Schockierende Abschiebung in der Neckarstadt-West – Wer ist verantwortlich?
Die Frage der Verantwortlichkeit wird im zweiten Teil des Artikels erörtert. Zunächst zum Hergang der Abschiebung selbst, die nicht allen Leser*innen bekannt sein dürfte, die aber im Mannheimer Morgen vom 15. und 17. Dezember relativ ausführlich beschrieben worden ist.
Am 10. Dezember wird eine fünfköpfige albanische Familie, die in Mannheim wohnt, mit einer Polizeiaktion, die viele Menschen schockiert, abgeschoben. Ohne vorher Bescheid zu wissen, werden die Familienangehörigen von zu Hause, von der Arbeit, von der Schule und aus dem Kindergarten abgeholt.
Besonders die Polizeiaktion in der Gemeinschaftsschule in K5 und im Kinderhaus St. Michael in der Neckarstadt-West sorgten für Aufregung. Aus einer 6. Klasse der K5-Schule wurde der 11-jährige Schüler mitten aus dem Unterricht von uniformierten Polizisten „in voller Montur“ geholt. „Ich sollte ein Kind aus der Klasse nehmen – wovon ich vorher noch gar nichts wusste“, berichtet die fassungslose Schulleiterin Brigitta Hillebrandt. Das Kollegium sei empört. Der Junge habe geweint, die Klasse sei sehr betroffen. Zwei Lehrer und die Sozialarbeiterin seien zwei bis drei Tage damit beschäftigt, die Kinder zu beruhigen. Ein Teil der Aufarbeitung bestand darin, einen Protestbrief an Ministerpräsident Kretschmann zu schreiben. Empörung auch im Kinderhaus. „Ich habe vorher sowas noch nicht erlebt“, das war für uns ein schock“, so der Leiter des Kinderhauses, Jörg Ohrnberger.
Sowohl Hillebrandt als auch Ohrnberger können nicht verstehen, warum gerade diese Familie abgeschoben worden ist. Die Eltern würden beide im Pflegebereich arbeiten. Der Junge sei seit der 5. Klasse im der K5-Schule, sehr fleißig und spreche sehr gut deutsch. „Das ist ein Beispiel für eine gelungene Integration“, so die Schulleiterin.
Ähnliches hört man vom Kinderhaus. Der Leiter habe sogar in einem Gutachten, für die Bundesaußenstelle für Migration und Flüchtlinge bescheinigt, das das sechsjährige Mädchen schnell und gut gelernt habe. Die Familie habe sich im Kinderhaus sehr engagiert.
Protest
Gegen die Umstände der Abschiebung haben sich inzwischen einige Politiker der Grünen und der SPD gewandt. Der grüne Landtagsabgeordnete Uli Skerl aus Weinheim fordert, dass künftig keine Kinder aus Schulen und Betreuungseinrichtungen abgeschoben werden dürfen. Das Vorgehen sei nicht zu akzeptieren. Ähnlich äußerten sich die Mannheimer Landtagsabgeordneten Elke Zimmer (Grüne) und Boris Weirauch (SPD). Ministerpräsident Kretschmann müsse Stellung beziehen, so Weirauch. (MM 17.12.2018)
Rechtfertigung der Polizeiaktion
Die Polizei rechtfertigt ihr Vorgehen unter anderem damit, das der Zugriff ohne Ankündigung erfolge, damit ein Abtauchen der Personen verhindert wird. Zur Entschuldigung der Polizei sei von unserer Seite angemerkt, dass die Bundespolitik durch eine Gesetzesänderung dieses Vorgehen explizit ermöglicht hat. Vorher sind Abschiebungen im Vorfeld angekündigt worden. Nicht immer waren die Abzuschiebenden zu einer freiwilligen Ausreise bereit und daheim anzutreffen. Norbert Schätzle, der Polizeisprecher, erwähnt, dass der Mannheimer Fall „kein Einzelfall“ sei.
Wer ist verantwortlich?
„Kein Einzelfall“ – diese Aussage ist insofern interessant, weil sie im Gegensatz zu Äußerungen des baden-württembergischen Staatssekretärs Martin Jäger (CDU) stehen. Dieser hatte gegenüber der Öffentlichkeit schon vor über einem Jahr behauptet, dass keine Kinder durch die Polizei aus dem Unterricht abgeholt werden würden, um sie abzuschieben. Das sei „grundsätzlich auch zukünftig nicht geplant“, so Jäger gegenüber der Lehrergewerkschaft GEW (epd 06.08.2017). Diese Äußerung ist Teil eines Briefes. Darin protestiert er gegen eine „Handlungsanleitung bei drohender Abschiebung eines Kindes oder eines Jugendlichen“, gemeinsam herausgegeben von der GEW und dem Flüchtlingsrat Baden-Württemberg. In dieser Handlungsanleitung geht es um die Frage, inwieweit Schulen bei der Abschiebung helfen müssten. Die Broschüre kommt zu dem Ergebnis, dass keine Kooperationspflicht der Lehrer gegeben sei. Im Gegenteil, §87 Aufenthaltsgesetz, in dem die Übermittlung von Daten an die Ausländerbehörden geregelt ist, nimmt öffentliche Schulen und Bildungseinrichtungen ausdrücklich aus. Die GEW schließt daraus, dass Abschiebungen aus dem Unterricht heraus nicht vorgenommen werden dürfen. Lehrer und Schulleitungen sind befugt, von Abschiebung bedrohte Schüler entsprechend zu warnen, ggf. Rechtsanwälte und die Öffentlichkeit zu informieren.
Ein ähnlicher Leitfaden gegen Abschiebungen aus Schule und Betrieb hat auch die GEW in Bayern verfasst. Gegen diesen „Aufruf zum Rechtsbruch“ sind sowohl in Bayern als auch in Baden-Württemberg Politiker vor allem aus der CDU/CSU Sturm gelaufen. Worin dieser „Rechtsbruch“ besteht, wurde trotz Aufforderung durch die GEW allerdings nie konkretisiert. Anscheinend geht es hier nur um die Einschüchterung der Lehrerschaft.
Bezogen auf das Mannheimer Ereignis stellt sich nun aber die Frage: Wenn die Abschiebung in Mannheim kein Einzelfall war, dann gibt es die Rechtspraxis der Abschiebungen aus Schulen auch anderswo in Baden-Württemberg.
Wer sagt hier die Wahrheit? Der Polizeisprecher Norbert Schätzle oder der Innenstaatssekretär Martin Jäger?
Abschiebung alternativlos?
Bzgl. des Protests aus Reihen der Politiker von Grünen und SPD ist kritisch anzumerken: Wer glaubwürdig eine andere Asylpolitik vertritt, sollte gegen gängige Praxis im Bund und im Land vorgehen. In Berlin ist die SPD an der Bundesregierung beteiligt, in Baden-Württemberg stellen die Grünen mit Winfried Kretschmann sogar den Ministerpräsidenten.
In NRW durfte in einem ähnlichen Fall eine nach Nepal abgeschobene Schülerin nach Protesten von Schülern, Eltern und Lehrer und der Politik mit einem Schüleraustauschvisum wieder einreisen, die Eltern durften aus humanitären Gründen ihre Tochter begleiten. Warum sollte in Mannheim sowas nicht möglich sein? Auch wenn Albanien als sicheres Herkunftsland gilt. Die Familie hat sich gut integriert und ist offensichtlich eine Bereicherung für unsere Gesellschaft. Hier muss der Härtefall gelten!
Die Handlungsanleitung der GEW und des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg erfährt durch die Ereignisse in Mannheim eine Bestätigung. Abschiebungen aus Schulen und Bildungseinrichtungen sind unrechtens und inhuman und folglich auch nicht zu unterstützen.
Hier hat auch die Stadt Mannheim eine Verantwortung, da sie laut Schulgesetz Träger der öffentlichen Schulen in Mannheim ist.
(Roland Schuster)