Gedenkstätte Sandhofen trauert um Jerzy „Jurek“ Wojciewski
Der Verein KZ-Gedenkstätte Mannheim-Sandhofen teilt mit, dass sie die traurige Nachricht erreicht habe, dass Jerzy Wojciewski, einer der letzten Überlebenden des KZ Sandhofen, im März diesen Jahres im Alter von 97 Jahren in Polen verstorben ist. Die Gedenkstätte war mit Jerzy Wojciewski, genannt Jurek, in einer jahrelangen Freundschaft verbunden. Zuletzt gab es im September 2019 im Rahmen einer Studienfahrt nach Warschau ein Treffen. “Seine offene, freundliche, humorvolle und herzliche Art hat sicherlich alle Teilnehmer:innen der Exkursion besonders
beeindruckt”, schreibt die Gedenkstätte in einer Mitteilung. Jerzy Wojciewski habe es sich mit seinen damals fast 93 Jahren nicht nehmen lassen, nach einem gemeinsamen Abendessen das Tanzbein zu schwingen. “Wir werden Jerzy Wojciewski sehr vermissen und sind in Gedanken bei seiner Familie.”
Die Gedenkstätte würdigt Jerzy Wojciewski mit einem Nachruf, der einen kurzen, aber eindrucksvollen Blick auf das Leben des 1926 in Warschau geborenen Mannes ermöglicht, der 1944 gegen seinen Willen nach Mannheim zur Zwangsarbeit deportiert wurde. (cki)
Nachruf auf Jerzy Wojciewski
Jerzy Wojciewski wurde am 29. Oktober 1926 in Warschau geboren, wo er aufwuchs und bis zur deutschen Besatzung die Schule besuchte. Um 1943 zog seine Familie in ein Dorf nördlich der Hauptstadt.
Während des Warschauer Aufstands schloss sich Jerzy im Alter von 17 Jahren der polnischen Untergrundarmee Armia Krajowa (AK) an, für die er Waffen und Munition aus einem Depot im Wald in die Stadt schmuggelte. Ende August 1944 wurde er auf dem Rückweg einer solchen Aktion von den Deutschen festgenommen und unter Folter in der Warschauer Gestapo-Zentrale verhört. Ein Gestapo-Mann schlug ihm dabei mehrere Zähne aus und versuchte, von ihm Informationen über die Aktivitäten der Partisanen in den umliegenden Wäldern zu erpressen, doch Jerzy Wojciewski schwieg. Anfang September wurde er über das Durchgangslager Pruszków in das KZ Dachau deportiert, Ende des Monats fand er sich im KZ Sandhofen wieder.
In Mannheim musste der Jugendliche Zwangsarbeit bei Daimler-Benz leisten, zeitweise war er aber zusammen mit anderen besonders jungen Häftlingen dem „Lagerkommando“ zugeteilt, wo er vor allem Kartoffeln für die tägliche Suppe – neben einem Stück Brot die einzige wirkliche Mahlzeit im KZ-Außenlager – schälen musste.
Erstaunlicherweise gelang es Jerzy, all die Monate von der Festnahme bis zur Befreiung heimlich einen winzigen Taschenkalender sowie einen kleinen Bleistift bei sich zu behalten. In den Kalender, den er in seiner Hose, in seinem Strohsack oder bei Kontrollen während des Appells in seinem Mund versteckte, notierte er fast täglich ein paar Worte über Ereignisse des Tages. Die knappen Einträge lauteten etwa „Ich schälte den ganzen Tag Kartoffeln. Nachmittags Regen“, „Ich bekomme von einem Deutschen einen Apfel“, „Einer der Kollegen ist geflohen“, „Ich wechsle in eine andere Stube, da ich an Krätze erkrankt bin“, „Ich erhalte Prügel, sodass ich nicht schlafen konnte. 25 auf den Arsch“ oder an seinem Namenstag „Die Kollegen wünschen mir Glück. Ich bekomme einen Hammer an den Kopf.“
Am 23. Dezember 1944 wurde Jerzy Wojciewski zusammen mit 199 anderen Häftlingen aus Mannheim in das KZ Unterriexingen überstellt, wo er für ein Untertage-Verlagerungsprojekt von Daimler-Benz schwere Steinbrucharbeiten verrichten musste. Dort zog er sich ein Nierenleiden zu, von dem er sich sein ganzes Leben nicht erholte. Im Februar 1945 wurde er in das „Krankenlager“ KZ Vaihingen gebracht, wo er als Leichenträger dem „Totenkommando“ zugeteilt wurde. Täglich musste Jerzy, dessen Gesundheitszustand immer dramatischer wurde, gestorbene Mithäftlinge zu Gruben transportieren, in denen die Leichen verscharrt wurden. Nach kurzer Zeit erkrankte er an Typhus und wurde in den abgetrennten Bereich des Lagers gebracht, in dem die an Fleckfieber leidenden Häftlinge weitgehend sich selbst überlassen wurden. Viele starben. Jerzy Wojciewski überlebte.
Er war 18 Jahre alt und wog nur noch 32 kg, als er am 7. April 1945 im Typhusblock des KZ Vaihingen die Befreiung durch französische Truppen erlebte.
Die nächsten Monate verbrachte er im von den Alliierten eingerichteten „Sanitätsdorf“ Neuenbürg unter Quarantäne, wo er medizinisch versorgt wurde und allmählich wieder zu Kräften kam. Anschließend kam er nach Bensheim in ein Camp für „Displaced Persons“ (Überlebende der nationalsozialistischen Lager).
Jerzy Wojciewski wollte nicht das zum Teil langwierige Repatriierungsverfahren abwarten, um wieder nach Polen zurückzukehren, sondern schlug sich auf eigene Faust nach Warschau durch. Wie er in den 1990er Jahren in einem Interview sagte, machte ihn dies vermutlich verdächtig. Denn nur drei Tage nach seiner Ankunft in Warschau wurde er verhaftet und der Spionage für den Westen bezichtigt. Ohne Gerichtsverfahren wurde er acht Monate in Gdańsk inhaftiert. Nach der Entlassung kehrte er abermals nach Warschau zurück, absolvierte eine Ausbildung und gründete eine Familie.
Seit 1989 war er auf Einladung der KZ-Gedenkstätten Sandhofen und Vaihingen/Enz viele Male zu Besuch in Baden-Württemberg, berichtete vor Schulklassen und im Rahmen deutsch-polnischer Begegnungen über seine Erlebnisse und war mit der Mannheimer Gedenkstätte bis zuletzt freundschaftlich verbunden.
Wie wir dieser Tage erfahren haben, ist Jerzy Wojciewski vergangenen Monat im Alter von 97 Jahren in Warschau verstorben. Wir werden ihn vermissen! Unsere Gedanken sind bei seinen Angehörigen.
KZ-Gedenkstätte Sandhofen e.V., April 2024