GeSTRESSte Unterhaltung: Das Leben in der Neckarstadt-West als Youtube-Vlog
STRESS heißt ein Vlog (Video-Tagebuch) des COMMUNUTYartCENTER, der seit Oktober in wöchentlichen Beiträgen den Alltag in der Neckarstadt-West thematisiert. Die Videos erscheinen – wo sonst – bei Youtube. Doch anders als übliche Vlogs ist STRESS wie eine Bühnenproduktion mit Schauspieler*innen, Drehbüchern, Szenenbildern, Sounddesign und durchdachten Konzepten gemacht. Man könnte von einem gespielten Vlog sprechen, denn dieses ungewöhnliche Konzept wirkt auch genauso: Wie ein Fremdkörper in der Welt der seichten Youtube-Unterhaltung.
Zukunft der Arbeit
Drehbuchautorin Anette Dorothea Weber vom COMMUNITYartCENTER hat sich von realen Erlebnissen im Stadtteil inspirieren lassen und eine fiktive Geschichte ausgedacht. Das COMMUNITYartCENTER ist seit einigen Jahren in der Neckarstadt mit Kunst- und Kulturprojekten aktiv und bearbeitet in diesem Jahr einen thematischen Schwerpunkt: Die Zukunft der Arbeit. „Das Thema hat im Stadtteil große Relevanz, gerade für die jüngere Bevölkerung“, sagt Weber. STRESS schließt nahtlos an die Installation „HURRA! – Die Arbeit ist weg!?“ an, die im Mai und Juni in den Räumen des COMMUNITYartCENTER zu sehen war.
Für STRESS wurden neue Wege bestritten. „Demokratieförderung ist einer der großen Schwerpunkte unserer Stiftungen“ berichtet die künstlerische Leiterin und ergänzt, dass die Nutzung moderner Medien ausdrücklich unterstützt werde. Die Drehs zur Serie seien eine neue Erfahrung gewesen. Obwohl die Erstellung von Drehbuch und Storyboard sehr aufwendig gewesen sei, habe es dennoch viel Raum für Improvisation gegeben. „Professionelle Schauspieler und Laiendarsteller kamen zusammen. In kurzer Zeit und fast ohne Proben wurde gedreht. Da musste einfach improvisiert werden.“
Alltag in der Neckarstadt-West
Die Handlung dreht sich um drei sehr unterschiedliche Lebensgemeinschaften, die in der Neckarstadt-West leben. Irgendwie kennen sich alle und sind im Stadtteil miteinander verbunden. Die Jugendliche Lia ist mit ihren zwei Müttern gerade neu in eine Eigentumswohnung gezogen und will selbst gerne ein Youtube-Star werden. Ihr Freund Alex wohnt in der Nähe mit seiner “Assi-Familie”, wie er selbst sagt. Chronischer Geldmangel bestimmt das Leben der Patchworkfamilie. Während sich die meisten von einem prekären Job zum nächsten hangeln, versucht Lias Bruder Mario mit krummen Geschäften der Perspektivlosigkeit zu entfliehen. Darunter leiden die Youtuber Sibel und Chris, die hinter dem schönen Schein ihrer Hochglanz- und Lifestyle-Vlogs ums finanzielle Überleben kämpfen. Über allen schwebt das scharfe Schwert der Immobilenhaie. Die fiktive „Babylon Gruppe“ kauft Häuser im Stadtteil auf. Ständige Angst vor Veränderungen und Wohnungslosigkeit treibt die Menschen zu ungewöhnlichen Dingen an.
Viel Stoff für die 10-15 minütigen Videoclips und noch mehr Stoff für seichte Youtube-Unterhaltung. Aber genau das ist es nicht. STRESS ist der Anti-Vlog zwischen den zahllosen Beauty-, Lifestyle-, Gaming- und Feelgood-Shows der sogenannten Influencer. Das wiederum wird zum Problem. Wer soll STRESS eigentlich anschauen? Dazu später mehr.
Kleiner Vorgeschmack auf die Serie im Trailer: STRESS bei Youtube
Zuschauen bedeutet hier Stress
In zwei Bereichen trumpft die Serie regelrecht auf. Da ist einerseits die inhaltliche Vielfalt. Selten wurden auf so engem Raum dermaßen viele Themen abgearbeitet oder zumindest angesprochen: Gentrifizierung und Stadtteilentwicklung, Prekarisierung, Gewerkschaft und die Zukunft der Arbeit, Wohnen in Zeiten der Immobilienspekulation, Wohnen in alternativen Formen, politisches Engagement und Ehrenamt, moderne Medien, Überwachung und Kontrolle, Rassismus und Rechtspopulismus, Antisemitismus und Reichsbürger, Religion, Homophobie und und und…
- Die Protagonist*innen laufen sich in der Neckarstadt immer wieder über den Weg.
- Jede*r scheint jede*n zu kennen.
- Und alle haben Stress miteinandern.
Dermaßen viel Stoff in die Serie zu pressen führt zwangsläufig zur Überfrachtung des Formats. So entsteht auch beim Zuschauer schnell der namensgebende Stress. Das muss nicht unbedingt verkehrt sein, wenn man ihn als Stilmittel akzeptiert. Es ist schnell, es ist laut, es ist hektisch und es sind viele Namen, Gesichter, Handlungen, Beziehungen, Netzwerke und Hintergründe, die ein aufmerksames und konzentriertes Zuschauen unbedingt notwendig machen.
Die Kritik steckt im Detail
Die zweite Stärke der Serie ist die Liebe zum Detail. Anders als es bei den beliebten und erfolgreichen Youtubern üblich ist, wird STRESS keinesfalls spontan gedreht. Dem Ganzen liegt ein durchdachtes Drehbuch zu Grunde. Den Schauspieler*innen, den Szenen und der Inszenierung sieht man an, das die Herkunft der meisten Beteiligten offensichtlich das Theater ist. Der intellektuelle Background wird nicht verheimlicht. Protagonistin Margot wirft mit ihren Zitaten von Ernst Bloch, Hannah Arendt und Oskar Negt regelrecht um sich. Philosophische und politische Kommentare ziehen sich als Stilmittel durch die komplette Serie. Daher wirkt STRESS in seinem natürlichen Umfeld der Vlog-Kultur alles andere als authentisch. Es wird schnell klar: Die Bühne hat einen Ausflug nach Youtube gemacht hat.
Dennoch glänzt STRESS mit viel Wissen über die Welt der Influencer und schafft es, kluge Kritik an modernen Medien mit viel Liebe zum Detail einzubinden. Es macht sogar Spaß, den langen Abspann nach jedem Video bis zum Ende anzuschauen und in den vermeintlichen Videovorschlägen originelle Anspielungen auf die Welt der Klicks & Likes zu entdecken. Und der Soundtrack: Die Songs von Spermbirds, Sookee, Chaoze One, Irie Révoltés und Markus Sprengler passen trotz großer Genre-Unterschiede immer zum Inhalt und zeigen, dass sich alternative und linke Künstler*innen auch musikalisch mit den Problemen unserer Zeit auseinandersetzen.
Eher Geheimtipp als Influencer
Kommen wir noch einmal auf die eingangs erwähnte Frage: Wer soll das eigentlich schauen? Oder anders gefragt: Wer ist die Zielgruppe dieses Formats? Die intellektuelle, politische Bühne dringt wie ein Fremdkörper in die Welt der Lifestyle Vlogs bei Youtube ein. Influencer kämpfen um Millionen-Klickzahlen. Konzerne stecken große Summen ihres Werbeetats in die populärsten Serien. Natürlich ist es das unumgängliche Schicksal einer Serie wie STRESS in dieser Welt unterzugehen.
„Unsere Follower sind bisher meist im Alter 35+“, teilt Ulrische Posch vom COMMUNITYartCENTER im Gespräch mit. Man wolle mit STRESS die jüngere Bevölkerung der Neckarstadt-West ansprechen. Ob das gelungen sei, müsse man in der Nachbereitung des Projekts erörtern. Anette Dorothea Weber hat bereits Feedback bekommen: „Für manche älteren Menschen ist das alles zu schnell, sie können nur schwer folgen. Jüngere sind das von Youtube gewohnt. Viele Jugendliche schauen die Serie gerne, weil sie ihren Stadtteil wieder erkennen.“ Doch neben Lob habe es auch Dislikes gegeben. „Da haben uns manche vorgeworfen, für sowas auch noch Geld zu bekommen.“
Unweigerlich schielt man bei jedem Video nach linksunten auf die Klickzahlen und wenn zwei Wochen nach Erscheinen der Folge 6 gerade mal knapp 200 Menschen den Beitrag angeklickt haben, kommt man schnell zum voreiligen Schluss, die Serie sei völlig gefloppt.
Freude über 11 000 Klicks
Aber muss sich eine Serie wie STRESS mit Formaten messen, die sie gar nicht zum Vorbild, sondern vielmehr als Vorlage für ihre Kritik hat? Natürlich nicht. STRESS kommt aus der Welt der Kunst und des Theaters und wenn nach zwei Wochen 200 Menschen die Theatervorstellung besucht hätten, gäbe das ein ganz anderes Bild ab. Daher berichtet das COMMUNITYartCENTER auch freudig, dass STRESS insgesamt schon mehr als 11 000 mal geklickt wurde. „Wir wollen mit der Serie auch an Schulen gehen und mit Jugendlichen ins Gespräch kommen“ berichtet Weber von weiteren Plänen.
Man muss die Serie als Graswurzel-Kritik in einer von Konzernen beherrschten Medienwelt begreifen. Das COMMUNITYartCENTER wird sicherlich kein bedeutender Influencer, nur weil es zur Plattform Youtube gewechselt ist. Sein Publikum wird sich weiter aus dem links-liberalen, gebildeten und intellektuellen Milieu rekrutieren. Andere gesellschaftliche Milieus werden nur mit viel Aufwand und Mühe erreichbar bleiben. Falls jemand die Hoffnung hatte, dass alleine durch einen Wechsel des Formats neue Zielgruppen und andere Reichweiten in relevantem Umfang entstehen, wird schnell enttäuscht worden sein.
STRESS bleibt in der Youtube-Welt ein Underdog mit fundierter, scharfer und durchdachter Gesellschaftskritik, der seine Herkunft aus dem Theater nicht verleugnen kann.
Alle Polit-Aktivist*innen, die nun angesichts vermeintlicher Unbedeutsamkeit resignieren wollen, seien daran erinnert, dass in diesem Jahr einer den Spieß umgedreht hat. Rezo hat mit seinem Video „Die Zerstörung der CDU“ die Youtube-Szene von innen heraus verändert und gezeigt, wie man mit schlauer Kritik Millionen erreichen und Gesellschaft nachhaltig verändern kann.
(Text: cki | alle Bilder: ©COMMUNITYartCENTERmannheim)
STRESS – Die Serie des COMMUNITYartCENTERmannheim bei Youtube: bit.ly/stress-auf-youtube