Altersarmut – Wohnungsnot – Vereinsamung? Generationenpolitik auf dem Prüfstand
40° C Außentemperatur – und trotzdem war die Veranstaltung am 26. Juni sehr gut besucht. Ausdruck davon, welche Brisanz dem Thema innewohnt. Veranstalterin war die LINKE im Mannheimer Gemeinderat – vorbereitet wurde sie vom „Arbeitskreis Gesundheit“.
Dem Anspruch, diesem komplexen Thema in einer zweistündigen Veranstaltung gerecht zu werden, trat Thomas Trüper – Stadtrat der Linken im Gemeinderat – gleich am Anfang entgegen. Ein Auftakt sollte sie sein zu einer kleinen Serie von Veranstaltungen, in denen die einzelnen Aspekte des Themas „Generationenpolitik“ vertieft werden müssen. Das aufschlussreiche Impulsreferat von Prof. Dr. Bernhard Emunds, (r-k. Theologe und Ökonom, Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts Frankfurt/M) zum Thema „Für ein Pflegesystem ohne (Selbst)-Ausbeutung der Pflegenden“ zäumte das Thema quasi von hinten auf – weil bei der schwierigsten Etappe des Generationen-Leben ein echter Paradigmenwechsel dringend erforderlich ist.
Impulsvortrag von Prof. Emunds
Herausgehobener Gesichtspunkt des Impulsvortrages von Prof. Emunds in der Darstellung der IST-Situation und des dringend erforderlichen Reformbedarfes war sein Blick auf die unterschiedliche „Betroffenheit“ von Frauen und Männern, von Wohlhabenden und Nicht-Wohlhabenden.
Im Folgenden Auszüge aus seiner Power-Point-Präsentation:
IST-Zustand:
Leistungen aus der Pflegeversicherung bezogen Ende 2017:
* 24% ambulant von zu 60-70% weiblichen Angehörigen gepflegte Menschen – unterstützt von Pflegediensten
* 26% (geschätzt) von „Live-in-Betreuer*innen“ (fast alle weiblich)
* 50% stationär von Altenpflegerinnen (zu 85% weiblich) – Gepflegte
Deutschland gilt als „familialisierender Wohlfahrtsstaat“ (die Familie sorgt als erstes, der Staat kümmert sich weniger); Gegenmodell: die skandinavischen Länder mit ausgebauter öffentlicher stationärer Pflege. Hier werden die erforderlichen Mittel nicht über eine „Pflegeversicherung“ finanziert, sondern über Steuern. Anders als in Deutschland sind Bau und Unterhalt von Pflegeheimen (Investitionskosten) steuerfinanziert, die BewohnerInnen zahlen lediglich Kost und Logis. Pflegekräfte sind bei den Kommunen eingestellt. Ergebnis: dank ausreichender Finanzierung und entsprechenden Arbeitsbedingungen bleiben Pflegekräfte langfristig in ihrem Beruf tätig – „Pflegenotstand“ ist kein brennendes Thema.
Öffentliche Ausgaben der Pflegearbeit in Deutschland: 1,3% des BIPs im Jahr 2016 – das entspricht dem Durchschnitt von 28 EU-Ländern; Schweden, Niederlande, Norwegen erbringen dagegen 3,2-3,7% des BIPs
Die sogenannte 24-Stunden Pflege “Live-ins” – fast nur Mittelschichtsoption. Pflegekräfte leben „mit Familienanschluss“ unter einem Dach mit den Pflegebedürftigen. Abgesehen von begrenzter Ruhe- und Freizeit wird die rund-um-die-Uhr-Präsenz mit Aktivitäten und Bereitschaft häufig weit unter dem Mindestlohn bezahlt (2-3 €). Geschätzt 100.000-650.000 Frauen – ganz überwiegend aus Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn… – mit Personenwechsel zwischen 4 Wochen bis zu 3 Monaten. Ein Tummelplatz für Schwarzarbeit oder Scheinselbstständigkeit (über Agenturen)
Problemlage der häuslichen Pflegearbeit: enorme Belastung vor allem der Hauptpflegeperson bei finanziell nicht ausreichender Absicherung mit dem Ergebnis drohender (Alters-)armut.
Pflegegeld ist kein Entgelt, sondern nur Anerkennungsgeld. Pflegegeld (316 € bei Pflegegrad 2 – 901 € bei Pflegegrad 5 – bei Demenz + 125 €) wird bei Inanspruchnahme von Pflegesachleistungen gekürzt
Professionelle Altenpflege: „Minutenpflege“ bedeutet Pflege entgegen eigenen professionellen Standards; zentraler Grund: zu geringe Personalausstattung.
Ethische Ziele:
Pflegearbeit als Erwerbsarbeit mit gleich umfangreichem und gleich gutem Zugang beider Geschlechter. Ein Pflegesystem soll die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung nicht verfestigen, sondern zu ihrer Überwindung beitragen. Prof. Emunds zitierte die amerikanische Feministin Nancy Fraser, die für eine echte Wahlfreiheit zwischen dem Recht auf häuslicher Betreuungsarbeit und außerhäuslicher Berufstätigkeit – in allen Fällen existenzsichernd – plädiert.
Gesellschaftliche Wertschätzung der Angehörigenpflege erforderlich (gut ausgestattete Optionen: stationär – häuslich – Mischformen).
Reformperspektiven:
* Qualitätsverbesserungen der Heime
* Ausbau von Pflegegruppen etc. mit Qualitätssicherung
* Lohnersatzleistungen für pflegende Angehörige – entsprechend dem Elterngeld
* Anreize, Pflegearbeit zwischen den Geschlechtern zu teilen
* Höheres Pflegegeld für häusliche Pflege, wenn „Live-in“-Kräfte involviert sind – aber gebunden an die Einhaltung von Mindeststandards des Arbeitsrechts
Finanzierung:
Statt weiterer Ausdehnung der Finanzierung über Sozialversicherungsbeiträge sollen Steuern ins Pflegesystem gebracht werden. Ausbau der Pflegeversicherung bedeutet finanzielle Entlastung der Mittel- und Oberschichten der Gesellschaft, die häufig hohe Erbschaften zu erwarten haben, falls keine pflegebedürftigen Eltern das voraussichtliche Erbe durch Eigenverbrauch reduzieren. Eine Erhöhung der Erbschaftssteuer zur Finanzierung erforderlicher Pflegeleistungen würde selbst in diesen Schichten eine gleichmäßiger verteilte – nicht durch Zufall (s.o.) gesteuerte Belastung bewirken.
Generationenpolitik – eine grundlegende kommunale Aufgabe
Die klug und umsichtig durch Veit Lennartz moderierte Diskussion machte u.a. deutlich, dass die kommunalen Aufgaben über das hinausgehen müssen, was bisher als Auftragsverwaltung für Bund und Land zu den Pflichtaufgaben gehört. Seniorenpolitik als Teil der Generationenpolitik und als durchgreifende Querschnittsaufgabe anzunehmen, die alle kommunalen Ressorts wie Stadt-, Verkehrs-, Bau-, Wirtschafts- und Freiraumplanung einbezieht und nicht nur wie bisher im Mannheimer Sozialdezernat angesiedelt ist, ist längst überfällig. Aufgabe der Kommunen ist zunehmend eine Koordinierungs- und Managementverantwortung bei der Daseinsvorsorge. „Sie ist … die Institution, die vernetzt, verknüpft, unterstützt und ggfs. auch mobilisieren muss (7. Altenbericht der Bundesregierung, S. 39). Vor allem bei der Mannheimer Sozialstruktur muss die Heterogenität des Alters beachtet werden und insbesondere älteren Menschen mit geringen Einkommen, mit Beeinträchtigungen und älteren Migrantinnen und Migranten Teilhabemöglichkeiten eröffnen. Die Linken im Gemeinderat werden – so wie in ihrem Wahlprogramm beschrieben – entsprechende Schwerpunkte in ihre Tätigkeit setzen.
DiskussionsteilnehmerInnen waren neben Prof. Emunds, Thomas Trüper, Joachim Burg vom FB Arbeit und Soziales der Stadt Mannheim, Irmgard Rother vom „Offenen Netzwerk Mannheimer Frauen“ und das Publikum, das zu jedem Punkt unmittelbar mit einbezogen wurde.
IST-Zustand in Mannheim:
* Im Mannheim insgesamt betrug die Anzahl der über 65-jährigen EinwohnerInnen im Jahre 2017 = 19%, Prognose für 2036 = 22%. Die Generationenverteilung in den verschiedenen Stadtteilen sieht jedoch sehr unterschiedlich aus. Abgefedert wird die überproportionale Zunahme älterer Menschen durch die ZuwanderInnen, die teilweise mehr Kinder großziehen als die alteingesessene Bevölkerung.
* 57% der zu pflegenden Menschen erfolgt durch Angehörige, 31% sind in stationärer Betreuung, der Rest wird ambulant betreut. Nach Aussage von Herrn Burg hat die Kommune keinerlei Einflussrechte, wenn die Pflege von Angehörigen übernommen wird
* 1-Personen-Haushalte (Zahlen von 2017) im Durchschnitt 51,7%; bei den 55-65jährigen 34,8% der Männer, 30,4% der Frauen, bei den 65-80-jährigen 27,1% der Männer, 37,1% der Frauen, bei den über 80-jährigen 49,1% (überwiegend Frauen) – Tendenz steigend – hohes Armutsrisiko – vor allem bei Frauen (Frauen leben länger – aber wie?)
Diskussionspunkte:
* Die Aktivitäten der kommunalen Alten- und Seniorenpolitik sind häufig auf die Möglichkeiten ehrenamtlicher Tätigkeiten des Seniorenbüros beschränkt. Diese freiwillig erbrachten Leistungen können die staatliche Gewährleistungsverantwortung nicht ersetzen.
* Eine nachhaltige Seniorenpolitik muss endlich zur Pflichtaufgabe auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene werden. Die Rolle der Kommunen muss gestärkt werden, indem ihnen mehr Strukturverantwortung übertragen und die dafür erforderlichen finanziellen Mittel bereitgestellt werden.
* Kommunale Seniorenpolitik muss mehr als Pflege- und Versorgungspolitik sein. Die Angebote der „klassischen Altenarbeit“ sind für die „künftigen SeniorInnen“ nicht geeignet. Es müssen sinnvolle Strukturen geschaffen werden, um den Bedarf in den Stadtteilen zu erfassen und zu verarbeiten – Eine Veranstaltung für “aktive Ältere” in der Stadtteilplanung wäre sinnvoll. Lt. Herrn Burg ist eine Neukonzeption der Seniorentreffs geplant.
* „Seniorentreffs“, wo ältere und alte Menschen nur „unter sich“ bleiben, sind für die heute über 65-jährigen Menschen keine attraktiven Orte. Bessere Alternativen: Generationentreffs – mit Möglichkeiten der Begegnung, des Austausches und der gegenseitigen Unterstützung (Positives Beispiel: Mehrgenerationentreff in Buchen).
* Mobilitätsmöglichkeiten müssen weiter ausgebaut werden, damit sich die Menschen aus den Stadtteilen raus bewegen können.
* Asreichender, bezahlbarer, seniorengerechter, barrierefreier Wohnraum, Beratung (finden, vermitteln) bei Wohnungstausch. „Gute, bezahlbare Wohnungen sind Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Frauen in den klassischen, schlecht bezahlten Frauenberufen, Alleinerziehende und Rentnerinnen können die angebotenen teuren Wohnungen einfach nicht bezahlen.“ (aus einem Appell des „Offenen Netzwerkes Mannheimer Frauen“ an die GemeinderätInnen zur Verabschiedung des 12-Punkte-Programms). Jetzt muss es konsequent umgesetzt werden – die neue Zusammensetzung des Gemeinderates gibt (hoffentlich) Anlass dazu.
* Professionell koordinierter Ausbau nachbarschaftlicher Hilfsnetze und Nachbarschaftsaktivitäten, um der Vereinsamung von Menschen vorzubeugen
* Stadtplanung: Aspekt der sozialen und generationenmäßig besseren Mischung stärkeres Gewicht geben – kein Quartier ohne ausreichende Kinderbetreuungs- Jugend- und alternsgerechte Wohn-, Betreuungs- und Begegnungseinrichtungen
* Die Kommune muss versuchen, Altersarmut auszugleichen – Teilhabe ermöglichen
* Mannheim muss als Arbeitgeberin drohender Altersarmut vorbeugen durch Reduzierung prekärer Beschäftigungsverhältnisse. In städtischen Betrieben und Gesellschaften müssen alle Beschäftigten nach Entgelttarif des Öffentlichen Dienstes bezahlt – privatisierte Bereiche rekommunalisiert werden (wie z.B. Reinigung); bessere Vereinbarung von Familie und Beruf ermöglichen, damit Frauen (aber auch Männer) wegen Kinderbetreuung und Pflege nicht aus dem Beruf aussteigen müssen
* Eingreifen in Markt von stationären Einrichtungen (betreutes Wohnen, Alten- und Pflegeheime)
* Frauen sind häufig in einer Doppelrolle: Neben ihrem Beruf stemmen viele von ihnen doppelte Fürsorgeaufgaben: sowohl gegenüber den jungen als auch gegenüber den älteren Mitgliedern der Familie.
* Der Anteil kinderloser Menschen wird zunehmen (s. 1-Personen-Haushalte), Versorgung und Unterhaltung finden nicht mehr wie „früher“ im Familienverbund statt – auch darum sind Begegnungsstätten erforderlich
* Pflegeheime, „Betreutes Wohnen“ oder „seniorengerechte Wohnungen“ dürfen nicht als Renditeanlagen vermarktet werden
* Jobcenter vermittelt 1 Euro-Jobs in Seniorentreffs, max. 2 Jahre lang, bis zu 30 Stunden die Woche; verdeutlicht den geringen Stellenwert dieser Einrichtungen und die geringe Anerkennung der Tätigkeit der 1€-Beschäftigten („zusätzlich“ – also „nicht notwendig“; dieses „Angebot“ wurde von Herrn Burg (ehemals Leiter des Job-Centers) für gut erachtet.
Das Land Ba-Wü investiert in neue Wohnformen für ambulant betreute Wohngemeinschaften
Ab dem Jahr 2020 plant das Land, neue Wohnformen für ambulant betreute Wohngemeinschaften von Senioren und Menschen mit Behinderungen mit 15 Millionen Euro im Jahr als Mietwohnungen mitten im Quartier zu fördern. (Mitteilung des Sozial- und Integrationsministers Manne Lucha am 01. Mai 2019 in Stuttgart)t. Damit soll die Lücke zwischen Pflegeheimen bzw. stationären Behinderteneinrichtungen und einer nur stundenweisen Unterstützung und Versorgung in der eigenen Wohnung geschlossen werden. Das Förderprogramm soll für kommunale oder freie Wohnungsbauunternehmen oder Genossenschaften in Frage kommen. Planungs- und Beteiligungsprozesse mit den künftigen WG-Bewohnerinnen und –Bewohnern sollen gefördert werden, weil diese erfahrungsgemäß aufwändig und für nicht gemeinnützige Investoren eine große Hürde sind (www.quartier2020-bw.de)
Insgesamt wurde auf der Veranstaltung deutlich: Es sind dicke Bretter zu bohren!
Irmgard Rother