Protest gegen Erdogan: Rede von Thomas Trüper vom 4.11.2016
Liebe Freundinnen und Freunde, Liebe Genossinnen und Genossen, meine Damen und Herrren,
ich spreche hier auch stellvertretend für meine Gemeinderatskollegin Gökay Akbulut, die beruflich leider verhindert ist.
Nach der Festnahme von zwölf Politikern der prokurdischen und linken türkischen Oppositionspartei HDP hat ein Gericht in der Türkei Haftbefehl gegen die beiden Parteivorsitzenden, gegen Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, erlassen. Überall kommt es zu Protesten.
Wir stehen hier und heute vor dem Mannheimer Schloss, um gegen diesen weiteren Schritt in eine Präsidialdiktatur zu protestieren. Wir erklären uns solidarisch mit allen von Erdogan verfolgten Oppositionspolitikern und mit der geschundenen Bevölkerung in den kurdischen Gebieten. Wir gedenken der Toten und denken an ihre Angehörigen.
Wir fordern die internationale Gemeinschaft, aber insbesondere die Bundesregierung auf, Erdogan deutlich zu machen, dass er jetzt absolut die rote Linie überschritten hat. Dieser Schritt von Erdogan, die politische Opposition einfach ins Gefängnis zu werfen, muss mit allen diplomatischen und politischen Mitteln bekämpft werden. Immer mehr zeigt sich, dass der europäische Flüchtlings-Deal mit Erdogan untragbar ist. Ganz davon abgesehen hat sich der türkische Außenminister gestern ohnehin für ein Ende der Vereinbarung ausgesprochen.
Die Festnahmen riefen auch tatsächlich international Kritik und Sorge hervor. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bestellte den türkischen Gesandten ins Auswärtige Amt ein, meldet FAZ online. Ähnliche Schritte gab es in anderen EU-Staaten. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte in Berlin, die Festnahmen bestätigten „alle internationalen Befürchtungen“. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini berief ein Treffen der EU-Botschafter in Ankara ein.
All dies ist begrüßenswert aber reicht bei weitem nicht aus. Die europäischen Regierungen müssen die Freilassung der inhaftierten Parlamentsabgeordneten und der zahlreichen Bürgermeistgerinnen und Bürgermeister verlangen, die Achtung der Pressefreiheit und die Wiederaufnahme des Friedensprozesses. Sie müssen alle ihre politischen Machtmittel dafür einsetzen!
Wir erinnern daran, dass Erdogan den Friedensprozess mit den politischen Vertretern der türkischen-kurdischen Bevölkerung einseitig abgebrochen hat und seither einen grausamen offenen Krieg in den kurdischen Gebieten führt, der wiederum zu militärischen und asymmetrischen Gegenmaßnahmen führt. Dass ethnische Konflikte, dass Bürgerkriege nicht mit militärischen Mittel gelöst werden, wissen in Europa alle seit dem Nord-Irland-Konflikt und seit den baskisch-spanischen Konflikten. Es geht nur mit Demokratie und einem fairen Ausgleich der Interessen.
Stattdessen lässt Erdogan ganze Städte und Dörfer in Schutt und Asche legen. Die Situation ist von der in Syrien streckenweise nicht mehr zu unterscheiden. Außerdem bedient sich Erdogan nach wie vor des IS, um die Bevölkerung in den kurdischen Gebieten zu terrorisieren.
Die HDP warnt vor einem „Ende der Demokratie in der Türkei“ und spricht von „politischer Lynchjustiz“.
Der Verhaftung der beiden Vorsitzenden der Oppositionspartei HDP vorausgegangen war die Verhaftung der Oberbürgermeisterin und des Oberbürgermeisters von Diyarbakir, Gültan Kisanak und Firat Anli, am Montag dieser Woche.
Erdogan baut den gesamten Staatsapparat nach seinen Interessen um und verfolgt alles und alle, die sich ihm irgendwie in den Weg stellen.
Seit dem Putschversuch Mitte Juli wurden bereits mehr als 100.000 Staatsbedienstete entlassen und mehr als 35.000 wurden verhaftet. Dazu wurden Kriminelle aus den Gefängnissen entlassen um Platz für die politischen Gefangenen zu machen.
Mit einem Dekret ordnete Erdogan in dieser Woche neben den Entlassungen auch die Schließung von 15 weiteren Medien-Einrichtungen in den kurdischen Gebieten an. Damit erhöht sich die Zahl der seit dem Putschversuch vom 15. und 16. Juli geschlossenen Medien auf mehr als 160.
Der von Erdogan nach dem Putschversuch verhängte Ausnahmezustand war am 21. Juli für 90 Tage in Kraft getreten und hätte am am 18. Oktober enden sollen. Unter ihm kann der Präsident per Notstandsdekret regieren. Mit der Verlängerung soll der Ausnahmezustand nun mit Ablauf des 15. Januars enden – wenn er denn endet, was sehr zu bezweifeln ist.
Liebe Freundinnen und Freunde,
lasst mich jetzt auf eine tragische Erfahrung aus der deutscher Geschichte des letzten Jahrhunderts zu sprechen kommen. Deutschland lag ja 1945 nach seinem Angriffskrieg in Schutt und Asche:
Hinter Adolf Hitler stand vor und nach 1933 durchaus eine Massenbewegung, die sich den Wiederaufstieg Deutschlands herbei sehnte, und sei es durch Raubkrieg und Völkermord. „Großdeutschland“ war das Ziel.
Gegen Hitler standen kleinere Teile der christlichen Zentrumspartei. Vor allem aber die sozialdemokratische und die kommunistische Partei. Beide zusammen waren bei unterschiedlichen Wahlen stärker als die Nazis und die anderen Ultranationalisten. Aber beide waren tief gespalten und heftig verfeindet. Beide unterschätzten die tatsächliche Stärke der nationalsozialistischen Bewegung mit ihrem Führer Adolf Hitler, ihre Brutalität nach innen und die bereits wiedererlangte Stärke des deutschen Militarismus. Beide überschätzten ihre besonderen parteipolitischen Interessen und die Umsetzbarkeit ihrer jeweiligen Programme. Beide unterschätzen den Wert von Rechtsstaatlichkeit, von Menschenrechten, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit.
Beide kamen sich erst in Hitlers Konzentrationslagern näher und schworen dann den Schwur von Buchenwald: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“
Es liegt eine tiefe Wahrheit im Satz des evangelischen Theologen Martin Niemöller, der selbst im KZ inhaftiert war, und der rückblickend auf die Zeit des Nationalsozialismus sagte:
„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“
Ich bin davon überzeugt, dass die Situation in der Türkei und überall, wo Türken leben, so weit ist, sich an diesen Satz erinnern zu müssen. Die Oppositionsparteien, insbesondere die HDP und die CHP müssen Brücken über die Gräben bauen, die sie jetzt voneinander trennen. Das verlangt möglichst breiten Widerstand gegen die Diktatur Erdogan und der Kampf für Demokratie und Menschenrechte.
Liebe Freundinnen und Freunde,
abschließend möchte ich noch etwas als Mitglied des Gemeinderates dieser Stadt sagen: Ihr habt bisher die ungeheure Stärke gehabt, euch nicht dadurch provozieren zu lassen, dass in unserer Stadt auch sehr viele Anhängerinnen und Anhänger von Erdogan und der AKP leben und sich politisch äußern. Ich bitte Euch: Zeigt weiterhin diese Stärke und Souveränität und lasst euch auch in Zukunft nicht provozieren.
Solidarität mit den demokratischen politischen Gefangenen in der Türkei!
Frieden und Demokratie für die Völker in der Türkei!
Ich danke für die Aufmerksamkeit.