3. Oktober: 9000 für “Demokratie, Menschlichkeit und Rechtsstaat” [mit Bildergalerie und Video]
Eindrucksvolles Zeichen für Mannheim – breite Ablehnung rechter und populistischer Stimmungsmache – kontroverse Diskussionen um die Nationalhymne
Zwar waren im Vorfeld nur 3000 erwartet worden, insgeheim hatten die Veranstalter um Dekan Ralph Hartmann aber wohl doch mit mehr gerechnet. Kurz vor dem Ziel am Schloss kamen Veranstalter und Polizei nach Zählung der Reihen und der Zuglänge zur gemeinsamen Schätzung von 9000 Menschen, die sich angeschlossen hatten. Es war ein beeindruckendes Zeichen für Mannheim, das sich als weltoffene, von Zuwanderung geprägte Stadt versteht.
Zur Auftaktkundgebung am Alten Messplatz füllte sich der Platz langsam. Von einer kleinen Bühne kamen musikalische Beiträge und Ansprachen des Veranstalters. Gegen 14 Uhr setzte sich der Zug in Bewegung und wuchs immer stärker an. Zuletzt reichte er von seiner Gesamtlänge beinahe durch die komplette Breite Straße. Auffällig war die Stille. Vereinzelt war Musik zu hören, kaum einer rief Parolen. Streckenweise wirkte die Veranstaltung wie ein Schweigemarsch. Eine kämpferische Stimmung gab es allerdings im orangenen Block der Initiative Seebrücke, der ganz am Ende lief.
Lobende Worte für die Demokratie
Während die ersten am Schloss ankamen, hatten die letzten gerade das Neckartor passiert. Im Ehrenhof des Schlosses war eine große Bühne aufgebaut. Ein breit aufgestelltes Programm setzte den inhaltlichen Rahmen der Veranstaltung. Neben musikalischen Beiträgen und Ansprachen des Veranstalters Ralph Hartmann sprach auch Oberbürgermeister Peter Kurz, der sich stolz zeigte, was die demokratische Gesellschaft seiner Stadt auf die Beine gestellt hatte. Er unterstrich, wie wichtig es sei, dass sich gerade die Organisationen für die Demokratie einsetzten, von denen oft verlangt werde, dass sie sich nicht in die Politik einmischten. “Wenn sich diese Institutionen nicht zu unserer Demokratie offensiv bekennen und sich engagieren, wiederholen wir historische Fehler. Und: Wer soll es sonst tun?”
In Talk-Runden wurden verschiedene Akteure der Zivilgesellschaft aus den Bereichen Politik, Religion, Wissenschaft, Sport, Gewerkschaft, Jugend, Kunst und Kultur zur Thematik des Rechtsrucks, zum demokratischen politischen System und zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen befragt. Rechte Politik und Rassismus wurde zwar durchgehend kritisiert, aber selten wurde es so konkret, wie in der Schilderung eines Vertreters des AK muslimischer Gemeinde, der berichtete, dass seine Lebensgefährtin aufgrund ihres Kopftuches im Alltag häufig angefeindet werde.
Interessant war die Schilderung von Nancy Mensah-Offei, gebürtige Österreicherin und seit kurzem wohnhaft in Mannheim und schauspielerisch tätig auf der Bühne des Nationaltheaters. Sie schilderte eindringlich, wie die konservativ-rechte Regierung in Österreich innerhalb kürzester Zeit viele gesellschaftlichen Errungenschaften zerstörte, die in demokratischen Prozessen jahrelang aufgebaut wurden. Doch es gebe auch mutmachenden Widerstand und gerade mit Kreativität und Witz würden vor allem aus linken Kreisen viele tolle Aktionen gemacht. Viel Applaus bekam auch Poetry Slammer Nektarios Vlachopoulos, der sich die sogenannten besorgten Bürger vornahm. Ansonsten wurde die AfD als parteipolitisch Verantwortliche für den gesellschaftlichen Rechtsruck nur zurückhaltend thematisiert. Alltagsrassismus und die Situation der Geflüchteten in Deutschland fanden leider wenig Beachtung in den Reden und Talk-Runden.
Videobeitrag: Nationalhymne singen – sinnvoll oder nicht?
Wir haben Meinungen eingefangen zur Frage, ob dies zu einem solchen Anlass sinnvoll ist oder nicht.
Video bei youtube: https://youtu.be/Q0HhcdcxLtw
Kritik am Rassismus der Mitte nur im Seebrücke-Block
Anders dagegen im organgenen Block: Die Initiative Seebrücke hatte zur Thematisierung ihres Anliegens im Rahmen der Großdemonstration aufgerufen. Viele Menschen solidarisierten sich über orangefarbene Kleidungsstücke mit den zivilen Seenotretter*innen im Mittelmeer und schlossen sich am Ende des Zuges zu einem gemeinsamen Block zusammen. Die Kritik der Initiative zielte auch auf die Politik der deutschen und europäischen Regierungen, die über die Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung und den Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex für eine Abschottung der EU und den Tod tausender Migrant*innen im Mittelmeer mitverantwortlich sind. Dieses brisante Thema wurde von der großen Bühne nicht angesprochen.
Im Seebrücke-Block wurde der Unterschied zwischen denen deutlich, die sich selbst politisch links verorten und den Repräsentanten der sogenannten „Mitte“. Die Linken waren laut, kritisch und unbequem. Sie demonstrierten gegen etwas, nämlich gegen die unmenschliche Politik der Abschottung der EU, aber auch für offene Grenzen, sichere Fluchtrouten und einen Appell, Mannheim als sicheren Hafen für Geflüchtete zu erklären.
Vertreter*innen der “bürgerlichen Mitte”, zu denen sich neben den meisten Parteien auch die Kirchen, Vereine und Vertreter*innen des Staates zählen, beließen es in ihrer Kritik weitgehend bei der Ablehnung des Rassismus und Populismus der radikalen rechten Kräfte. Es ging vielmehr um die Propagierung einer modernen Gesellschaft nach dem Vorbild liberaler, pluralistischer Demokratie. Die Veranstalter*innen wollten “für etwas” demonstrieren. Selbstkritische Stimmen zur eigenen Rolle oder an gesellschaftlich etablierten Akteuren aus der “Mitte” waren von der großen Bühne nicht zu hören. Die Probleme der Geflüchteten in Deutschland, die Situation an den Außengrenzen der EU, Fluchtursachen und Kriege waren keinen Themen, die vom offiziellen Teil der Veranstaltung aufgegriffen wurden.
“Die Ursachen dafür, dass Menschlichkeit in unserem Gesellschaftssystem immer mehr dahin schwindet und die Voraussetzungen, um dies zu ändern, fehlen leider. (…) Sie sind ein Produkt des staatlichen Rassismus und der gegen Geflüchtete gerichteten Regierungspolitik.”, hieß es dagegen in einem Flugblatt, das vom Bündnis gegen Abschiebungen auf der Demo verteilt wurde.
Nationalhymne und schwarz-rot-goldene Fahnen
Die Wahl des Datums führte dazu, dass die Veranstaltung auch die „Deutsche Einheit“ zum Thema hatte. Auch hierzu gab es keine kritischen Worte von der Bühne. Fachleute zum Thema “Rechtsextremismus” weisen regelmäßig darauf hin, dass das Erstarken faschistischer Bewegungen, insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern, im Kontext des von Helmut Kohl organisierten Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik gesehen werden muss. Das Aufkommen eines neuen Nationalismus führte in den 90er Jahren zu einem Rechtsruck in ganz Deutschland mit zahllosen Brandanschlägen und Morden, der parlamentarisch in der Änderung des Grundgesetzes mit der Einschränkung des Asylrechts kulminierte. Nach einem Jahrzehnt, in dem nationalistische und rechtsradikale Kräfte weniger Zulauf hatten, sehen sich diese nun seit einigen Jahren wieder im Aufwind. Einschätzungen und Analysen, wie es zum neuerlichen Rechtsruck kommen konnte, bot die Veranstaltung leider nicht.
Stattdessen war ein positiver Bezug auf die Nation Teil des Programms. “Dazu gehören auch die Symbole wie Fahne und Hymne, die wir nicht Feinden von Demokratie und Menschlichkeit überlassen dürfen.”, betonte Peter Kurz in seiner Ansprache. Auch Dekan Ralph Hartmann sprach sich dafür aus, die Hymne zu singen und nationale Symbole mit etwas Positivem zu besetzen. In seiner Anmoderation griff er jedoch auch Kritik auf sagte: “Wenn man Nationalhymne hört, hat man verschiedene Bilder vor Augen, auch dunkle, und es ist gut, wenn man die hat”. Er müsse dabei aber auch immer an die Einbürgerungsfeiern in Mannheim denken und die Menschen, die sich dazu entschlossen haben, deutsche Staatsbürger zu werden. Ob man mitsinge oder nicht, das müsse jeder für sich selbst entschieden.
Dass dann zum Beginn des Liedes die Mikrofone nicht richtig funktionierten, wird den verbliebenen Kritiker*innen vielleicht ein kleines Lächeln abgerungen haben. Viele hatten die Kundgebung zu diesem Zeitpunkt aber bereits verlassen. “Es gruselt mich, wenn ich daran denke, dass diese Mengenmenge das Deutschlandlied singt,” war zu hören. Doch der nationalistische Ausbruch hielt sich in Grenzen. Einige sangen mit, andere blickten kritisch, manche schüttelten den Kopf. Die Zahl deren, die mit schwarz-rot-goldenen Fahnen zur Demo kamen, ließ sich an einer Hand abzählen.
Die “demokratische Mitte” feierte sich selbst
Die Veranstaltung war sicherlich ein starkes Zeichen der Mannheimer Bevölkerung gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck im allgemeinen und die AfD als deren parteipolitischen Ausdruck im Besonderen – auch wenn das Wort AfD an diesem Tag selten viel. Wichtige gesellschaftliche Probleme, die mit dem Rechtsruck zusammen hängen, gingen in der Demo “für etwas, statt gegen etwas” leider unter. “Für etwas” hieß letztendlich die Selbstvergewisserung derer, die sich selbst als gesellschaftliche Mitte ansehen, dass sie alles richtig machen. Die Schattenseite des breiten Widerstands gegen die AfD ist die fehlende Selbstkritik. Solange man nach rechts schauen kann, wie viel schlimmer es sein könnte, lässt sich der Ist-Zustand gut verkaufen. Es war eben keine linke Demo. Es war kein antagonistischer, gesellschaftskritischer Protest, sondern eine staatstragende Veranstaltung, ein Plädoyer für die liberale, parlamentarische Demokratie und – immerhin – eine wirkungsvolle Aktion gegen die Etablierung von AfD, PEGIDA, NPD, rechten Hooligans und ähnlichen Strömungen in Mannheim.
Diese feierten übrigens den Tag der Deutschen Einheit auf ihre Weise. In ihr Stammlokal “Schützenhaus” in Mannheim-Feudenheim hatte der AfD Kreisverband zu einem Vortragsabend mit dem Titel “Wege aus der Krise” eingeladen. Im Vergleich zur Großdemo fand dies jedoch wenig Beachtung. Nur die Verkehrsschilder in der Feudenheimer Straße erinnerten daran, dass es auch in Mannheim einen hässlichen rechten Rand gibt.
(Text: cki | Bilder: cki, cr, eb | Video: cki, cr)
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