Wut und Trauer in Mannheim-Schönau: Wieder ein Toter nach einem Polizeieinsatz und wieder gibt es viele Fragen
Im Mannheimer Stadtteil Schönau ist am 23. Dezember 2023 der 49-jährige Ertekin Ö. durch Schüsse bei einem Polizeieinsatz getötet worden. Er soll Polizist*innen mit einem Messer bedroht haben. Nach der Veröffentlichung mehrerer Videos, auf denen der Vorfall zu sehen ist, wurde Kritik am Polizeieinsatz laut. Es ist bereits der zweite Fall von Polizeigewalt mit Todesfolge, der für öffentliches Entsetzen sorgt.
Am Mittwoch, 27. Dezember fand am Tatort eine Mahnwache statt. 15 Personen waren angemeldet, hunderte sind gekommen. Viele Menschen aus dem Stadtteil hatte der Vorfall sichtlich aufgewühlt. Am Tatort in der Johann-Schütte-Straße wurden Kerzen und Blumen niedergelegt. Auf Schildern war zu lesen „Sie sollen uns beschützen nicht töten“. Die Initiative 2. Mai stellte mit ihrer Veranstaltungsankündigung die Frage „Wie viele sollen noch von der Polizei getötet werden?“
Zunächst eine Zusammenfassung, was bisher zum Geschehen bekannt ist und warum Kritik am Polizeieinsatz geäußert wird.
Die Sicht der Polizei
Die erste Meldung der Polizei kommt am Samstag, 23. Dezember um 13:28 Uhr: „Aktuell kommt es in in der Johann-Schütte-Straße zu einem größeren Polizeieinsatz. Eine Gefahr für die Bevölkerung besteht nicht.“ Gegen Abend wird eine weitere Pressemitteilung gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft veröffentlicht. Ein 49-Jähriger Mann habe über Notruf die Polizei gerufen und mitgeteilt, er habe ein Verbrechen begangen. Vor Ort habe die Polizei den Mann, der mit einem Messer bewaffnet war, vor dem Wohngebäude angetroffen. Er habe die Beamten bedroht und die Einsatzkräfte hätten im Verlauf des Einsatzgeschehens von ihrer Schusswaffe Gebrauch gemacht.
Nach einer Reanimationsmaßnahme sei der Mann in ein Krankenhaus gebracht worden, wo er verstarb. Die weitere Bearbeitung des Falls werde vom Landeskriminalamt übernommen. Videos des Vorfalls könnten über ein Hinweisportal an das LKA übermittelt werden.
Die Sicht der Augenzeug*innen
Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits zahlreiche Videos des Vorfalls in den sozialen Medien verbreitet. Das Geschehen fand im Wohngebiet in der Johann-Schütte-Straße statt. Aus den umliegenden Häuser filmten zahlreiche Menschen aus den Fenstern. Auf der Straße waren Passant*innen und Familienmitglieder des Mannes anwesend.
Durch die Videoaufnahmen des Ereignisses aus unterschiedlichen Perspektiven bekommt man einen guten Blick auf das, was passiert ist. Der Mann, der ein Messer in der Hand hält, läuft mit nacktem Oberkörper langsam und ziellos auf der Straße umher, vor und wieder zurück. Ihm gegenüber stehen zunächst vier, dann drei Polizist*innen mit gezogenen Schusswaffen. Weitere Polizist*innen sind vor Ort, es treffen immer mehr mit Polizeiautos und Blaulicht ein. Polizist*innen versuchen Passant*innen aus dem Bereich fern zu halten. Man hört Rufe „Bleib stehen“ und „Messer weg“.
So geht es eine Weile. Der Mann läuft hin und her, dreht sich herum, kniet, steht wieder auf. Geht zwei Schritte in Richtung der drei Polizist*innen. Plötzlich fallen vier Schüsse kurz nacheinander. Der Mann sackt zusammen. Passant*innen schreien. Mehrere Polizist*innen gehen zu dem am Boden liegenden, schwer verletzten Mann, drehen seine Arme nach hinten und fesseln ihn.
Die Sicht der Familie
Mehrere Familienmitglieder waren vor Ort und mussten den Vorfall mit ansehen. Eine Tochter und eine Schwester hatten nach dem Vorfall mit verschiedenen Medien gesprochen und von psychischen Problemen des Mannes berichtet. Es habe in der Vergangenheit bereits einen ähnlichen Vorfall gegeben. Am Tag selbst sei es zu psychischen Auffälligkeiten und Selbstverletzungen gekommen, berichtet die Schwester. Ihr Bruder sei der Polizei bekannt gewesen. Es habe im Vorfeld Probleme mit der Wohnsituation gegeben. Mehrere Familienmitglieder hätten vor Ort versucht, den Mann zu beruhigen. Sei seien aber von Polizist*innen weg geschickt worden.
Gesellschaftliche und politische Reaktionen
Der Vorfall hatte in kurzer Zeit zu Diskussionen in sozialen Medien und Berichten in lokalen und überregionalen Medien gesorgt, insbesondere auch in türkischsprachigen, da die Familie eine türkische Migrationsgeschichte hat. Für die aufgeheizten Diskussionen dürften vor allem die veröffentlichten Videos gesorgt haben.
Viele Menschen äußerten Unverständnis, warum gleich mehrfach auf den Mann geschossen und kein milderes Mittel angewendet wurde. Das sei eine regelrechte „Hinrichtung“ gewesen, äußerte jemand bei Facebook. Da kein Angriff mit dem Messer, nicht einmal eine schnelle Bewegung in Richtung Polizei erkennbar gewesen sei, äußern viele ihr Unverständnis über die tödliche Gewalt. „Warum gleich vier Schüsse direkt in die Brust?“ fragt eine Frau in den sozialen Medien.
Der Vorfall wird auch deshalb so kritisch diskutiert, da bei vielen noch die Erinnerung an den 2. Mai 2022 wach ist. Damals wurde ein Psychiatriepatient von Polizisten verfolgt, mit Pfefferspray attackiert und so massiv geschlagen und fixiert, dass er infolge innerer Verletzungen an seinem Blut erstickte. Der Prozess gegen zwei beteiligte Polizist*innen beginnt im Januar.
Damals hatte sich die Initiative 2. Mai gegründet und Demonstrationen gegen Polizeigewalt organisiert. Die Initiative lässt weiterhin nicht locker, will den Prozess kritisch begleiten und erinnert regelmäßig an das damalige Opfer.
Nun gibt es einen weiteren Fall tödlicher Polizeigewalt. Wieder ein Mann mit psychischen Auffälligkeiten, wieder ein Mann mit Migrationsgeschichte.
Die Initiative stellt die Frage „Wieviele noch? Wieviele sollen noch von der Polizei getötet werden?“ Sie erinnert an ähnliche Fälle in anderen Städten: Christy Schwundeck, Mareame Ndeye Sarr, Hussam Fadl, Matiullah J., William Tonou- Mbobda, Mohamed Idrisse, Sammy Baker und Mouhamed Dramé. „Menschen, die Unterstützung bräuchten, die von struktureller Gewalt und Armut betroffen und in migrantischen Vierteln leben, häusliche und sexualisierte Gewalt erfahren, werden als Täter:innen kriminalisiert, misshandelt und getötet. Das zieht sich von der Polizei bis in die Justiz!“
Die Mahnwache
Am Mittwochabend nach der Tat fand in der Johann-Schütte-Straße in Schönau eine Mahnwache statt, die von der Initiative 2. Mai angemeldet worden war. Hunderte Menschen versammelten sich. Das Medieninteresse war groß, vor allem türkischsprachige Sender hatten Kamerateams geschickt.
Auf der Straße waren noch die Kreidemarkierungen zum Schusswaffengebrauch zu sehen. An einer Hauswand stand frisch gesprüht „Polizist? Mörder!“
Kinder und Erwachsene trugen Schilder, auf denen zu lesen war „Ertekin Ö. wurde ermordet!“, „Stoppt Polizeigewalt“ und „Reden statt schißen“. Am Tatort wurden Kerzen, Blumen und Schilder mit Botschaften abgelegt.
Nach vielen Interviews und emotionalen Gesprächen eröffnete eine Sprecherin der Initiative 2. Mai die Veranstaltung und äußerte ihr Bestürzen, dass nach den Ereignissen vom 2. Mai 2022 schon wieder ein Mensch sterben musste.
Emrah Durkal, selbst in der Nachbarschaft aufgewachsen, zeigte sich fassungslos über die tödlichen Schüsse. Er fragte: „Wo waren die Sozialpsychologen?“ Im Namen der Nachbarschaft forderte er von der Mannheimer Polizei und dem LKA eine Erklärung und eine lückenlose Aufklärung, auch ob Rassismus eine Rollte gespielt haben könnte. Er wisse nicht, wie er den Kindern in der Nachbarschaft erklären soll, dass die Polizei der Freund und nicht der Feind ist.
Nalan Erol, Stadträtin und Sprecherin von DIDF, rief dazu auf, auch die Hintergründe zu betrachten. Rassismus in Polizei und anderen Behörden, Drohschreiben, NSU V-Leute, all das hätte das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden schwer beschädigt.
Gerhard Fontagnier, Stadtrat für Bündnis 90/Die Grünen und Sprecher im Verein “Mannheim sagt Ja!” betonte, nun sei es wichtig, Fragen zu stellen und Antworten einzufordern. Er versprach, sich mit seinen Kolleg*innen im Stadtrat dafür einzusetzen. Fontagnier wies auch auf eine Spendensammlung für die Beisetzung des Toten hin. Es sei nun wichtig, der Familie beizustehen.
Denis Ulas, Stadtrat für DIE LINKE fragte, ob es nicht auch andere Mittel gebe, um einen gefährlichen Mensch zu stoppen. Er könne es nicht verstehen, warum auf den Mann mehrfach geschossen wurde. Ulas ging auch auf die Stellungnahme von OB Specht ein, der am Nachmittag der Presse sagte „Eine Bewertung der Ereignisse, bevor die dafür berufenen Institutionen ihre Ermittlungen abgeschlossen haben, verbietet sich“. Ulas entgegnete darauf, ein Mensch sei von der Polizei getötet worden. Das sei nun mal Fakt.
Offene Fragen und wenig Hoffnung auf Antworten
Öffentlichkeit, Politik, Presse, Familie, Freund*innen stellen nun Fragen. Warum musste Ertekin Ö. sterben? Gab es kein milderes Mittel, um die Gefahr abzuwenden? Warum wurde nicht zuerst Pfefferspray eingesetzt? Warum werden Schusswaffen statt Tasern eingesetzt? Warum wurde geschossen, obwohl kein erkennbarer Angriff mit dem Messer erfolgte? Warum wurde in die Brust geschossen? Warum wurde gleich vier mal geschossen? Wie werden Polizist*innen für solche Einsätze geschult? Gibt es Einsatzstrategien zum Umgang mit psychischen Krisen? Sieht die Polizeiführung Anlass zur Kritik oder wurde ihrer Meinung nach alles richtig gemacht?
Ausführliche Antworten dürften jedoch kaum zu erwarten sein. Polizei ermittelt wieder gegen Polizei. Pressemitteilungen erfolgen im Interesse der Behörde. Eine unabhängige Untersuchungsstelle ohne Interessenskonflikt gibt es nicht. Der Fall 2. Mai hat bereits gezeigt, dass Fragen nur sehr langsam und für die Betroffenen oft unbefriedigend und zu knapp beantwortet werden. Polizist*innen schweigen, um sich selbst und ihre Kolleg*innen vor juristischen Folgen zu schützen.
Eine weitere Kundgebung ist für Samstag, 30. Dezember in der Innenstadt geplant (Treffpunkt 15 Uhr Plankenkopf, gegenüber Wasserturm) Die Initiative 2. Mai ruft dazu auf, „gegen Polizeigewalt und im Gedenken an Ertekin!“ (cki)
Weitere Bilder der Mahnwache am 27. Dezember