitik der vergangenen Jahrzehnte und die Interessen politischer Akteure auf politisch- moralischer Ebene ebenso offenlegen, wie ökonomische Bedingungen und Hintergründe. Nebenbei werden Zahlen bereitgestellt, die Erzählungen vom “Sozialschmarotzer” oder den faulen Arbeitslosen widerlegen, die uns auch in aktuellen Talkshows begegnen. Dabei kommt man sich beim Lesen nie vor, als hätte es ein philophisches oder ökonomisches Proseminar benötigt, um die Argumentationen nachvollziehen zu können.
Gerade die verständliche und direkte (An-)Sprache lässt eine:n in das Buch und die Gedanken der Autorinnen hineinziehen, was sonst bei vielen Sachbüchern durch eine betonte Sachlichkeit und Distanz verhindert wird, damit oft aber den Stoff seiner emotionalen Dimensionen entkleidet. Schonungslos im besten Sinne, schaffen es Steinhaus und Cornelsen einen Bogen zu spannen zwischen dem scheinbar abstrakten Großen und Ganzen einer Sozialpolitik unter neoliberalem Vorzeichen und deren konkreten Auswirkungen auf betroffene Menschen.
So erfährt man nicht nur Fakten und Argumente, auf die man bei der nächsten Diskussion zum Unsinn von Sanktionen oder dem sogenannten Lohnabstandsgebot, zurückgreifen kann, sondern bekommt durch kleine Alltagserzählungen von Betroffenen zwischen den einzelnen Kapiteln auch ein Gefühl dafür, unter welchen unsolidarischen, pekären und herabwürdigenden Bedingungen Menschen unter dem System Hartz4/Bürgergeld leiden. Sollte der zivilisatorische Fortschritt eines Sozialstaates doch nicht eigentlich darin liegen Sicherheit zu geben und ein Existenzminimum (Bundesverfassungsgericht) zu garantieren, dass Betroffenen Zuversicht bietet, statt sie in “Notlagen und Ohnmachtssituationen” zu befördern.
Sowohl die Darstellung in vier Akten der Kampagne von CDU/CSU gegen das Bürgergeld, die minutiöse Analyse einer Talkshow-Szene, oder auch die “Expedition ins Unbekannte” der Jobcenter, zeigen wie interessant und in welcher Breite und Vielfalt ein Thema dargestellt werden kann, ohne sich im Beliebigen zu verlieren. Dadurch liefern Steinhaus und Cornelsen nicht nur einen wichtigen Beitrag zur richtigen Zeit, sondern zeigen auch, dass man Emotionalität (“Verdammt noch mal”) und Fakten durchaus zuammenbringen kann. Sie legen damit nicht nur ein inhaltlich aufklärendes Buch, sondern auch mitreißendes Buch vor, das sich nicht davor scheut, die Verantwortlichen für das System Hartz4/Bürgergeld und dessen Gefahr für Demokratie und Solidarität zu benennen. Lediglich die im Untertitel angesprochene Frage danach “wie” der Sozialstaat positiv verändert werden könne, bleibt gegen Ende hin etwas vage. Doch findet sich hier, neben der zeitgeistigen Forderung nach Bewusstwerdung und Privilegiencheck, auch die Aufforderung “physische Präsenz, gemeinschaftliches Miteinander und solidarische Geselligkeit” herzustellen und sich damit dem neoliberalen Zeitgeist entgegen zu stellen. Die 245 Seiten dieses Buches liefern jedenfalls genug Stoff, um über den Zustand und die Möglichkeiten unserer Gesellschaft ins Gespräch zu kommen.
Rezension: DeBe