Veranstaltung mit dem jüdisch-palästinensischen Friedensaktivisten Jeff Halper auf dem Mannheimer Marktplatz

Ein gemeinsamer demokratischer Staat für alle Menschen in Palästina

Jeff Halper, jüdisch-israelischer Friedensaktivist erläuterte in seinem Vortrag am 29. April auf dem Mannheimer Marktplatz, warum es gilt, die Perspektive eines gemeinsamen Staates in Palästina zu verfolgen. Nur diese Lösung sei geeignet, für Juden und Palästinenser gleichermaßen Frieden, Sicherheit, Freiheit und Demokratie zu sichern.

Jeff Halper bei seinem Vortag auf dem Mannheimer Marktplatz

Halper wurde 2025 gemeinsam mit dem Palästinenser Issa Amro für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Er ist international anerkannt aufgrund seines jahrzehntelangen Engagements für Frieden in Palästina und einer gleichrangigen Zusammenarbeit von jüdischen Israelis und Palästinenser:innen. U.a. ist er Mitbegründer des gewaltfreien palästinensischen Komitees gegen Hauszerstörungen.

Halper drückte zunächst sein Mitgefühl gegenüber dem immensen Leid der Menschen in Gaza und im Westjordanland aus, die aktuell Opfer eines Genozids seien. Auch im Westjordanland vollziehe die israelische Armee aktuell eine ,ethnische Säuberung’ und zwar sowohl mit der Vertreibung von Zehntausenden aus den Flüchtlingslagern im Norden als auch mit mit der Zerstörung von Dörfern und Landbesetzungen an anderen Orten. Schwerpunkt seines Vortrags war jedoch die politische Einordnung des Geschehens und die Formulierung einer Zukunftsperspektive für die Region.

Kein israelisch-palästinensischer Konflikt sondern ein antikolonialer Kampf

Um ein Problem lösen zu können, gelte es, zunächst die richtige Diagnose zu erstellen. Er verglich die Situation mit dem Arztbesuch eines Kranken, wo erst nach der Diagnose das Medikament ausgewählt werden kann. Falsch sei die bisher häufig gestellte Diagnose, in Palästina befänden sich zwei Seiten in einem Konflikt. Denn es handle sich nicht um zwei gleichrangige Konfliktpartner. Auf der einen Seite stehe ein hochgerüsteter Staat, auf der anderen Seite eine weitgehend wehrlose Bevölkerung. Zusätzlichen Aufschluss gebe die Geschichte und das Selbstverständnis des Zionismus, der Grundlage des Staates Israel. „Zionismus war und ist eine siedlerkolonialistische Bewegung, die darauf abzielt, Palästina aus einem arabischen Land in ein jüdisches Land zu transformieren. Der Siedlerkolonialismus geht auf eine einseitige Entscheidung zurück. Die Palästinenser hatten nie einen Konflikt mit Juden. Sie lebten friedlich in ihrem Land, als der Zionismus ankam, um das Land zu übernehmen“, führt er aus. Dass die Palästinenser:innen, die nie gefragt wurden, dagegen Widerstand leisteten, sei ihr legitimes Recht. Denn „jede Art von Kolonialismus ist amoralisch, ungerecht und illegal“. Zionismus als eine Seite in einem Konflikt zu bezeichnen, bedeute ihn zu legitimieren und dem Widerstand der Palästinenser:innen die Legitimität zu entziehen. Weil ein Konflikt durch Verhandlungen und Kompromisse gelöst werde, gerieten die Palästinenser:innen dadurch in die „Falle eines Konfliktpartners, der Zugeständnisse machen soll.“ Und weiter: „Welche Kompromisse verlangen wir den Palästinenser:innen ab? Wie viel von ihrem Land sie abgeben an Menschen, die aus Europa kommen? Sollen sie wie auf einem Marktplatz darüber verhandeln, wie viele Geflüchtete zurückkehren dürfen? Wir erwarten, dass sie Kompromisse über ureigene Rechte schließen“.

Dekolonisierung und Demokratie statt „Zwei-Staaten-Apartheid“

Die Logik des Konfliktbildes führe direkt zum Vorschlag einer Zwei-Staaten-Lösung, weil ein Konflikt um Land mit dessen Teilung gelöst werden solle. Für Israel sei eine Zwei-Staaten-Lösung nur in Form von Apartheid vorstellbar, denn für Israel sei es nicht vorstellbar, 5 Millionen Palästinenser:innen die israelische Staatsbürgerschaft zu geben. 85 % des Landes würden von Israel beansprucht, die restlichen 15 % stünden für palästinensische „Bantustans ohne eigene Wirtschaft und Souveränität“ unter der Führung von Israel-Kollaborateuren zur Verfügung. Dabei handle es sich um eine „Zwei-Staaten-Apartheid“, ähnlich wie in Südafrika, wo es 11 Bantustans mit jeweils einem Kollaborateur an der Spitze gegeben habe. Gegen die Apartheid in Südafrika hätten sich schließlich alle Staaten gewandt.

Ein siedlerkoloniales Apartheidsystem könne nur durch Dekolonisierung beendet werden. Das bedeute den Abbau aller Unterdrückungsstrukturen. Der zionistisch konzipierte ethnoreligiöse Staat Israel müsse durch einen demokratischen Staat mit gleichen Rechten für alle Bewohner:innen ersetzt werden. Die Jüd:inen würden weiter in Palästina bleiben, mit gleichen Rechten wie die Palästinenser:innen. Jedoch würde nicht mehr ein Volk über ein anderes herrschen. Alle Geflüchteten hätten ein Recht auf Rückkehr. Ein demokratischer Staat für Alle, der auch von den Nachbarstaaten akzeptiert sei, garantiere Allen Gerechtigkeit, Frieden, Bewegungsfreiheit über die Staatsgrenzen hinaus, und auch den Jüd:innen große Sicherheit. Die Ereignisse des 7.10.23 hätten klar gemacht, dass die Armee nicht in der Lage ist, für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen. „Was ist falsch daran, einen Apartheidstaat durch eine Demokratie zu ersetzen?“, fragte Halper und zitierte Nelson Mandela: „Unser Kampf richtet sich nicht gegen die Weißen, sondern gegen die Strukturen der Apartheid“. Sein Buch „Decolonizing Israel, liberating Palestine“ gehe differenzierter auf diese Zusammenhänge ein. Bisher habe sich leider kein Verlag gefunden, der es in der deutschen Übersetzung herausgab.

 Keine Normalisierung von Apartheid!

„Siedlerkolonialismus gewinnt, wenn er zur normalen Sache erklärt wird“, führte Jeff Halper aus.

Transparent gegen Raumverbote (siehe Artikel in KIM)

Entsprechend arbeite Israel daran, auch von möglichst vielen Nachbarstaaten anerkannt zu werden. Was Trump und Netanjahu wollten, sei dass Palästina vergessen werde und das ganze Land nur noch als Israel bekannt sei. Die USA, Europa, ja der ganze globale Norden unterstütze das Regime in Israel und eine solche Normalisierung. Das hänge u.a. mit Partnerschaften im Bereich Waffen und Sicherheitstechnik zusammen. Solange es Kämpfe gebe, sei jedoch z.B. Saudi-Arabien nicht bereit, den Normalisierungsprozess fortzusetzen. Daher sei Israel daran interessiert, Ruhe herzustellen durch das dauerhafte Brechen jeglichen Widerstands. „Normalisierung kommt nach dem Genozid“, so Halper. Aus diesem Grund hätten sie in Israel und Palästina eine Kampagne begonnen gegen die Normalisierung, mit der Forderung eines gemeinsamen Staates für Alle, und unter Verwendung einer antikolonialen Sprache. Mit dem Programm des „Einen Staats für Alle“ werde versucht, eine neue palästinensischen Führung aufzubauen. Deren Programm könne in die internationale Solidaritätsbewegung ausstrahlen.

Diskussion um die Bedeutung des Holocaust

In Deutschland wird die Unterstützung Israels qua „Staatsraison“ begründet mit dem deutschen Holocaust an den Jüd:innen. Der Staat Israel sei doch auch infolge des Holocaust gegründet worden, merkte ein Teilnehmender an. Halper widersprach: Die zionistische Bewegung und das siedlerkoloniale Projekt Israel seien 50 Jahre vor dem Holocaust entstanden und es sei nicht möglich zwischen Holocaust und Zionismus eine Verbindung herzustellen. Wer sich Sorgen um die Sicherheit der Jüd:innen in Palästina mache, solle lieber auf einen gemeinsamen Staat setzen als auf die zionistische Armee. Richtig sei, dass der Holocaust sich auf den Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947 ausgewirkt und internationale Unterstützung für die Staatsgründung Israels mobilisiert habe. Die meisten Jüd:innen seien jedoch nach dem Holocaust nach Westen gegangen, wenn sie die Wahl hatten. Holocaust und Zionismus hätten nichts miteinander zu tun. Heute sei der Holocaust für die Menschen in Israel kaum mehr von Bedeutung. Sie seien besorgt um ihre Sicherheit und hätten Angst vor `“Terroristen“. Die Regierung benutze Antisemitismus und den Holocaust jedoch, um die israelischen Jüd:innen als ewige Opfer darzustellen und von der Verantwortung für die Unterdrückung der Palästinenser:innen zu entlasten. Netanjahu sei nicht ehrlich, wenn er den Genozid in Gaza mit dem Holocaust rechtfertige. Die Situation in Israel beschrieb Halper als politische Verschiebung nach Rechtsaußen. Es gebe keine Sozialdemokraten, Grünen oder Liberalen mehr. Es gebe zwar eine starke Opposition gegen die Person Netanjahu, aber wenn er abtrete, werde die rechtsgerichtete Politik ohne Frage von Anderen fortgesetzt. Über die israelische Öffentlichkeit sagt Halper, die Menschen würden in ihrer eigenen Blase leben, an sich selbst denken und die Palästinenser:innen völlig ausblenden.

Kampf der Reichen gegen uns Alle

Abschließend stellte Halper die Situation in Palästina in einen globalen Kontext. Wir seien in der Ära des „Technofaschismus“ und des Kampfs der Reichen gegen uns Alle angekommen. Ihren Ausdruck finde diese Ära in Personen wie Elon Musk. Der Kapitalismus, der früher mit Mc Donald und Walt Disney einen freundlichen und fröhlichen Eindruck machte, zeige sich heute offen repressiv. Bereits jetzt müssten 85% der Weltbevölkerung mit weniger als zehn Euro pro Tag auskommen. Für den Kampf gegen die Bevölkerungen waren die bisherigen Waffensysteme jedoch nicht geeignet. Diese Nische besetze nun Israel, das mit der 130 Jahre alten zionistischen Erfahrung im Kampf gegen die Bevölkerung die weltweit wirksamsten Waffen- und Kontrollsysteme entwickelt und erprobt habe. Für autokratische Regierungen sei dies ein Anreiz, um mit Israel zu kooperieren. In einem Buch mit dem Titel „War against the people“ habe Halper diese Entwicklung genauer beschrieben. Für uns alle, die wir von diesem Krieg der Reichen bedroht seien, sei dies jedoch ein Grund mehr für eine solidarische Dekolonisierung.


Siedlerkolonialismus

wird in der historischen Forschung als eine Form der Kolonialherrschaft beschrieben, bei der es nicht primär um die Aneignung von Reichtümern, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen oder die Nutzung billiger oder versklavter Arbeitskräfte geht, sondern um die exklusive Nutzung eines besetzten Territoriums durch zugezogene Siedler. Die jeweilige Kolonialmacht macht die Siedelnden zu „Herrenmenschen“, indem sie ihnen militärische, rechtliche und ideologische Unterstützung für die Eliminierung der einheimischen Bevölkerung gibt. Indem Siedler in neue Gebiete vordringen, setzen sie deren Bewohner*innen einem regellosen Ausnahmezustand von Gewalt und Entrechtung mit Vertreibungen und Ermordungen aus. Beispiele für Siedlerkolonien sind u.a. die USA, Kanada, Australien, Nordirland, Algerien, Kenia, Südafrika und die deutsche Kolonie Südwestafrika, heute Namibia. Israel ist aus der Protektion der zionistischen Bewegung durch die britische Kolonialmacht entstanden. Ähnlich wie die USA im 19. Jahrhundert unterstützt der israelische Staat seit Beginn die fortschreitende Landnahme und die Eliminierung der Indigenen durch Siedler.


Gertrud Rettenmaier