Mannheim: “Free Palestine” Demonstration gegen den Krieg in Gaza – aber wofür eigentlich? [mit Bildergalerie und Video]
In Mannheim haben am Samstagnachmittag zahlreiche Menschen gegen den Krieg im palästinensischen Gaza-Küstenstreifen demonstriert. Die Gruppe “Free Palestine Mannheim” hatte dazu aufgerufen. Die Demonstration zog lautstark vom Alten Messplatz in die Innenstadt und endete auf dem Marktplatz.
Vorgeschichte
Seit etwas mehr als vier Wochen tobt nun in Gaza der Krieg. Die erneute Eskalation begann mit einem Terrorangriff der in Gaza regierenden Hamas auf Israel, bei dem nach israelischen Angaben 1400 Menschen starben, die meisten davon Zivilist*innen. Mehr als 200 Menschen wurden als Geiseln nach Gaza verschleppt. Die israelische Armee begann daraufhin mit massiven Bombardierungen, es folgte eine militärische Bodeninvasion. Laut palästinensischen Behörden hat der Krieg bereits mehr als zehntausend Palästinenser*innen das Leben gekostet, die meisten im dicht besiedelten Küstengebiet sind Zivilist*innen, darunter viele Kinder. Hamas hat ihre militärischen Anlagen mitten in den Wohngebieten. Die Menschen sind in Gaza eingeschlossen und können nicht fliehen.
In Mannheim gab es seit Beginn des Krieges mehrere Kundgebungen: proisraelische, die den Terror der Hamas verurteilten und die Freilassung der Geiseln forderten und propalästinensische, die gegen die militärischen Angriffe auf Gaza und die Unterstützung durch Deutschland protestierten. Auch das Friedensbündnis hatte eine Kundgebung veranstaltet und beide Seiten aufgerufen, die Gewalt zu beenden.
Zunächst wurden propalästinensische Kundgebungen durch die Versammlungsbehörde verboten, dann unter strengen Auflagen genehmigt. Die Veranstaltung am 11. November war nun die erste große Demonstration nach mehreren stationären Versammlungen.
Eindrücke von der Demonstration im Video | Link zu Youtube: https://youtu.be/WI3xkqURl98
Demonstrationsrecht unter polizeilicher Beobachtung
Auf dem Alten Messplatz sprach dann auch zu Beginn ein Anwalt zum Thema Verbote und Repression gegen die propalästinensische Bewegung. Zunächst führte er Deutschland wegen seiner Israelsolidarität als Staatsräson anhand des eigenen Umgangs mit ehemaligen Nazi-Verbrechern vor “Das ist die deutsche Erinnerungskultur und nichts anderes”. Als Beispiel nannte er den Heidelberger OB Neinhaus, NSDAP Mitglied, später CDU und dann mit Großkreuz des Verdienstordens und Ehrengrab geehrt. In Richtung Polizei las er aus dem Grundgesetz vor und kommentierte “da steht nirgendwo, dass das für Palästinenser nicht gilt.”
Gegen 16:30 Uhr setzte sich der Demonstrationszug in Bewegung. Die Polizei begleitete die Veranstaltung mit viel Personal, hielt aber Abstand und schloss den Demonstrationszug nicht komplett ein.
Der Veranstalter hatte den Teilnehmer*innen zur Auflage gemacht, ausschließlich Palästina-Fahnen mitzuführen. Fahnen anderer Nationen oder Organisationen waren verboten. Auf mitgeführten Schildern, viele in englischer Sprache, war beispielsweise zu lesen “Killing children is not self defense”, “End the genocide” oder “The rockets may be above us, but they have forgotten, ALLAH ist above them”.
Vom vorausfahrenden Fahrzeug wurden während des gesamten Demonstrationszugs Parolen vorgegeben, die von der Menge nachgerufen wurden. “Free Palestine”, “In Gaza gehen Kinder drauf”, “Netanjahu treib dich fort”, “Deutsche Medien lügen” und viele weitere.
Wassermelonen und Holocaust
Der gesamte optische und akustische Ausdruck der Versammlung bezog sich konkret auf die Ereignisse in Gaza. Religiöse Zeichen und Symbole anderer Nationen und Organisationen waren weniger zu sehen, als bei vorherigen Veranstaltungen.
Auf mehreren Schildern war eine Wassermelone abgebildet, ein Symbol des Widerstands, das sich in Israel etablierte, als die israelische Regierung das Zeigen der palästinensischen Fahne verboten hatte (1967 bis in die 90er Jahre und wieder seit Januar 2023). Die Wassermelone hat die selben Farben: Grün, Weiß, Schwarz und Rot.
Die Demonstration zog vom Marktplatz zum Paradeplatz, über die Kunststraße, zurück über die Planken und wieder zum Marktplatz. Dort fand eine Abschlusskundgebung statt. Die meisten Redebeiträge schlugen nationalistische Töne an. Auch wenn man es selbst nicht mehr erleben werde, so eine Rednerin in englisch, so könne man die Idee eines freien Palästinas nicht töten und irgendwann würden es unsere Kinder einmal erleben. Ein anderer Redner prophezeite “Wir werden das Buch der Geschichte schreiben.” Die deutschen Politiker “ohne Charakter” seien schon bald vergessen.
Der Veranstalter sagte bei der Abschlusskundgebung, es hätten sich 5000 Menschen beteiligt. Ein Polizeisprecher sprach gegen Ende von 2000 Personen. Größere Polizeieinsätze gab es nicht. Eine Frau, die ein Schild mit der Aufschrift “Stop Holokaust in Gaza” (sic) dabei hatte, durfte dieses nicht mitführen. Am Rande der Demo konnten zwei kleinere Störungen Einzelner beobachtet werden, vermutlich aus der rechten Ecke.
Gegen den Krieg – aber wofür eigentlich?
Alle inhaltlichen Beiträge kritisierten die israelische Regierung, die deutsche und US-amerikanische Unterstützung für Israel oder die deutschen Medien, die Lügen verbreiten würden. Kritik an den Gewalttaten der Hamas wurde von niemandem am Mikrofon geäußert. Die ca. 200 israelischen Geiseln, die immer noch von der Hamas gefangen gehalten werden, erwähnte keiner.
Überhaupt gab es keinerlei Auseinandersetzung mit der politischen Situation innerhalb der palästinensischen Autonomieregionen oder der internationalen Unterstützung des Konflikts, zum Beispiel durch Hisbollah, Türkei oder Iran. Die Nicht-Thematisierung solcher zentraler politischer Fragen dürfte unter anderem der Repression in Deutschland geschuldet sein.
Seit kurzem sind die Organisationen Hamas und Samidoun verboten. Wer sich positiv darauf bezieht, kann sich wegen Unterstützung strafbar machen. Auch die zahlreichen Auflagen der Versammlungsbehörde führten zu einer faktischen Selbstzensur der Veranstalter*innen. Einerseits bleiben so der Öffentlichkeit antisemitische Exzesse erspart, andererseits wird es schwieriger, die propalästinensische Bewegung politisch einzuschätzen.
Krieg verwischt die Unterschiede
Die Nicht-Thematisierung der innenpolitischen Situation in Palästina lässt verschiedene Deutungsweisen offen. Entweder stehen alle Teilnehmer*innen geschlossen und unkritisch hinter der Hamas – das scheint eher unwahrscheinlich. Kritische Redebeiträge oder auch Botschaften auf Schildern gegen die Hamas wären aber rechtlich unproblematisch gewesen.
Die Mitglieder der palästinensischen Community könnten auch einen langen Arm der Hamas, der bis nach Deutschland reicht, fürchten, so dass sich niemand traut, gegen die konservativ-islamische Diktatur in Gaza den Mund aufzumachen.
Wahrscheinlicher ist aber die Bemühung um ein Bild der Geschlossenheit. In Kriegszeiten wird der Nationalismus allmächtig und politische Unterschiede geraten in den Hintergrund. Nicht nur bei den Palästinenser*innen ist das so, auch in Israel muss dies beobachtet werden. Noch vor zwei Monaten gab es massive Proteste gegen die Regierung Netanjahu. Mit dem Krieg sind diese verstummt und die Opposition hat sich mit den rechts-religiösen zur Einheitsregierung als Kriegsregierung zusammen geschlossen.
Der “Zwei-Staaten-Kompromiss” scheint in weiter Ferne
Die Forderung nach einer Zwei-Staaten-Lösung spielte auf der Demo praktisch keine Rolle, obwohl sie seit vielen Jahren von internationalen Vermittler*innen als Kompromisslösung angestrebt wird. Nur eine kleine Delegation der linken deutsch-türkischen Organisation DIDF verteilte entsprechende Flugblätter und trug ein Schild mit der Forderung “Zweistaatenlösung sofort”.
Die arabische und muslimische Identität dürfte bei den meisten weiterhin der kleinste gemeinsame Nenner innerhalb der Bewegung sein. Unterstützung aus der nicht arabisch geprägten Bevölkerung, auch aus der linken Szene, gab es nur vereinzelt.
Während bei vergangenen Veranstaltungen von “Free Palestine” die Religion klar im Vordergrund stand – am 28. Oktober wurde auf dem Marktplatz noch zwischen jedem Rebeitrag “Alahu Akbar” gerufen – tritt die Gruppe nun zurückhaltender, säkularer und weniger aggressiv auf. Damit wird sie potentiell anschlussfähiger.
Kurz vor Schluss kam ein junger Rapper auf die Bühne, der ein Stück für die Demo geschrieben hatte. Er sagte mit seinem Text, dass ihm neben den palästinensischen Opfern auch die israelischen Opfer leid tun. Es war der erste, der das auf dieser Bühne geschafft hatte. (cki)
Bildergalerie zur Demonstration “Free Palestine” am 11. November 2023 in Mannheim