77 JAHRE NAKBA – GEDENKVERANSTALTUNG IN MANNHEIM

Reges Interesse fanden die Veranstaltungen. U.a. ein Gespräch mit der Juristin und Völkerrechtlerin Rana Issazadeh und mit einer Vertreterin der Koordinationsgruppe Israel/Palästina von Amnesty International Deutschland. Sie stellten die juristische und völkerrechtliche Bedeutung der Begriffe Apartheid und Genozid heraus. „Amnesty ist in einer umfassenden Analyse zu dem Ergebnis gekommen, dass Israel Handlungen begangen hat und begeht, die gemäß der Völkermord-Konvention verboten sind und dass Israel dies in der Absicht tut, die Gruppe der Palästinenser*innen in Gaza zu zerstören. Amnesty kommt zu dem Schluss, dass Israel einen Genozid an den Palästinenser*innen im Gazastreifen begeht.“
Die Erinnerung an die Nakba durch die Organisationen der Palästinasolidarität mündete in diesem Jahr in einen einzigen großen Schrei: „Stoppt den Genozid in Gaza“.
Denn Israel setzt die „ethnische Säuberung“ Palästinas, die sie 1947/49 mit der gewaltsamen Vertreibung von etwa 750 000 Menschen begann, bis heute fort und hat zum Mittel des Völkermords gegriffen. In Gaza wurden mehr als zwei Millionen Menschen teils mehrmals vertrieben. Sie haben keine Möglichkeit zu fliehen, leiden Hunger und Durst und werden immer wieder bombardiert.
Alljährlich um den 15. Mai erinnern Palästinenser:innen weltweit an die NAKBA, die Katastrophe, die in der Zeit der israelischen Staatsgründung über sie hereinbrach. Das Haus, Garten und Felder, die Lebensgrundlage, die vertraute Nachbarschaft – all das verließen sie angesichts von Gewalt und Bedrohung. Tausende Familien besitzen bis heute den Schlüssel zu einem Haus, zu dem sie nie wieder Zugang erhielten. In Gaza, im Westjordanland und in benachbarten Staaten entstanden riesige Flüchtlingslager. An vielen Orten und ganz besonders in Gaza greift Israel seitdem das Leben der Vertriebenen und ihrer Nachfahren immer wieder an.
Am Samstag, 17.05.25 begann in Mannheim das Nakba-Gedenken mit einer Demonstration mit bis zu 500 Personen. Auf dem Marktplatz folgten bis zum Sonntagabend Reden, eine Theateraufführung zur palästinensischen Geschichte und Nakba, Ausstellungen, Lieder und Podiumsgespräche. Veranstalter waren die Nahostgruppe Mannheim, Free Palestine Mannheim, Zaytouna Rhein-Neckar und Students für Palestine Heidelberg.
Rede einer hier lebenden Palästinenserin
„Unsere Nakba ist das Verbot von Nahrung, Medizin und Wasser. Seit Monaten kommt nach Gaza nichts außer den Bomben des Todes und der Vernichtung. Seit Monaten gibt es kein Essen, keine Medizin, kein trinkbares Wasser. Unsere Nakba ist das Verhungern, begleitet vom Tod durch Raketen. Ich lege das Smartphone nicht mehr aus der Hand.Ständig suche ich nach Neuigkeiten über meine Mutter, meine Schwester, meine Verwandten, meine Freundinnen. Einmal las ich die verzweifelte Botschaft eines Mädchen in Eide Toman, das um Hilfe rief. „Wir sind zum zweiten Mal auf wundersame Weise dem Tod entkommen. Wir sind verletzt, belagert, können uns nicht bewegen. Betet für uns, wir wollen nicht sterben. Ich erkannte sofort die Schreibweise. Es war meine Schwester Angie. Ich schrieb an den Journalisten: Ist das nicht Angie? So schrieb Angie. Sie wollte nur sagen, dass sie und meine Mutter noch leben…Über einhundert Mitglieder meiner Familie und meiner Freundinnen wurden getötet. Alle Onkel väterlicherseits mit ihren Familien, mein Onkel mütterlicherseits mit seiner Frau und Kindern, meine Tante, und eine zweite Tante mit ihren Kindern und ihrer kleinen Enkelin. Freundinnen, die hier in Deutschland geboren sind. Ein anderer Onkel mit seinen Enkelkindern, zwei Cousins. Meine Cousine verlor ihren Mann und musste während der Schwangerschaft ihr Bein und ihren Arm amputiert bekommen. Sie brachte ihr KInd mit nur einer Hand und einem Bein zur Welt. Ich sah Freundinnen wie sie ihre Kinder verabschiedeten. Ich sah Freundinnen, die neben ihren gefallenen Angehörigen schrien, während sie selbst bluteten, Freundinnen, die ihre Mütter und Väter verabschiedeten. Ich sah Ohnmacht, ich sah Schmerz, und trotz Allem sah ich unerschütterliche Stärke. Die Besatzung lehrte mich eine Lektion, als ich 13 war. Ich stand mit meiner Freundin vor einem Panzer. Sie wollte einen Stein werfen, ich hielt sie zurück und sagte: er wird uns töten. Kaum waren wir vorbei, feuerte der Panzer eine Granate auf die Frauen hinter uns, unbewaffnete Frauen. Niemand hat einen Stein geworfen. Ich begriff, dass die Soldaten keinen Grund brauchten, uns zu töten. Sie töten uns, nur weil wir Palästinenser sind. Nennt die Dinge beim Namen: Was in Gaza geschieht, ist Völkermord. Was wir seit der Nakba (von 1948) erleiden, ist ethnische Säuberung. Und wer das Recht hat sich zu verteidigen, ist der, dessen Land vergewaltigt, dessen Familie getötet, dessen Freiheit geraubt wurde. Wir fordern nicht das Unmögliche, wir fordern Leben, wir fordern, dass Kinder zurück in ihre schöne Gegend gehen können, dass niemand seine Mutter, seinen Vater, sein Kind, sein Zuhause oder sein Land verliert. Wir fordern, dass dieses Blutvergießen endlich aufhört. Wir fordern, dass wir auf unserem Land begraben werden, nicht auf fremden Straßen. Wir fordern, dass das Leben zu uns zurückkehrt, dass die Bäume blühen. Wir wollen einfach leben. Unsere Nakba lehrt uns, niemals aufzugeben…Wir werden niemals vergessen, wir werden nicht vergeben, wir werden unser Palästina bis zum letzten Atemzug verteidigen.“ (wörtlich wiedergegeben)
Diffamierung von Palästinenser:innen in Deutschland
Mehrere in Deutschland lebende Palästinenser:innen berichten über ihre Situation hier.
Zum Beispiel ein Kinderarzt, dessen Großeltern 1948 aus ihrem Dorf fliehen mussten und in einem Flüchtlingslage in Gaza Zuflucht fanden, dessen Eltern dort aufwuchsen und dann nach Deutschland auswanderten. Er selbst, hier geboren, sei als Elfjähriger mit seinen Eltern zurück nach Gaza gezogen. 2011 sei er zunächst allein nach Deutschland zurückgekommen, um Medizin zu studieren. Seit 12 Jahren lebe er in Mannheim, seine Eltern kamen nach. Aber erst in den letzten zwei Jahren habe er sich in der Stadt aufgehoben gefühlt, nachdem die Nahostgruppe, Zaytouna und Free Palestine aktiv geworden waren. Die Großeltern und die ganze Verwandtschaft lebe verstreut im Gazastreifen. Es sei eine emotionale Achterbahn die letzten zwei Jahre, jede Sekunde könne eine Nachricht kommen, dass jemand aus der Verwandtschaft ermordet wurde oder starb, weil er keine Medikamente gegen eine Krankheit bekam. Zum Beispiel habe er an der Ampel stehe kurz auf sein Handy geschaut und erfahren, dass sein Cousin bei der Bombardierung einer Schule starb. Die meisten der 50 Verwandten, die er verloren habe, hätten Orte aufgesucht, die sie für sicher hielten, z.B. die Wohnungen von Freunden, die politisch nicht aktiv waren, oder Krankenhäuser, oder von Israel als sicher deklarierte Gebiete. Es sei ein schreckliches Gefühl zu wissen, dass alle Orte, die er in Gaza kenne, nicht mehr existieren, z.B. die Schule, die er besuchte. Die Nachbarschaft, in der er gewohnt habe, sei auf Bildern nicht mehr erkennbar.
Wenn er nach solchen Nachrichten völlig deprimiert zur Arbeit komme, könne er nicht darüber sprechen und müsse einfach funktionieren. Es gebe Tage, an denen er sich verzweifelt und nutzlos fühle. Trotz allen Engagements habe er immer das Gefühl nichts zu tun, es sei wie ein Alptraum. Aber er sage sich immer, er müsse für Palästina kämpfen, um sich nicht mitschuldig zu machen. Dafür werde er jedoch kriminalisiert und diffamiert. „Warum werde ich wie Dreck behandelt? Nur damit ich aufhöre zu sagen hört auf zu töten? Ich fühle mich im Stich gelassen von der deutschen Gesellschaft, der ich doch auch so viel gegeben habe.“
Eine Lehrerin berichtet von einem Vorfall in einem Schulhof. Ein Fünftklässler sei nach Fragen von Mitschülern in Tränen ausgebrochen wegen Nachrichten aus Gaza. Daraufhin habe die Schulleitung ihn und die einbezogenen Kinder nach Hause geschickt, weil sie den Schulfrieden störten.
Jüdische Aktivist:innen gegen Zionismus
Am Sonntag 18.05. sprachen in einem Panel vier jüdische Aktivist:innen über ihre Kritik an der zionistischen Ideologie und Praxis des israelischen Staats: Dabei war der in Deutschland aufgewachsene Wieland Hoban, Mitglied der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost. Ebenso die israelische Aktivistin Zohar, Mitglied der Freiheitsflotille Gaza, deren Schiff am 2. Mai in internationalen Gewässern auf dem Weg nach Gaza von israelischen Drohnen beschossen wurde, und zwei weitere Israelis, die sich aufgrund der israelischen Apartheid und Besatzung zu Gegnern des Zionismus entwickelten. Alle vier positionieren sich für universelle Menschenrechte und in einem scharfen Gegensatz zu den meisten Menschen in Israel und Deutschland. Während der in Deutschland aufgewachsene Hoban um seine Identität als Jude rang, weil Zionismus und Judentum gleichgesetzt wurden, beschloss Zohar aufgrund des alltäglich erlebten Unrechts, aus ihrer Komfortzone auszutreten und gegen das Unrecht des israelischen Staates aktiv zu werden. Die Anderen beschrieben die Verweigerung des Militärdienstes, Diffamierungen und ihren einsamen Weg als Dissidenten. Ich gebe die Beiträge der vier Teilnehmenden im Folgenden komprimiert wieder:
Die Auseinandersetzung mit dem Zionismus, der Gründungsideologie Israels, habe ihnen klar gemacht, Judentum und Zionismus nicht identisch seien. Zionisten seien außerdem nicht immer jüdisch. Es seien zuerst christliche Zionisten gewesen, welche die Kolonisierung Palästinas ermöglichten. Die zionistische Bewegung sei als nationalistische Bewegung entstanden, die den Anspruch erhob, für alle Juden zu sprechen. U.a. orthodoxe Juden hättten sich von Anfang an dagegen gewandt, weil sie Staat und Militär als unvereinbar mit dem Judaismus betrachten. Der Zionismus und dessen Armee seien in Israel politisch und kulturell verankert, mit Zeremonien, Bildungsinhalten und der Basiserzählung: „Sie versuchten uns zu vernichten, dann kämpften und erhoben wir uns wieder.“ Zu dieser Erzählung gehöre die Behauptung, sich im ständigen Kampf gegen die Gefahr der Vernichtung zu befinden. Andererseits zögen Israelis materiellen Nutzen aus der Besatzung und aus der Ausbeutung palästinensischer Menschen. Die zionistische politische Ideologie, von Herzl gegründet, habe auf die Kolonisierung Palästinas gezielt und von Beginn an die Entfernung der palästinensischen Bevölkerung vorgesehen, auch wenn gelegentlich der Mythos eines menschenleeren Landes verbreitet worden sei. Jabotinsky in den 1920er Jahren und Ben Gurion in den 1940ern hätten ganz offen ausgesprochen, dass ein jüdischer Staat nur durch Gewalt gegen die verständlicherweise Widerstand leistenden Palästinenser verwirklicht werden könne. Heute forderten radikale Zionisten wie Ben Gvir, dass diese Aufgabe nun zu Ende gebracht werden müsse. Die zionistische Gesellschaftsidee sei die eines exklusiv jüdischen Staates, der sich nur durch ethnische Säuberung – d.h. Vertreibung ohne Rückkehroption – oder Genozid verwirklichen lasse. Solange palästinensische Menschen im israelisch dominierten Gebiet lebten, reagiere Israel mit einem Apartheidregime. Sogenannte gemäßigte Zionisten wie z.B. Martin Buber, die innerhalb des Zionismus Perspektiven von Versöhnung und Frieden gesehen hätten, seien nur begrenzt glaubwürdig. Das sei doch dasselbe, wie die Vorstellung von einer humanen Sklaverei. Die aktuelle Gewalteskalation zeige das unverhohlen brutale rassistische Gesicht des Zionismus. Die letzten 19 Monate hätten zu viel mehr Klarheit geführt.
Diese Eskalation könne dazu führen, dass der Zionismus sich selbst zugrunde richte. Denn sie bringe in Israel eine immer gewalttätigere Gesellschaft hervor und eine Regierung, die sich nicht mehr wie während des Oslo-Prozesses für friedlich, kompromissbereit, menschlich oder demokratisch ausgeben könne.
Für die bedingungslose deutsche Unterstützung Israels gebe es sehr materielle Gründe. Weil die deutsche Regierung sich aber nicht offen für einen Genozid aussprechen könne, werde von historischer Verantwortung gesprochen und der Mythos gepflegt, dass Politik durch Moral bestimmt werde. In der deutschen Erinnerungspolitik gebe es das seltsame Phänomen, dass sich Scham in Stolz verwandelt habe. Die Anerkennung Israels habe Deutschland die Möglichkeit gegeben, internationale Anerkennung wiederzugewinnen. Der Begriff Staatsräson klinge wie etwas Gesetzliches, ebenso wie die verabschiedeten Resolutionen gegen BDS, obwohl es sich um reine Meinungsäußerungen bzw. die politische Formulierung eines nationalen Interesses handle. Die Tatsache, dass der Verweis auf eine Staatsraison und Resolutionen wirken, mache deutlich, dass in der deutschen Gesellschaft Obrigkeitshörigkeit verbreiteter sei als die Fähigkeit zu unabhängigem Denken. Auch in der deutschen Gesellschaft gebe es eine Kontinuität. Die Deutschen hätten nicht die Lektion aus dem Holocaust gelernt, die international gelernt worden sei: Dass wir einen internationalen gesetzlichen Rahmen der Menschen- und Völkerrechte brauchen, um Menschen davon abzuhalten, anderen Menschen etwas anzutun. Die Deutschen hätten nur gelernt, „dass ihr heiliger Holocaust nicht berührt werden dürfe“, d.h. nicht verglichen und in Bezug zu anderen Vorgängen gesetzt. In Deutschland werde es verboten, über den Genozid zu sprechen, aber der Kanzler dürfe den Genozid unterstützen. Aber Deutschland habe in seiner Geschichte ja selbst mehrere Genozide verübt, und sei in andere verstrickt gewesen.
Gertrud Rettenmeier