Buchbesprechung: betriebliche politische Arbeit mit befreiungstheologischem Hintergrund
Rezension über ein historisches Buch mit Mannheimer und Ludwigshafener Bezügen
Buch über die befreiungstheologische Version der Betriebsintervention
Es wird dem herausgebenden Verlag wohl kaum gefallen, wenn eine Rezension so beginnt, aber ich vermute, die Leserschaft dieses Buches wird begrenzt bleiben. Denn es handelt sich um eine theologische Dissertationsschrift zu entsprechend hohem Preis. Hinzu kommt: Ganz offenkundig handelt es sich bei dem Autor Martin Janik um einen sehr akribisch und fundiert arbeitenden Wissenschaftler; die Vielzahl der zitierten Archivalien und Originaldokumente ist beeindruckend, schmälert allerdings die Lesbarkeit. Das theologische Fachvokabular ist auch dem Sozialwissenschaftler teils fremd. Dabei hat Martin Janik ein hochinteressantes Thema gewählt: Er schreibt die Geschichte des Calama-Projekts und der Projektgruppe Industriearbeit Mannheim-Ludwigshafen von 1968 bis 1998 und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Erschließung der Geschichte von 1968 und der Rolle von Kirche und Religion darin.
Die Mitglieder der verschiedenen Calama-Gruppen lebten und arbeiteten als christlich orientierte Gruppen unter ArbeiterInnen in verschiedenen, vor allem süd- und lateinamerikanischen Ländern: Ein erstes Projekt gab es 1971/72 unter dem Gruppengründer Johannes Caminada in Chile, mit dem Putsch von 1973 wurde dieses zwangsweise beendet. Es folgten Projekte in Peru, Venezuela, Nicaragua, der Dominikanischen Republik sowie ein zweiter Versuch in Chile, aber auch auf den Philippinen, in Kanada, Frankreich, den USA, Belgien und dann auch in Westdeutschland, wo schlussendlich aus der westdeutschen Calama-Gruppe die titelgebende „Projektgruppe Industriearbeit Ludwigshafen-Mannheim“ wurde. Die Grundlage all dieser Projekte war die Frage, „wie Christen in der Gegenwart sich radikal auf die Seite der Armen und Unterdrückten stellen könnten, um an ihrem Kampf zu partizipieren, ohne jedoch die eigene christliche Identität aufzugeben“ (S. 79). Methodisch wandte die Calama-Gruppe eine „dreidimensionale Aktion“ an, die aus „Arbeit, Kommunikation und Reflexion“ bestand: Arbeit hieß dabei Berufstätigkeit sowie Partei- und Gewerkschaftsarbeit. Erst in der Kommunikation und in der gruppeninternen Reflexion finden sich religiöse Elemente wie Meditation und Gebet, aber auch die Buße.
Wenn man wie ich den Großteil seiner politischen Sozialisation im westfälischen Provinznest Münster erfahren hat, ist die Antwort auf die seinerzeit vom Sozialistischen Büro aufgeworfene Frage, „Wie bin ich rot geworden?“ erstaunlich häufig mit Religion und Kirche verbunden: Kaum jemand von den zahlreichen irgendwie links Engagierten aus dem studentischen Milieu, der oder die nicht seine/ihre Jugend als Messdiener, Pfadfinder oder beides verbracht hätte. Münster war auch eine der Städte, in denen das Calama-Projekt seinen Ausgang nahm.1 Der Gründer der Gruppe, Johannes Caminada, lehrte und promovierte in der Zeit um 1968 in Münster und setzte sich vor allem mit der Konferenz von Medellín des lateinamerikanischen Bischofsrats 1968 auseinander. Die in der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils ausgerichtete Konferenz gilt als Geburtsstunde der Dependenztheorie und der Theologie der Befreiung.2
Leninisten mit Gebetsbüchern
In diesem Sinne behandelt Janik die Frage, ob es sich bei dem Calama-Projekt um ein „befreiungstheologisches“ Projekt gehandelt hätte, ausführlich und bejaht diese letztlich, betont aber die „radikale Ausprägung der Befreiungstheologie“ (S. 258). Worin bestand diese „Radikalität“? Zum einen in dem, was die Calama-Gruppe machte: Sie vollzog einen konsequenten Exodus aus der Amtskirche, um, insbesondere in der Anfangszeit aus geweihten Priestern und Ordensmitgliedern bestehend, in einer „Nachfolge Jesu Christie“, unter den „Armen“ zu leben, und das hieß erstens unter den Menschen der „Dritten Welt“, insbesondere in Süd- und Lateinamerika, und zweitens unter IndustriearbeiterInnen – und zwar unter den gleichen Bedingungen („angestrebter Proletarisierungsprozess“, S. 114). Damit war eine Kritik der eigenen elitären Lebensverhältnisse und des eigenen Milieus verbunden – und damit auch die Analyse einer weitgehenden Entfremdung der Amtskirche von den Armen – und zwar durchaus im Wissen darum, dass eine völlige Identifikation nicht möglich wäre: „Wir wollen von diesem neuen Ort aus am Klassenkampf teilnehmen. Es ist jedoch nur eine partielle Identifikation möglich, da wir unsere eigene Geschichte nicht leugnen können und die Lebensweise der Gruppe sich von der normalen Situation der Arbeiter unterscheidet“ (S. 116). Kurz: Die Calama-Gruppe ist als befreiungstheologische Variante der zeitgenössischen Betriebsintervention zu betrachten.
Das gilt auch für den zweiten Aspekt dieser „Radikalität“: eine „extreme Politisierung und Marxismusrezeption“ (S. 258) – Janik spricht durchgehend von „Marxismus“, die Calama-Gruppe ließe sich aber auch in den politischen Kontext der K-Gruppen der 1970er Jahre einordnen. Das – im Verlauf der 1970er Jahre auch drastischer werdende – Vokabular ist dezidiert leninistisch und später auch maoistisch. Trotz teilweise „taktischem Vorgehen“ (S. 250) ist dabei die „schonungslose Offenheit über die Programmatik der Gruppe“ (ebd.) erstaunlich – der Amtskirche wurden die Vorstellungen der Gruppe keineswegs verschwiegen. Angesichts der Programmatik erstaunt die Erteilung offizieller Genehmigungen, teilweise auch Finanzierungen, der Einzelprojekte: Die „Strategischen Prinzipien“ der Gruppe aus dem Jahr 1971 etwa betonen unter Punkt 11 die Option des bewaffneten Kampfes, soweit „das Volk selbst zu den Waffen greift“ (S. 54) – ein offener Widerspruch zur kirchlich-lehramtlichen Position und auch zu der Programmatik von Medellín (S. 163). Das neunte Methodenpapier von 1978 beinhaltete eine leninistische Imperialismus-Analyse. Im gleichen Papier wird auch mehrfach die „Führung“ einer kommunistischen Partei betont und in der Zielsetzung heißt es dann ganz konkret: „Dabei sind die marxistisch-leninistischen Prinzipien und Mao tse tungs Ideen Orientierungslinien für das politische Handeln“ (S. 110). Auch die Methodenhinweise erinnern hie und da an marxistische Gruppen der 1970er Jahre: „Die Kontaktarbeit hat stets einen offensiven, provokatorischen Charakter. Dadurch werden die reformistischen Positionen der möglichen Bundesgenossen oder der möglichen Freunde bloßgestellt und bekämpft“ (S. 151). In diesem Sinne grenzte man sich auch von einer als „reformistisch“ geltenden Theologie der Befreiung ab. Entsprechend gehörte es zum Konzept der Gruppe, sich in Gewerkschaften und Parteien zu engagieren – nicht selten jedoch, ohne dabei den christlichen Hintergrund zu benennen. Fritz Stahl, Mitglied der Calama-Gruppe und Mitbegründer der späteren Projektgruppe Industriearbeit Mannheim-Ludwigshafen (auf dessen Privatarchiv auch ein Großteil der vorliegenden Studie aufbaut), berichtet etwa, wie die KPD/ML in Dortmund seinen christlichen Hintergrund aufdeckte, skandalisierte und ein weiteres Engagement vor Ort unmöglich machte (S. 213).
Man setzte sich also letztlich zwischen alle Stühle, denn selbstverständlich wurden solcherart Positionierungen auch von der Amtskirche nicht unwidersprochen hingenommen – wobei es den Laien erstaunt, dass das Nichtbegehen der Eucharistie für die Kirche offenbar zumindest zeitweise das größere Problem darstellte als die politischen Umsturzabsichten (S. 253-256). Mitte der 1970er Jahre eskalierte der Konflikt zwischen Gruppe und Kirche erstmals in den Niederlanden (angefeuert durchaus auch durch den manchmal cholerisch-polemischen Stil Caminadas), der Streit wurde jedoch beigelegt. Zum Bruch führte erst ein interner Konflikt im Jahr 1980, der die Frage der kirchenrechtlichen Institutionalisierung, der Zentralisierung und eines globalen Aktionismus betraf (S.171-177).
Radikale Christus-Nachfolge
Martin Janik stellt die Entwicklung der westdeutschen Calama-Gruppe ab 1975 in den Mittelpunkt, begleitet von Kurzbiografien der einzelnen Mitglieder. Bestimmend war nicht mehr der Trikont, sondern der Gedanke, die Methoden der Calama-Gruppe auch in der „Ersten Welt“ anwenden zu können – eine Grundlage dafür sah die Gruppe u.a. durch die Arbeitseinwanderung gegeben. Nicht nur die Idee, ‚in die Betriebe zu gehen‘, verbindet die die deutsche Calama-Gruppe mit dem typischen Betriebsinterventionismus der 1970er Jahre, sie teilt auch die Kritik der K-Gruppen an Gewerkschaften und der SPD (S. 200). Trotz dieser Kritik wurde allerdings „die Gewerkschaftsarbeit zu einem, wenn nicht sogar zu dem zentralen Moment der Gruppenaktivität“ (S. 214), einige Mitglieder wurden sogar Betriebsräte. Aus der Projektgruppe Industriearbeit entstand eine Philippinen-Solidaritätsgruppe, die sich im Arbeitskreis „Internationale Solidarität“ des DGB Mannheim engagierte. Bis heute ist der Arbeitskreis „Solidarität mit brasilianischen Gewerkschaften“ im DGB Nordbaden aktiv.
Der zu konstatierende Rigorismus der Calama-Gruppe war weniger dem Christentum geschuldet als dem zeitgenössischen Marxismus-Leninismus der 1970er Jahre. In der Praxis stellt sich die Grundidee der Calama-Gruppe als bis heute gewinnbringend heraus, sei es im Institut für Theologie und Politik (ITP), das die Basis für Aktivitäten von attac und der Interventionistischen Linken in Münster darstellt, oder in bis heute andauernden Aktivitäten der ehemaligen Gruppenmitglieder in Mannheim und Ludwigshafen und vielen ähnlichen Projekten. Eine Nachfolge Jesus’ von Nazareth – gleich ob man ihn nun als „Gottes Sohn“ oder historische Persönlichkeit betrachtet – kann für ein soziales Engagement ausschlaggebend sein. Und, Hand auf’s Herz: Jeder noch so beinharte Materialist wird in seiner persönlichen Biographie einen entsprechenden Ursprung für das soziale Engagement entdecken. In diesem Sinne ist der in den vergangenen Jahren wiederkehrende, oftmals an den eher kruden Szientismus der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts erinnernde Fundamentalatheismus – wenn er auch eine Reaktion auf die Wiederkehr des Religiösen in durchaus unangenehmen Facetten (Evangelikalismus, Rechtsklerikalismus, Djihadismus) darstellt – eine problematische Entwicklung, die eine weitere Spaltungslinie der emanzipatorischen Linken aufmacht.3 Es gibt, das lehrt auch das Beispiel Calama, eine linke Traditionslinie, die das Christentum – oder andere religiöse Traditionen4 – mit einbeziehen kann.
Torsten Bewernitz
Martin Janik: „Die Utopie eines radikalen Ortswechsels der Kirche. Vom Calama-Projekt zur Projektgruppe Industriearbeit Mannheim-Ludwigshafen (1968 – 1998).“ Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2017, 283 Seiten, 54,90 Euro. ISBN: 978-3-17-031917-2.
In diesem Kontext steht dafür exemplarisch die Chile-Solidarität, vgl. Silke Hensel, Barbara Rommé und Barbara Rupflin: Chile-Solidarität in Münster. Für die Opfer der Militärdiktatur (1973 – 1990). Münster 2011.
Vgl. dazu: Martina Kaller-Dietrich: Theologie der Befreiung: Medellín 1968. In: Jens Kastner und David Mayer (Hg.): Weltenwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive. Wien 2008. S. 68 – 82.
Vgl. dazu: Torsten Bewernitz: Anarchistische Arbeiterbewegung und religiöses Denken. Anmerkungen zu einem schwierigen Verhältnis. In: Erich-Mühsam-Gesellschaft: Ni Dieu – ni maître!? Anarchismus und Religion. Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft Heft 39. Lübeck 2013. S. 27 – 58.