Demo gegen die “Bezahlkarte” in Heidelberg – “Ein Kontrollinstrument, um Geflüchtete zu überwachen”
Interview mit Oskar Neumann von der Seebrücke Heidelberg und Clara Grube von der Antifaschistischen Initiative Heidelberg (AIHD) zur Demonstration “Bezahlkarte stoppen! Gegen rassistische Kontrolle und Ausgrenzung!” am Dienstag, 5. November 2024.
KIM: Für den 5. November 2024 mobilisiert ihr zu einer Demo gegen die Einführung der Bezahlkarte. Könnt ihr kurz erklären, was die Bezahlkarte ist?
Oskar Neumann (Seebrücke Heidelberg): Laut dem, was die Regierenden sagen, soll die Bezahlkarte zwei Dinge erfüllen: Erstens verhindern, dass Geflüchtete Geld ins Ausland schicken, und zweitens die Verwaltungen durch Minimierung von Bargeldauszahlungen entlasten. Der erste vorgebliche Zweck ist unnötig, da nicht Asylbewerber*innen, die etwas von ihren maximal 460€ pro Monat sparen, um ihre Familien zu unterstützen, ein Problem sind, sondern Milliardär*innen, die von der Arbeit anderer leben, Steuern hinterziehen und mit ihrem Geld die Erde zerstören. Der zweite vorgebliche Zweck ist paradox, da die Bezahlkarte Verwaltungen nicht entlasten, sondern ihnen Mehrarbeit machen würde. Ein Großteil der Leistungsbeziehenden erhalten diese bereits auf ein Konto. Ihnen dieses jetzt wegzunehmen und auf die Bezahlkarte umzustellen, wäre ein enormer Mehraufwand. Eine Einschränkung von problematischen Geldflüssen sowie eine Entlastung der Verwaltung ist die Bezahlkarte also schonmal nicht. Stattdessen ist sie ein Kontrollinstrument, mit dem die Herrschenden marginalisierte Gruppen überwachen und sanktionieren wollen. Sie ist nämlich keinesfalls so etwas wie eine EC-Karte. Sie ist in ihrer Nutzung stark eingeschränkt.
Clara Grube (AIHD): Faktisch ist es ein weiteres gezieltes Instrument bei der anhaltenden Entrechtung von Geflüchteten. Dass sie ihren Wohnort nicht frei wählen dürfen und in Massenunterkünften unter katastrophalen Bedingungen leben müssen, dass Erwachsene nicht arbeiten und Kinder nicht zur Schule gehen dürfen, dass sie keine angemessene medizinische Versorgung erhalten – all das gibt es schon seit Jahren, wird aber immer mehr verschärft. Die ständige Angst vor Abschiebung prägt das Leben der hierher geflohenen Menschen. Im Zuge der Rechtsentwicklung kommen immer neue Forderungen auf, die Politiker*innen der so genannten bürgerlichen Parteien von der AfD übernehmen und umsetzen. Geflüchtete werden ununterbrochen elementarer Rechte beraubt, indem beispielsweise das Recht auf ein faires Asylverfahren demontiert wurde und nun auch die rudimentären Reste abgeschafft werden sollen. Wir sehen die Bezahlkarte deshalb als weiteren Mosaikstein in einem seit Jahren andauernden Frontalangriff auf Refugees. Weil ihre Auswirkungen im Lebensalltag so unmittelbar greifbar sind und die Umsetzung und konkrete Ausgestaltung den Kommunen überlassen ist, setzen wir hier mit unserem Protest an – zusammen mit vielen Bündnispartner*innen.
KIM: Was sind die konkreten Folgen für die betroffenen Asylsuchenden?
Oskar Neumann: Geflüchtete erhalten mit der Bezahlkarte nur noch 50€ in bar, über die sie frei verfügen können. Der Rest ihrer Bezüge ist durch die Sperren in der Bezahlkarte für sie nur eingeschränkt nutzbar. Sie können damit nur in Läden einkaufen, die die Bezahlkarte akzeptieren. Lebensmittel, die sie im Discounter nicht finden, können sie einfach nicht kaufen. Soziale Second-Hand-Läden und Flohmärkte, die für Menschen mit zu wenig Geld häufig wichtig sind, sind für sie ebenfalls tabu. Auch Online-Einkäufe. Es ist sogar fraglich, ob sie mit der Bezahlkarte Verträge abschließen können, also zum Beispiel einen Handyvertrag. Außerdem ist es möglich, die Nutzung der Bezahlkarte regional einzuschränken. So können Geflüchtete in der Gegend ihrer Unterkunft festgehalten werden, weil sie sich außerhalb dieser Zone nicht einmal ein Wasser kaufen könnten. Zuletzt können Behörden die Bezahlkarten entladen und sperren, was Tür und Tor für willkürlichen Leistungsentzug als Sanktion öffnet.
KIM: Welche Handlungsspielräume haben die einzelnen Kommunen bei der Umsetzung der Bezahlkarte?
Oskar Neumann: Es könnte sein, dass die Bezahlkarte in Baden-Württemberg flächendeckend als Verwaltungsvorschrift eingeführt wird. So kann die Regierung eine Abstimmung im Landtag umgehen. Andere Landesregierungen haben ihren Kommunen die Umsetzung freigestellt. Die grün-schwarze Regierung Baden-Württembergs hat allerdings schon zuletzt in der Debatte um die sogenannten “Sicherheitspakete” gezeigt, dass sie besonders rassistisch ist. Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass sie die Umsetzung für die Kommunen verpflichtend einführen könnte.
Clara Grube: Am 24. Oktober gab das Justizministerium Baden-Württemberg bekannt, dass die Bezahlkarte noch im Dezember in den Landeserstaufnahmeeinrichtungen eingeführt und ab Januar auf andere Stellen ausgedehnt werden soll. Das Ministerium rief an diesem Tag bereits die ersten Karten vom Unternehmen secupay ab – ein Konzern, der mit der staatlicherseits erzeugten Not der Geflüchteten üppigen Profit macht. Justiz-Staatssekretär Siegfried Lorek (CDU), der die Bezahlkarte maßgeblich vorantreibt, lobte diese einschneidende Entrechtung als “politisches Leuchtturmprojekt” – nun ja, ein Leuchtturmprojekt der Menschenverachtung ist es allerdings.
KIM: Wie ist die Planung in Heidelberg? Und wie läuft die Diskussion in Mannheim?
Clara Grube: Vieles ist aktuell noch etwas unklar. Anfangs wollten einige Landkreise – darunter der Rhein-Neckar-Kreis – vorpreschen, manche haben sich auch an dem Pilotprojekt beteiligt, weshalb es einen Flickenteppich unterschiedlicher Ausgestaltungen gab. Momentan warten die Kommunen eher ab, welche Vorgaben es von der Landesregierung gibt. Teilweise wurde ja bereits erfolgreich gegen die Bezahlkarte geklagt, wobei beispielsweise die Begrenzung der auszahlbaren Bargeldsumme auf 50 Euro für rechtswidrig erklärt wurde. Weil es aber keine bundesweit einheitliche Regelung gibt, müssen die Betroffenen jeweils gegen die örtlichen Vorgaben klagen. Pro Asyl und die Gesellschaft für Freiheitsrechte haben gegen die Bezahlkarte mehrere Klagen eingereicht.
In Heidelberg haben die Grünen erklärt, dass sie die Bezahlkarte nicht ganz so diskriminierend ausgestalten wollen wie andere Parteien und Kommunen das fordern, sondern dass sie einen etwas höheren Bargeldbetrag erwägen. In Mannheim haben die Freien Wähler schon im April die Einführung der Bezahlkarte zum 1. September gefordert und dabei die Bargeldgrenze von 100 Euro ins Spiel gebracht. Andere Parteien haben einen Wettbewerb der rigiden Forderungen losgetreten und übertreffen sich in menschenverachtenden Verschärfungsvorschlägen. Aber es geht nicht um 10 Euro mehr oder weniger, denn es gibt keine “diskriminierungsfreie Ausgestaltung der Bezahlkarte”, wie die Heidelberger Grünen sie allen Ernstes propagieren – das ist schlichtweg ein Oxymoron. Die Bezahlkarte ist staatliche Diskriminierung in Reinform, und eine diskriminierungsfreie Diskriminierung ist ein Widerspruch in sich selbst.
In der Rhein-Neckar-Region gab und gibt es deshalb massiven Protest gegen die Bezahlkarte. Zum Beispiel positionierten sich im Frühjahr die Seebrücke Mannheim und 18 weitere Organisationen in einem Offenen Brief an den Oberbürgermeister und den Gemeinderat entschieden gegen dieses Instrument der Ausgrenzung und Stigmatisierung. Auch in Heidelberg beteiligen sich verschiedene Gruppen an den Protestaktionen.
KIM: Ihr befürchtet auch, dass die Bezahlkarte bald auch gegen andere Bevölkerungsgruppen eingesetzt wird. Wer könnte davon betroffen sein?
Oskar Neumann: Es gibt bereits Aussagen von Politiker*innen der sogenannten Parteien der Mitte, zum Beispiel vom CDU-Bundestagsabgeordneten Maximilian Mörseburg, dass die Bezahlkarte nach ihrer Einführung bald auf Bürgergeldempfänger*innen ausgeweitet werden soll. Wir sehen es so: Es ist gerade auf Grund der Hetze von Nazis, Springerpresse und anderen Rassist*innen populär, die Bezahlkarte an Geflüchteten zu testen. So schaffen die Herrschenden Akzeptanz für dieses Kontrollinstrument. Anschließend weiten sie es auf die Betroffenen, die nach ihrer neoliberalen und nationalistischen Hetze auf der nächsten Stufe stehen, die Bürgergeldempfänger*innen, aus. Und so weiter. Schritt für Schritt mehr Kontrolle für die Herrschenden.
Clara Grube: Ja, es wird definitiv auch gegen andere Menschen zum Einsatz kommen, die nicht optimal in die kapitalistische Verwertungslogik passen. Die jetzigen Forderungen knüpfen an den klassistischen und sozialdarwinistischen Diskurs an, in dem Reaktionäre seit Jahren von sogenannten Sozialschmarotzern schwadronieren. Die Umverteilung von unten nach oben wird weiterhin verschärft, und die Verlierer*innen dieser Politik werden staatlicherseits noch stärker diskriminiert, gegängelt und entrechtet werden.
KIM: Ihr habt schon in den vergangenen Monaten gegen die Pläne der Bezahlkarte protestiert. Welche Aktionen gab es eurerseits?
Oskar Neumann: Wir haben bereits online, durch Textveröffentlichungen, umfassend über die Bezahlkarte aufgeklärt. Gemeinsam mit dem Asylarbeitskreis Heidelberg und der Kampagne Solidarität statt Nationalismus, die sich im Vorfeld der Landtagswahlen gegründet hat, um allen Facetten des Rechtsrucks etwas entgegenzusetzen und nicht bei Kritik an der AfD stehenzubleiben, haben wir im Mai auch schon eine Kundgebung gegen die Bezahlkarte veranstaltet. Und mit der Kampagne in einem gemeinsamen Statement auch die Heidelberger Grünen kritisiert, die in ihrem Wahlprogramm und ihren Beschlüssen in vorauseilendem Gehorsam schon, bevor überhaupt klar war, dass die Bezahlkarte in Baden-Württemberg kommen wird, über die Ausgestaltung fantasiert haben. Diese solle “diskriminierungsarm” sein. Aber wir wollen nichts “Diskriminierungsarmes”. Wir wollen keine Diskriminierung. Zuletzt wurden in Heidelberg außerdem hunderte Statements gegen die Bezahlkarte im Stadtbild verteilt.
KIM: Zur Demo am 5. November hat sich ein Bündnis aus verschiedenen Gruppen gebildet. Wer ist daran beteiligt? Und warum habt ihr euch gerade dieses Datum ausgesucht?
Oskar Neumann: Wir gehen mit einem breiten Bündnis auf die Straße. Beteiligt sind die Seebrücken aus Heidelberg, Mannheim und Karlsruhe, die AIHD, der Asylarbeitskreis Heidelberg, der Verein Chancen gestalten, die Heidelberger Lokalgruppe von Rolling Safespace, die Falken Heidelberg, GSK, Akut+[c] sowie die Initiative Schüler*innen gegen rechts und die Omas gegen rechts. Den 5. November haben wir ausgewählt, weil an diesem Tag im Gemeinderatsausschuss Chancen Soziales und Chancengleichheit eigentlich über die Bezahlkarte geredet werden sollte. Leider steht das Thema nun aber nicht auf der Tagesordnung, was aber auch aussagekräftig ist. Wir werden trotzdem da sein und klar Stellung für die Solidarität beziehen. Wir freuen uns, dies mit einem so großen und vielfältigen Bündnis machen zu können!
KIM: Welche Aktivitäten plant ihr für die Zeit nach der Demo?
Clara Grube: Jedenfalls wird die Demo am 5. November sicherlich nicht die letzte Aktion bleiben, denn gerade in den nächsten Wochen wird sich vieles entscheiden. Von daher sind Öffentlichkeitsarbeit und Proteste auf der Straße gegen die drohende Einführung der Bezahlkarte dringend nötig. Parallel nehmen auch andere staatliche rassistische Maßnahmen und Hetze gegen Geflüchtete zu. Deshalb kann es sein, dass sich unser Kampf gegen die Bezahlkarte mit den Protesten gegen weitere refugeefeindliche Maßnahmen vermischt.
Oskar Neumann: Wir hoffen weiterhin, dass die Bezahlkarte in Baden-Württemberg nicht kommen wird, denn sie ist auf so vielen Ebenen falsch. Wir werden nach der Demo weiterhin laut sein und wenn sie kommen wird, wird es in Heidelberg auch Tauschstellen geben, wie bereits in anderen Bundesländern, in denen die Karte schon eingeführt ist. Dort können Menschen dann Gutscheine, zum Beispiel für Discounter, kaufen, die Geflüchtete zuvor mit ihrer Karte gekauft haben. Diese bekommen dann das Bargeld und können darüber verfügen, wie sie möchten. So können wir das Kontrollinstrument Bezahlkarte gemeinsam umgehen.
Demo “Bezahlkarte stoppen! Gegen rassistische Kontrolle und Ausgrenzung!”
Dienstag, 5.11.2024 – 17.00 Uhr
Treffpunkt: Schwanenteichanlage/Stadtbücherei Heidelberg