Nach Selbstauflösung der PKK – Chancen und Risiken für einen Friedensprozess – Interview mit einer Vertreterin der kurdischen Zivilgesellschaft
Interview mit Dersim Dagdeviren
Wie geht es weiter nach der Selbstauflösung der PKK?

Dersim Dagdeviren – zur Person: lebt in Dortmund, in Deutschland mit kurdischen Wurzeln geboren und aufgewachsen. Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin. Zur Zeit Oberärztin in einer Kinderklinik. Zahlreiche Funktionen im beruflichen, gewerkschaftlichen und gesundheitlichen Rahmen: Betriebsrat, Vorstand der Kammerversammlung der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Vorstandsmitglied in der Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemo-kratInnen im Gesundheitswesen (ASG) NRW. Vielfältiges Engagement im kurdischen Kontext: Mitbegründerin und Co-Vorsitzende des Netzwerks kurdischer AkademikerInnen e.V., Vorstand der EU Turkey Civic Commission (www.eutcc.net), die u.a. alljährlich eine Konferenz im Europaparlament organisiert. Beirat des DeZIM (Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung), im Sprecher-Innenkreis der Initiative ‚Medizin für Rojava‘
Zunächst einmal hat die PKK ihre Kongressbeschlüsse mitgeteilt. Diese beinhalten die Selbstauflösung und die Entwaffnung. Nun müssen juristische und politische bzw. verfassungsrechtliche Grundlagen seitens der Türkei für die Umsetzung geschaffen werden. Dazu gehört auch und vor allem, die Bedingungen des PKK-Begründers Abdullah Öcalan grundlegend zu ändern, damit er seiner führenden Rolle gerecht werden und die Transformation in einen nachhaltigen Friedens- und Demokratisierungsprozess frei leiten und lenken kann. Das Rechtsprinzip Hoffnung – hierzu gibt es ein Gerichtsurteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte – muss implementiert werden. Verwiesen sei hier auch auf den Beschluss des EU-Ministerrates, der die Türkei zur Umsetzung auffordert. In der Türkei muss das Parlament nun Initiative ergreifen und die notwendigen Maßnahmen forcieren. Die Politik insgesamt, also vor allem auch die Regierung muss nun konkrete Schritte einleiten. Dazu gehört die Einstellung der grenzüberschreitenden Angriffe der Türkei auf die Kurdistan Region des Irak, die Beendigung der militärischen Aktivitäten in Nordsyrien, wobei diese Angriffe aktuell nahezu eingestellt sind, und der Stopp der Praxis, Bürgermeister:innen abzusetzen und kurdische Kommunen unter Zwangsverwaltung zu stellen. Die Zivilgesellschaft ist in diesem Prozess ebenfalls gefragt. Sie ist mit die wichtigste Komponente, wenn es darum geht, den Prozess in die Gesellschaft zu tragen.
Kann die demokratische Zivilgesellschaft gestärkt werden?
Die Frage stellt sich nicht wirklich. Die Zivilgesellschaft muss gestärkt werden. Sie ist die wichtigste Säule, wenn es um die Nachhaltigkeit des Prozesses geht. Die demokratische Transformation kann nur gelingen, wenn sie in der Bevölkerung breite Unterstützung erhält. Für die kurdische Bevölkerung trifft das weitgehend zu. Doch auch alle anderen in der Türkei lebenden Menschen müssen überzeugt sein von der Notwendigkeit dieses Prozesses bzw. von der Notwendigkeit des positiven Ausgangs dieses Prozesses. Das ist für den Aspekt der Aussöhnung und des Aufbaus einer gemeinsamen Zukunft, vor allem für eine demokratische Zukunft essentiell. Die Regierung und das Parlament müssen Rechtsstaatlichkeit herstellen, die Repressionen gegen die Zivilgesellschaft müssen umgehend eingestellt werden.
Welche Absichten vertritt Erdogan?
Die bisherige Politik des türkischen Staatspräsidenten und seiner Regierung erschwert es, gute Absichten zu unterstellen. Festzuhalten ist, im Mittleren und Nahen Osten vollziehen sich Umbrüche, die auch die Türkei maßgeblich betreffen. Hier muss die Türkei, muss Erdogan sich positionieren. Die geostrategische Bedeutung der Türkei, auf die er sich stets verlassen hat, ist zwar nicht aufgehoben, aber es gibt relevante Veränderungen, was die Macht-Konstellationen betrifft. Syrien ist hier als ein Beispiel aufzuführen. Erdogan möchte diese geostrategische Positionierung nicht aufgeben. Erdogan hat unter anderem auf die Karte Trump gesetzt. Doch zum Beispiel an der Syrienpolitik erkennen wir, dass dies nicht aufgegangen ist. Hinzu kommt die innenpolitische Situation, insbesondere die wirtschaftliche. Die aus Armut resultierende Unzufriedenheit der Menschen kann eine gewisse Dynamik entwickeln. Die Absichten Erdogans sind das eine, das andere ist die Situation zu nutzen und die Türkei zu einer anderen Politik zu bewegen.
Kann die Türkei zu einer anderen Politik bewegt werden?
Wenn wir uns vorherige Dialog-Prozesse in der Türkei anschauen, insbesondere die Zeit von 2013-2015, die in den Köpfen noch ziemlich präsent ist, dann ist festzuhalten, dass die Debatten noch nie so umfassend geführt wurden. Das Wording terrorfreie Türkei, das leider in weiten Teilen der türkischen Politik dominiert, ist natürlich problematisch. Doch zeitgleich ist zu erkennen, dass die Einschränkung der Rechte von Kurd:innen eine größere Beachtung bekommen hat. Es ist nicht bei Repressionen gegen die kurdische Bevölkerung geblieben. Die zivilgesellschaftlichen Kräfte müssen in den Prozess intensiv involviert werden. Auch internationaler Druck ist notwendig. Denn die regionalen Implikationen des Prozesses in der Türkei sind enorm. Die Situation der Autonomen Selbstverwaltung in Rojava ist ein gutes Beispiel dafür.
Welche Folgen sind für die Demokratische Selbstverwaltung in Rojava zu erwarten? Welche anderen Akteure im Nahen Osten sind für den Prozess wichtig?
Wir erkennen schon jetzt die positiven regionalen Implikationen dieses Prozesses. Die Angriffe der Türkei auf Rojava sind weitgehend eingestellt. Dennoch gibt es weiterhin von der Türkei und ihren dschihadistischen Verbündeten besetzte Gebiete. Auch die Herausforderungen im Kontext der Umbrüche in Syrien selbst sind für Rojava groß. Die Türkei versucht, ihren Einfluss auf die Interimsregierung geltend zu machen, um kurdische Errungenschaften zunichte zu machen. Während der amerikanische Außenminister Rubio von der Fragilität der Übergangsregierung sprach, reiste der Chef des türkischen Geheimdienstes vor zwei Tagen nach Syrien und traf den Interimspräsidenten. Die Türkei ist unmittelbar nach Ende der Assad-Ära aktiv geworden. Bereits im Dezember ist der türkische Außenminister und ehem. Geheimdienstchef Hakan Fidan in Damaskus gewesen. Es geht bei diesen Besuchen vor allem um die Demokratische Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien, also Rojava. Die Rolle der USA ist eine entscheidende. Aber auch Großbritannien und die europäischen Staaten sind nicht zu vernachlässigen. Israel ist natürlich ein relevanter Player. In Syrien treffen da unterschiedliche Interessen aufeinander.
Und wie ist die Rolle der deutschen Bundesregierung zu beurteilen? Man denke nur an die jüngsten Verhaftungen und Verurteilungen wegen behaupteter Unterstützung der PKK.
Das deutsche Außenministerium hat sowohl die historische Erklärung von Abdullah Öcalan für Frieden und eine demokratische Gesellschaft als auch die Beschlüsse des PKK-Kongresses begrüßt. In seiner Erklärung vom 27.02.2025 hat es Unterstützung angeboten. Doch die politische Praxis ist konträr hierzu. Jüngstes Beispiel hierfür ist die Verhaftung des ehemaligen Co-Vorsitzenden des größten kurdischen Dachverbands in Europa (KCDK-E) am Dienstag in Bremen. Dabei wird der Erfolg dieses Prozesses, insbesondere Deutschlands Einsatz, positive Implikationen hierzulande haben. Schließlich bilden Türk:innen und Kurd:innen die größten migrantischen Communities. Daher ist ein Umdenken in der Politik zwingend notwendig. Die Implikationen eines erfolgreichen Ausgangs des Prozesses im Mittleren Osten sind ebenfalls von großer Relevanz, auch für Deutschland. Migration ist dabei selbstverständlich ein wichtiger Aspekt, wenn wir die Fluchtbewegungen aus der Region vor Augen haben. Hier ist das Außenministerium gefragt, seinen Einfluss geltend zu machen und die Türkei zur zügigen Schaffung verfassungsrechtlicher Grundlagen für die Transformation in einen nachhaltigen Friedens- und Demokratisierungsprozess zu drängen. Dies beinhaltet auch – wie vom EU-Ministerrat gefordert – die Umsetzung der Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Kontext des Rechtsprinzips Hoffnung, das Abdullah Öcalan als zentralem Akteur in diesem Prozess verweigert wird. Auf EU-Ebene ist die Streichung der PKK von der Terrorliste ein wesentlicher Punkt, für den Deutschlands Einsatz gefragt ist. Hierzu ist innenpolitisch die Aufhebung des PKK-Verbots ein Muss. Schließlich hat das Verbot zu einer enormen Einschränkung kurdischen Engagements und zu einer umfassenden Ausgrenzung kurdischer zivilgesellschaftlicher Organisationen geführt. Demokratische Partizipation und Gleichberechtigung sind essentiell, auch für eine Stärkung des Prozesses aus der Diaspora heraus.
Das Ziel der kurdischen Community ist eine Türkei der Gleichberechtigung der Völker und der demokratischen Teilhabe. Ist das mit Leuten wie Erdogan zu machen?
Dieses Ziel muss erreicht werden trotz Politikern wie Erdogan. Erdogan verfolgt gewisse Interessen. Es geht um Machterhalt. Er kann es sich nicht erlauben, Macht zu verlieren. Dann wird er Rechenschaft ablegen müssen für all seine Handlungen, von Krieg bis Korruption. Dies will er verhindern. Diese Situation gilt es zu nutzen, um den Prozess zu stärken bzw. zu sichern. Die kurdische Seite hat bereits wichtige Meilensteine gesetzt. Es geht nun um die Organisierung einer breiten Unterstützung durch die Gesellschaft, durch breite Teile der Politik, auch international.
Die Fragen für das Kommunalinfo stellte Roland Schuster.
Weiterführende Links zu diesem Thema:
https://www.fr.de/politik/linken-abgeordnete-fordert-aufhebung-von-pkk-verbot-in-deutschland-zr-93748302.html (LINKEN-Abgeordnete Gökay Akbulut fordert Aufhebung des PKK-Verbots)
https://www.jungewelt.de/artikel/500553.t%C3%BCrkei-und-kurden-bisher-gab-es-nur-einseitige-schritte.html („Bisher gab es nur einseitige Schritte“)
https://anfdeutsch.com/aktuelles/pkk-klagt-gegen-deutsche-bundesregierung-46383 (PKK klagt gegen deutsche Bundesregierung)