Kandel-Demos: Videobeweis entlastet angeklagten Antifaschisten / Verfahren wird unter Auflagen eingestellt (mit Kommentar)
Am Amtsgericht Kandel wurde am 10.09.19 das Verfahren gegen Siegfried Kerner(*) verhandelt. Ihm wurde zur Last gelegt am 07.04.18 am Bahnhof Wörth „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ und „Beteiligung an einer Gefangenenbefreiung“. Gegen einen Strafbefehl hatte der Beschuldigte Einspruch eingelegt. Die Beweisaufnahme in der Verhandlung erbrachte, dass die Anklage der Staatsanwaltschaft nicht aufrecht zu erhalten war. Das Verfahren wurde unter Auflagen eingestellt. (AZ: 1 Cs 7150 Js 11763/18)
„Gefangenenbefreiung“ als Vorwurf der Anklagebehörde konstruiert?
Während der öffentlichen Verhandlung wurde als Beweismittel der Anklage ein Polizeivideo abgespielt, welches die Anklageschrift zementieren sollte. Nur die direkt am Prozess beteiligten Parteien konnten sich den Film auf einem PC-Bildschirm anschauen; die übrigen Prozessbesucher konnten dies nicht. Nach Auskunft des Staatsanwalts, auf Nachfrage des KIM-Reporter, wurde das Filmmaterial von der Bundespolizei gefertigt.
Fazit nach dem Video-Anschauen:
Die Anklage ist, in diesem Punkt, nicht mehr aufrecht zu erhalten. Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung sahen dies ebenso und beantragten einvernehmlich die Einstellung des Verfahrens. Somit erging auch der Urteilsspruch unter Auflagen.
Urteil: „40 Stunden Sozialarbeit“ – weshalb?
Der vorsitzende Richter urteilte, dass der Angeklagte „als Strafe“ binnen drei Monaten 40 Stunden gemeinnützig arbeitstechnisch nachweisbar leisten müsse. Diesem Kompromiss (siehe Kommentar) schlossen sich der Angeklagte und sein Strafverteidiger an. Begründet wurde dieses Urteil damit, dass sich der Angeklagte nicht eventuell doch noch strafbar gemacht haben könnte wegen „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“. Bewiesen vor Gericht wurde auch dieser Anklagepunkt nicht. Der einzige Zeuge der Anklage, der am Verhandlungstag vernommen wurde, ein Polizeikommissar aus Koblenz, konnte diesen Anklagepunkt nicht wirklich erhärten. Im Zweifel für die Anklage?
Das Verfahren gegen den Angeklagten wurde zunächst unter Auflagen eingestellt. Damit ist auch der ursprüngliche Strafbefehl über € 2.400,- hinfällig. Die Verfahrenskosten trägt die Staatskasse.
Große Solidarität mit dem Angeklagten – Unnötige Sicherheitsmaßnahmen
Bereits am frühen Morgen kamen am Prozesstag rund 20 Personen zur solidarischen Unterstützung vor das Amtsgericht Kandel. Die Leute quatschten auf dem Bürgersteig; einige nahmen ihr Frühstück zu sich. Erneut wurden seitens Gerichts strenge Einlasskontrollen durchgeführt. „Leibesvisite, Taschenverbot, Getränkeflaschen nicht erlaubt, auch keine mobilen Endgeräte (z.B. Smartphones)“.
Der Angeklagte verlass vor Gericht eine persönliche Erklärung, in der Siegfried Kerner, u.a. sinngemäß sagte dass er die rechten Aufmärsche in Kandel verabscheue und die vor Gericht geführten Prozesse gegen antifschistische AktivistInnen nur zur Legitimation von Polizeigewalt, wie in Wörth, stattfänden.
(Dieser Prozess wird am Amtsgericht Kandel am 01.10.19 um 9:30 Uhr fortgeführt.)
Was den vergleichsweise großen Aufwand an Polizei- und Justizpersonal rechtfertigt, bei einer absolut unauffälligen Besuchergruppe, muss das Amtsgericht erklären. Im Gerichtssaal saßen 3 bewaffnete PolizeibeamtInnen und und ein minderschwer ausgerüsteter uniformierter Justiz-Mitarbeiter. Grundlos oder zur Einschüchterung des Prozessbesucher?
Kommentar:
Der Kompromiss bei der Auflagenzuweisung gestaltete sich fremd-schäm-mäßig nach dem Motto „Wer über- oder unterbietet wen“? 60, 40, 30-Sozialstunden? Ich habe schon zahlreiche Prozesse vor Gericht begleitet. So etwas aber noch nicht erlebt. Im Mittelalter hätten Gerichte möglicherweise das Volk gefragt: „Aufhängen, Verbrennen auf dem Scheiterhaufen oder Vierteilen?“
Ich habe von einem Verfahren berichtet, welches eine Woche zuvor stattfand, mit ähnlichen Vorwürfen gegen einen anderen Angeklagten (dessen Prozess wird am 01.10. am Amtsgericht Kandel fortgeführt). Vor einer Woche noch fehlten Videobeweise in der Gerichtsakte. Bei diesem Prozess, am 10.09., hatte es eine DVD mit Bildmaterial in der Gerichtsakte gegeben, dessen Inhalt den Angeklagten entlastete. Da frage ich mich schon, wie kann sowas sein? Gleicher Tag in Wörth; Personengruppe zuzuordnen, prinzipiell vergleichbare Anklagepunkte und dann eine fast schon diametral von sich abweichende Beweisführung. Was läuft da ab?
Absolut bedenklich wird es, wenn ich die Aussagen und Einlassungen des nicht vereidigten Zeugen der Anklage, eines Polizeikommissar aus Koblenz, nebeneinanderlege. Dieser Polizeibeamte hat meiner Beobachtung nach entweder unwahr am 10.09. ausgesagt bzw. schon eine Woche davor, mit seinen Einlassungen in dem anderen Prozess. Wird so etwas seitens Gericht automatisch abgeglichen?
(Bericht und Kommentar: Christian Ratz)
(*) Name von der Redaktion geändert