„Wir sind nicht unbedingt geschockt, weil wir von der Doppelmoral wissen“ Interview mit der kurdischen Jugend Ciwanên Azad
Im Vorfeld des türkischen Verfassungsreferendums und der geplanten Demo „Staatsterrorismus stoppen“ bin ich mit VertreterInnen der kurdischen Jugend Ciwanên Azad zum Interview verabredet, um über die aktuelle Situation in der Türkei und den kurdischen Regionen zu sprechen. Außerdem möchte ich mehr über die Arbeit der kurdischen Vereine in Deutschland erfahren. Am frühen Sonntagabend fahre ich daher über die Rheinbrücke. Der kurdische Verein befindet sich in einem 20 Stockwerke hohen Hochhaus am Rande der Innenstadt von Ludwigshafen. Mit dem Fahrstuhl geht es nach oben. Auf dem Flur spielen Kinder. Ein Junge holt meine Gesprächspartner. Dann gehen wir zusammen durch die Vereinsräume, es findet gerade eine Familienfeier statt. Für das Gespräch setzen wir uns in einen ruhigen Nebenraum. Auf dem Tisch steht ein Bild mit einem großen Portrait von Abdullah Öcalan und weiteren, mir unbekannten Gesichtern.
KIM: Während sich im Vorfeld des Verfassungsreferendums die außenpolitische Krise zwischen Deutschland und der Türkei zuzuspitzen scheint, kommen aus dem deutschen Innenministerium überraschend neue Repressalien gegen die hier lebenden Kurdinnen und Kurden. Zahlreiche Symbole wurden verboten. Wie habt ihr davon erfahren und hat euch das überrascht?
Ciwanên Azad: Unterschiedlich, übers Internet oder Mund-Propaganda. Die meisten waren ziemlich empört, aber es war auch klar gewesen, wegen der Doppelmoral. Vornerum wird in den Medien gezeigt, wie Merkel Erdoğan kritisiert, hintenrum läuft der Flüchtlingsdeal. Wir sind nicht unbedingt geschockt, weil wir von der Doppelmoral wissen.
KIM: Ich habe mir die Liste angeschaut, was jetzt seit neuestem alles verboten ist und diverse Abkürzungen gefunden: PYD, YPG, YPJ oder auch CDK, CKK, YXK. Mit diesen Abkürzungen werden die wenigsten Menschen in Deutschland etwas anfangen können. Was sind das für Organisationen, die von den Verboten betroffen sind?
Ciwanên Azad: Unterschiedlich. YPG und YPJ sind beispielsweise die Selbstverteidigungseinheiten in Rojava, Nordsyrien. CDK ist der Vorgänger von NAV-DEM, dem Träger des Kulturvereins. YXK ist der größte kurdische Studierendenverband, den es europaweit gibt. Uns hat natürlich am meisten aufgeregt, dass auch die Fahne der Ciwanên Azad, unsere Fahne, verboten wurde.
KIM: Der Vorwurf des Innenministeriums lautet im Prinzip, hinter all diesen Symbolen stecken Nachfolgestrukturen der PKK. Ist das konstruiert oder ist der Kurdische Verein in Ludwigshafen ein Stützpunkt der PKK?
Ciwanên Azad: Es ist ja der kurdische Kulturverein. Der Name sagt es ja direkt. Hier gibt es Folklore, jeden Tag Vokü, Essen und Getränke, einen Billardraum, Tischtennis, Kicker. Es ist hauptsächlich Kulturarbeit, dass sich die Kurden und Kurdinnen hier ihrer Identität bewusst werden können, damit sie ihre Sprache lernen. Es gibt einen kurdisch Kurs, man kann Saz lernen, das ist ein Saiteninstrument. Also hier wird hauptsächlich Kulturarbeit gemacht.
KIM: Gibt es oft Probleme mit der Polizei?
Ciwanên Azad: Unterschiedlich, je nach dem, was wir für Veranstaltungen haben. Bei politischen Veranstaltungen eigentlich immer. Sei es eine Demo oder Kundgebung, wir bekommen nie unsere Routen oder die Plätze, die wir anmelden. Flaggen dürfen wir ja jetzt auch nicht mehr zeigen. Wir werden also auch als Kulturverein kriminalisiert. Die Zivilpolizei war auch schon hier, aber normalerweise kommen sie im Alltag eigentlich nicht in die Räume rein.
KIM: Mich interessieren die politischen Entwicklungen der kurdischen Bewegung. In den 80er und 90er Jahren war die PKK eine streng marxistische Organisation. Mit Attentaten und militärischen Operationen wurde Angst und Schrecken verbreitet. In den letzten Jahren hat sich das geändert und die Idee des Demokratischen Konföderalismus kam auf. Was ist jetzt anders?
Ciwanên Azad: Früher herrschte heftiger Patriotismus und teilweise Nationalismus, es gab viele Aktionen und die PKK wurde als Terrororganisation eingestuft. Als Öcalan im Gefängnis war und neue Schriften veröffentlichte, gab es den Paradigmenwechsel. Die PKK hat eine 180-Grad-Wende in Richtung Frieden gemacht: Waffenstillstände, Friedensprozess vorantreiben, das Gespräch mit der türkischen Regierung gesucht…
KIM: Das ist ja ein ziemlicher Kontrast zu solch krassen Aktionen wie Anschlägen oder Selbstverbrennungen…
Ciwanên Azad: …ja, die gab es auch in Mannheim.
KIM: Ist das besprochen worden, dass das falsch war? Gab es Selbstkritik?
Ciwanên Azad: Man muss es halt einfach so sehen. Kurdinnen und Kurden wurden aufs extremste unterdrückt. Damals durften sie ihre Sprache nicht sprechen. Ich weiß von meinen Eltern, dass wir flüchten mussten, weil unser Dorf verbrannt wurde, da sich die Leute dort nicht gegenseitig ausspionieren wollten. Wir mussten danach in die Berge flüchten. Heftige Unterdrückung erzeugt heftigen Widerstand. Das ist nichts abnormales was da entstanden ist. Man muss sich den Umständen der damaligen Zeit bewusst sein.
In Mannheim haben zwei Selbstverbrennungen am Neckar stattgefunden. Das war zu der Zeit eine Art Symbolik, „wir lassen das Feuer von Newroz weiter brennen“. Die Leute haben geschrien während sie verbrannt sind „lang lebe der kurdische Widerstand“. Da ist so ein riesiger Wille dahinter, dass die Leute frei sein wollen.
Es wurde natürlich auch kritisiert und gesagt, dass die Leute am Leben bleiben sollen und dann viel mehr erreichen können. Es gibt aber jedes Jahr noch einen Gedenkmarsch in Mannheim am Jahrestag zum Neckar.
KIM: Ist das eine Art Verzweiflungstat gewesen?
Ciwanên Azad: Ich würde das nicht als Verzweiflung bezeichnen. Ich habe eher das Bild von sehr starken Personen.
KIM: Und was symbolisiert es?
Ciwanên Azad: Ziel ist es, eine riesige Aufmerksamkeit zu erregen. Sie haben das heftigste gegeben. Es ist eine Protestaktion, wie ein Hungerstreik, so wie es Demirtaş seit gestern auch macht.
KIM: Aktuell sehen kurdische politische Aktivitäten meist anders aus. In Rojava wird ganz konventionell gegen den IS gekämpft. Es wird zudem versucht, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Ist Rojava ein Vorzeigeprojekt?
Ciwanên Azad: Auf jeden Fall. In Rojava wird gerade autonome Selbstverwaltung umgesetzt. Für uns ist das ein Hoffnungsschimmer. Man bekommt immer wieder gesagt, das sei alles utopisch. Aber man hat jetzt ein Beispiel und man kann es umsetzen, wenn man es wirklich möchte.
Es ist immer noch ein Prozess, daher kann man noch nicht wirklich darüber urteilen. Aber die Fortschritte, die gemacht wurden, sind auf jeden Fall sehr lobenswert.
KIM: In der Taz gab es am Wochenende einen Bericht über einen Berliner, der in den kurdischen Einheiten in Rojava kämpft. Wie wird das in der kurdischen Community gesehen?
Ciwanên Azad: Sehr gut! Vielleicht bekommst du das auch in Mannheim mit. Gerade die älteren freuen sich total, wenn auch Deutsche auf die kurdischen Demos kommen. Es ist eben nicht nur ein kurdischer Befreiungskampf, es ist ein internationaler. Es geht um eine Ideologie und da ist es völlig egal, ob man Kurde oder Deutscher ist.
KIM: Am 8. April ist die bereits erwähnte Demo in Mannheim geplant. Deutsche und kurdische Linke wollen zusammen auf die Straße gehen. Was ist das Ziel der Veranstaltung?
Ciwanên Azad: Hauptsächlich ist das Ziel eine bessere Zusammenarbeit deutscher und migrantischer Linker. Wir haben Beispiele aus anderen Städten, wo das besser klappt. Im Prinzip haben wir das selbe Ziel, nur vielleicht einen anderen Weg. In Mannheim gab es nie wirklich eine richtige Zusammenarbeit und das wollen wir ändern.
KIM: Dann habe ich noch die Frage, wie eure Sicht auf die Zukunft aussieht.
Ciwanên Azad: Zunächst zum Präsidialsystem in der Türkei. Es wird sich schon was ändern. Aber man muss es auch aus der Sicht sehen: Erdoğan setzt sowieso alles um was er möchte, ob es das Präsidialsystem gibt oder nicht.
Hoffnung besteht immer noch, dass das „Nein“ gewinnt. Es gibt vom kurdischen Verein gemeinsame Anreisen zum wählen im Konsulat.
KIM: Wie können die Menschen in Deutschland euer Anliegen unterstützen?
Ciwanên Azad: Man kann sich auf jeden Fall öffentlich solidarisieren. Man kann sich selbst bilden und nicht alles glauben, was in vielen Medien veröffentlicht wird. Abdullah Öcalan sagt auch, der Schwerpunkt liegt in der sozialen Revolution, sprich man muss das Denken der Leute erstmal verändern. Es bringt nichts, wenn die Leute keine Ahnung haben.
Die Demonstration „Staatsterrorismus stoppen – Weg mit dem Verbot der PKK“ findet am Samstag, 8. April statt. Treffpunkt ist um 13 Uhr am Hauptbahnhof Mannheim.
cki