Interview mit Klaus Stein (IG Metall Mannheim) über „Zukunft und Gewerkschaften“
Den folgenden Artikel haben wir mit freundlicher Genehmigung von express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, abgedruckt. (Kommunalinfo, die Red.)
“Die Wucht, die wir entwickeln können”
Torsten Bewernitz im Gespräch mit Klaus Stein* über das Projekt »Wir in Mannheim – gemeinsam stark«
In: express 01/2020
T. Bewernitz: Was ist – quantitativ und qualitativ – das Besondere an dem Mannheimer Projekt »Wir in Mannheim – gemeinsam stark«? Unterscheidet es sich von anderen Projekten im Rahmen des baden-württembergischen Gemeinsamen Erschließungsprojekts (GEP)?
K. Stein: Getrieben waren wir von der Einsicht, dass wir, um richtig Fahrt aufnehmen zu können, Organizing im Grunde zu einem gesamthaft gedachten Geschäftsstellenprozess machen müssen. Gesamthaft heißt, über die ganze Breite der Betriebe, statt sich einzelne Betriebe rauszusuchen. Ich habe das früh im Ortsvorstand mit einer Metapher beschrieben: Ich möchte, dass die Betriebe, die nicht bei dem Projekt mitmachen, diejenigen sind, die wie Exemplare einer selten Spezies im Zoo bestaunt werden, und die Betriebe, die mitmachen, die staunende, amüsierte Besuchermenge sind. Ich wollte keine einzelnen GEP-Betriebe haben, die von der Mehrheit der Betriebe, die nach tradierten Beteiligungsformen oder Stellvertreterhabitus vorgehen, als Exoten betrachtet werden.

Klaus Stein, 1. Bevollmächtigter und Geschäftsführer der IG Metall Mannheim wechselt zum 01. April 2020 zum IG Metall Vorstand nach Frankfurt
Wir waren getrieben von der Einsicht, dass der horizontale Spirit und die gegenseitige Bereicherung die wesentlichen Elemente sein werden, und wir es deswegen schaffen müssen, die komplette Geschäftsstelle auf Beteiligung und Organizing zu drehen. Die Wucht, die dadurch entstanden ist, das Solidaritäts- und Gemeinschaftsgefühl, ist, wie ich finde, etwas Besonderes.
Das führte zu einer Debatte, in der klar wurde, dass die Betriebsratsspitzen aller wesentlichen Betriebe in Mannheim diesen Weg mitgehen müssen. Weder Betriebsräte noch IG Metall Mannheim sollten sich auf die Zuschauerbank zurückziehen. Das war schwierig, wurde auch durchaus kontrovers, aber immer solidarisch, diskutiert. Am Ende des Tages sind wir zu einem einstimmigen Beschluss im Ortsvorstand gekommen, beruhend auf der Einsicht, dass wir ansonsten in eine Sackgasse zu geraten drohen, dass die Gefahr besteht, uns zu marginalisieren, weite Beschäftigtengruppen nicht mehr einzubeziehen und unsere Kraft zu verlieren. Wir sind dann extrem schnell in die Umsetzung gegangen. Dabei möchte ich herausstellen, dass es eben nicht nur einer frühen Beteiligung und gemeinschaftlicher und basisdemokratischer Findungsprozesse bedarf, sondern auch einer entsprechenden Führung, die Wert auf die Geschwindigkeit der Umsetzung legt.
Wenn du nicht einzelne Betriebe hast, die du nach den Organizing-Methoden angehst, sondern die ganze Geschäftsstelle, dann kannst du im Grunde auch sehr viel konzentrierter und effizienter mit allen politischen SekretärInnen daran arbeiten.
Wie haben sich denn die Haupt- und Ehrenamtlichen vom Projekt überzeugen lassen?
Erst einmal mit einer wichtigen, schonungslosen Analyse, die ich in Teilen der IG Metall auch heute noch vermisse: Schaffen wir es in den Betrieben und der gesamten Branche, überhaupt mächtig vertreten zu sein, und wie sieht der Organisationsgrad dort, wo wir vertreten sind, aus? Wir merken, dass wir selbst in den Betrieben, in denen wir ein Mitgliederplus haben, in vielen Fällen sinkende Organisationsgrade haben, weil wir es mit den tradierten Methoden eben nicht schaffen, auch in signifikante Beschäftigtengruppen reinzukommen oder sie zu halten. Insofern lügt sich die IG Metall manchmal in die eigene Tasche angesichts des Mitgliederzuwachses, den sie in den letzten Jahren erlebt hat. Denn der Beschäftigtenaufbau in vielen Branchen war wesentlich größer als das Mitgliederplus. Wenn ich das bezirks- und bundesweit feststelle, dann trifft das auch für die Geschäftsstelle zu. In den Betrieben, die wir vertreten, haben wir zusammengerechnet ein Potential von 8.000 Beschäftigten, die noch nicht Mitglied sind. Das anzuerkennen war bei den Ehrenamtlichen ein wesentlicher Wegbereiter, um ein Problembewusstsein dafür herzustellen, dass wir grundsätzlich unsere bisherigen Methoden, aber auch die Struktur der Organisation und ihre strategischen Auswirkungen betrachten müssen.
Zweiter Punkt: Den betrieblichen ProtagonistInnen geht es nicht gut in einer zunehmenden Gehetztheit durch die Arbeitgeber, dem daraus resultierenden Fehlen eigener Themensetzungen und der zunehmenden Kritik aus den Belegschaften nach der Aushandlung von Kompromissen. Wir haben im Grunde ein tiefes Bedürfnis bei den KollegInnen, wieder mehr Nähe von Belegschaft und Organisation zu haben, als Gewerkschaft anerkannter und akzeptierter zu sein. Wenn man das erreichen möchte, muss man mehr auf Beteiligung setzen, Aushandlungsprozesse wesentlich transparenter – damit aber auch schwerfälliger – gestalten. Darüber, dass wir zeigen konnten, dass es dafür gute Methoden und eine leicht zu erlernende Methodenkompetenz gibt, haben wir es geschafft, dass zum Beispiel Betriebsversammlungen heute – nicht einmal ein Jahr später – selbst in den großen Betrieben wie bei Benz auf dem Waldhof oder bei John Deere mit einem anderen Blick und Selbstverständnis angegangen werden: Die Teilnahme steigt, die KollegInnen werden beteiligt, und die Vertrauensleute haben wieder einen anderen Stellenwert erlangt. Weil sie eben nicht mehr nur die Briefträger des Betriebsrates sind, sondern weil sie nicht nur das Gefühl, sondern auch den lebenden Beweis haben, dass sie bei Schwerpunktsetzungen und Themen schon im Aushandlungsprozess beteiligt sind.
Noch mal einen Schritt zurück: Von 2015 bis 2018 wurden im GEP Baden-Württemberg 6.800 neue Mitglieder bezirksweit gewonnen, ihr habt jetzt in einem Jahr in einer Geschäftsstelle über 1.700 geschafft. Da merkt man ja schon auch einen quantitativen Unterschied.
Ja, wir haben, obwohl wir keine Tarifrunde hatten, obwohl mit General Electric ein Großbetrieb seine Produktion geschlossen hat, obwohl wir also im Bestand verloren haben, derzeit eine stabile Mitgliederzahl. Es war für uns schon ein Erfolg, die Mitgliederzahl bei ca. 28.000 zu halten, weil wir selbst dafür extrem viel tun müssen. Und es ist erst Recht ein Erfolg, wenn ich an die neu erschlossenen Betriebe mit den vielen Hochqualifizierten denke. Es geht eben nicht nur um die Frage der Steigerung der Mitgliedszahlen, sondern es geht um die Steigerung der Politik- und Durchsetzungsfähigkeit, und dort haben wir, wenn ich mir die betrieblichen Aushandlungsprozesse anschaue, deutlich zugelegt.
Der Höhepunkt des Projekts war der »Blitz« im Mai 2019, drei Tage, in denen etwa 100 neue Mitglieder geworben wurden. Bei insgesamt 1.700 heißt das ja, dass die Aktiven, die Ehrenamtlichen, den Großteil, nämlich 1.600 Mitglieder, im betrieblichen Alltag gewonnen haben.
Ja, auch über die Frage der Tariffähigkeit von einzelnen Betrieben, bei der wir sehr koordiniert in die Diskussion mit den Belegschaften gegangen sind und sehr klar auch deutlich gemacht haben, dass erst beim Erreichen eines bestimmten Organisationsgrads die Fähigkeit für eine konfliktorientierte Durchsetzung von tariflichen Inhalten gegeben ist.
Insofern ist das natürlich auch die Vorbereitung auf die Tarifrunden 2020. Was sind das genau für Betriebe?
Wir haben einen Betrieb der Kontraktlogistik, wir haben einen anderen Betrieb, Leica, aus dem Bereich der Feinoptik, mit einem extrem hohen Anteil von hochqualifizierten Beschäftigten, die sich nicht geziert oder gescheut haben, zweimal mit roten Kappen vor dem Büroeingang zu stehen und zu streiken. Insofern möchte ich allen sagen, die meinen, man müsste mit einer besonderen Expertise in solche Bereiche hinein, dass unsere Erfahrungen da völlig andere sind. Es ist eher die Frage des gegenseitigen Öffnens und der Akzeptanz und weniger die Frage, über eine ausgewiesene Fachexpertise akzeptiert werden zu wollen. Es geht eher um den generalistischen Blick und es geht eher um die grundsätzliche Frage, dass wir allen Beschäftigtengruppen auch die Möglichkeit geben, sich zu beteiligen – dann treten die Leute auch ein. Man verlangt von uns weniger eine ausgesprochene Fachnähe, als vielmehr ein solides Grundwissen, eine gute Empathie und die Fähigkeit, durchsetzungsfähig bezüglich ihrer tariflichen und betrieblichen Arbeitsbedingungen zu sein.
Was hat euch in dem Projekt am meisten überrascht?
Was dieses Projekt mit einem selbst gemacht hat. Ich habe enorm viel Kraft, Zuversicht, Vertrauen in die Zukunft und auch in die Stärke der IG Metall geschöpft, und wenn ich mir die Arbeit der Hauptamtlichen heute betrachte, sind wir in weiten Teilen sehr viel direkter bei den arbeitenden Menschen im Betrieb über alle Beschäftigtengruppen hinweg. Das ist wohltuend, denn es erdet täglich auf’s Neue und schafft gegenseitiges Vertrauen.
Zum zweiten hat mich überrascht, wie groß die Wucht sein kann, die wir entwickeln können, wenn wir die komplette Geschäftsstelle auf diese Elemente fokussieren und wie enorm groß die gegenseitige Bereicherung von Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen war; aber auch, wie deutlich die Situation von Ängsten vieler Beteiligter geprägt war, kurz bevor wir beispielsweise zu aktivierenden Befragungen rausgegangen sind, und wie enorm die Erleichterung anschließend war, nachdem es ausnahmslos in allen Betrieben geglückt ist. Das zeigt mir, wie groß teilweise die Kluft und gegenseitigen Vorbehalte zwischen Belegschaften und Betriebsräten oder auch Vertrauenskörperleitern waren.
Das Projekt war ja nun erst mal auf ein Jahr begrenzt. Danach kommt nun die Tarifrunde. Hast du oder hat die IG Metall Mannheim eine Vorstellung, wie man das Projekt verstetigt, wie es weitergehen soll?
Wir haben darüber eine breite Debatte geführt, im Kreis der SekretärInnen und gemeinsam mit dem GEP-Team. Das GEP-Team sehe ich als integralen Bestandteil, auch über die Fachexpertise in der Methodenkompetenz, ohne die es uns nie gelungen wäre, dahin zu kommen, das will ich noch mal ausdrücklich betonen.
Klar ist, dass wir in der projekthaften Struktur bleiben, aber auch, dass wir die strategisch-methodische Herangehensweise verstetigen. Insofern war das Folgeprojekt schon die Art, wie wir die Vertrauensleutewahlen durchführen. Wenn man das ernst nimmt, braucht man viele Wochen, um basisdemokratisch die besten KandidatInnen zu suchen, diese dann auch zu entwickeln, ihnen die Gelegenheit zur Entfaltung zu geben. Projekte sind immer dann gut, wenn man sie gesamthaft denkt unter Miteinbeziehung der Rahmenbedingungen und aller Elemente, und insofern führen wir heute in einem Gutteil unserer Aktivitäten nur noch Projekte durch, verstetigen aber über die Methodenkompetenz natürlich unsere strategischen Herangehensweise.
Wie hat denn die IG Metall insgesamt, bezirks- und bundesweit auf euren Erfolg reagiert? Und glaubst du, dass das Beispiel Schule machen wird?
Ich glaube, dass die IG Metall in Gänze eine große Chance hat, und wir stellen in einem zunehmenden Maße fest, dass sie durchaus veränderungsbereit ist. Die Kunst wird sein, nicht in die Situation zu kommen, uns in bester Absicht selber im Wege zu stehen. Wenn ich das letzte Jahr Revue passieren lasse, muss ich die Kompatibilität zu dem Rest der Organisation in weiten Teilen in Frage stellen, weil wir mit vielem von dem, was man meinte, uns Gutes tun zu wollen, nichts anfangen konnten. Warum? Weil betriebliche Findungsprozesse keine Rücksicht auf zentral gesteuerte Kampagnen nehmen, die in weiten Teilen nicht nachhaltig durchführbar sind. Die Kampagnenmaterialien landen oft – unter Tränen! – in den Mülltonnen der Betriebsratsbüros, oder auch in der Geschäftsstelle (schmunzelt). Die Organisation hat für mich mittel- und langfristig eine Chance, wenn sie sich diversifiziert, wenn sie in der Lage ist, sich in den Urfesten ihrer organisatorischen Aufstellung in Frage zu stellen, und wenn wir zu der Erkenntnis kommen, dass wir sehr viel stärker auch punktgenau vor Ort auf die Bedürfnisse in betrieblichen Aushandlungsprozessen und -konflikten mit ganzheitlichen Konzepten aus dem Vorstand, der Bezirksführung, der Geschäftsstelle reagieren können, um eben Menschen in ihrem Tun zu unterstützen, statt stellvertretend zu handeln und die Menschen treu und brav weiterarbeiten zu lassen.
Das ist überhaupt nicht feindselig aufgenommen worden. Eher bestaunt, abwartend, sich interessiert verhaltend. Wir wollen als IG Metall Mannheim mit Hilfe des GEP-Teams unser Profil schärfen und in aller Brüchigkeit und mit allen Rückschlägen, die auch dieses Projekt hat, durchaus noch mal bundesweit in die Offensive kommen – nicht um den Beweis anzutreten, dass wir die Besten wären, das sind wir nämlich nicht, sondern um auch ein bisschen Ankerpunkt sein zu können für diejenigen, die heute noch an der Organizing-Idee zweifeln. Das wollen wir auch über ein bundesweites Forum, das wir Ende März gemeinsam mit dem Projekt »Die IG Metall vom Betrieb aus denken« anbieten wollen, um zu vermitteln, um einfach zu sagen: Lasst uns jenseits der Funktionsbereichsstrukturen des Vorstands Debattenräume finden, um auch aus dem Blick der Fläche noch mal klären zu können, wo wir denn eigentlich Veränderungsbedarf in der IG Metall haben und wie wir diesen Prozess möglichst produktiv begleiten wollen. Das ist, wie ich finde, ein Privileg für Bevollmächtigte, für Ortsvorstände, für Geschäftsstellen, aber es ist auch eine Verpflichtung, sich in diesen Prozess einzubringen, und durchaus sehr offen auch erst einmal einzugestehen, dass wir natürlich in weiten Teilen auch von einem Blick leben, der manchmal nur noch wenig mit der Realität zu tun hat.
* Klaus Stein ist bis dato noch Geschäftsführer der IG Metall Mannheim, ab dem 1. April wird er Personalleiter der bundesweiten IG Metall sein.

















