Andreas Zumach: NATO-Ost-Erweiterung „Fatalste falsche Weichenstellung“ in Europa seit 1945
Bei der von DFG-VK und Friedensplenum Mannheim organisierten Veranstaltung “NATO-Ost-Erweiterung: Kriegsgefahr oder friedliche Alternative” am 6. Juni 2017 im Bürgerhaus Neckarstadt-West beeindruckte Zumach die Besucher durch seinen in die Vergangenheit und die Zukunft gerichteten Vortrag. Der Vortrag kann auch im Archiv der Freien Radios gehört werden. Wir halten den Veranstaltungsbericht für interessant und wichtig, auch wenn die Veranstaltung etwas zurückliegt. (Red)
Der seit Jahrzehnten in der Friedensbewegung engagierte Journalist Andreas Zumach kritisierte die Ausdehnung der NATO nach Osten als die “fatalste falsche Weichenstellung in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs”. Die deutsche Vereinigung 1990 wäre nicht möglich gewesen, wenn der Westen der Sowjetunion damals nicht zugesichert hätte, die NATO nicht nach Osten auszudehnen. Auch wenn dieses Versprechen nirgends schriftlich festgehalten worden sei, sei es dennoch erwiesen, dass der damalige US-Präsident George Bush Senior und US-Außenminister James Baker der Sowjetunion und Michail Gorbatschow genau das zugesichert habe. Das habe der damalige US-Botschafter in Moskau, James Matlock, in seinen Notizen über das Gespräch zwischen Baker und Gorbatschow Anfang Februar 1990 festgehalten. Beim Besuch von Kanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher bei Gorbatschow wenige Tage später hätten beide dasselbe Versprechen abgegeben. Das habe Zumach von Genscher bei einem Pressegespräch erfahren.
Vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung der Mittelstreckenraketen
Die in den 1980-er-Jahren zwischen den USA und der Sowjetunion vereinbarten vertrauensbildenden Maßnahmen und die vollständige Abrüstung der Mittelstreckenraketen seien nicht der Strategie des Totrüstens des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan geschuldet gewesen, sondern dem Engagement der Friedensbewegung. Diese habe bei Gorbatschow und in der Sowjetunion die Bereitschaft zu Rüstungsbegrenzung gefördert. Dabei sei auch ein Vertrag über eine Reduzierung der konventionellen Rüstung ausgehandelt worden. Im sogenannten Open-Sky-Abkommen erlaubten sich USA und Sowjetunion gegenseitig, Überwachungsflüge über dem jeweils anderen Territorium durchzuführen.
Die Idee der Ostausdehnung: made in Germany
Wem ist es zu verdanken, dass man von diesem wichtigen Versprechen abrückte und zur Ausdehnung überging? Zumach sagte, dass es falsch sei, vorrangig die USA für die Expansion verantwortlich zu machen. Bereits 1990 habe der ehemalige deutsche Verteidigungsminister und spätere NATO-Generalsekretär Manfred Wörner vorgeschlagen bestimmte osteuropäische und baltische Staaten in die NATO aufzunehmen. Die USA seien zunächst dagegen gewesen und US-Präsident Clinton habe das für eine falsche Idee gehalten. Der Sinneswandel und Politikwechsel sei aufgrund des Drucks der Rüstungsindustrie erfolgt, die sich von der Neuausrüstung der Armeen der künftigen Beitrittsländer lukrative Aufträge versprach.
Der NATO-Beitritts Polens sei nicht aufgrund einer breiten Diskussion in der Bevölkerung erfolgt, sondern sei die Entscheidung einer politischen Elite gewesen und auch durch Bestechung zustande gekommen. Auch die in die USA lebenden Polen, Ungarn und Tschechen hätten starken Druck in Richtung eines NATO-Beitritts gemacht.
Es ist wenig bekannt, dass auch die EU mit ihrer Ausdehnung maßgeblich zur NATO-Ost-Erweiterung beigetragen habe. Das sei in der „Lissabon-Strategie“ von 2001 (nicht zu verwechseln mit der EU-Lissabon-Verfassung) und den EU-Nachbarschaftsabkommen verfolgt worden.
Atomwaffen in EU-Verfügungsgewalt statt Atomwaffenverbotsvertrag
Eine ausschließliche Kritik der US-amerikanischen Rüstungs- und Eskalationspolitik verharmlose die verhängnisvolle Rolle deutscher Politiker, was Zumach am Beispiel Atomwaffen und Atomwaffensperrvertrag verdeutlichte. Als die BRD 1973 dem Atomwaffensperrvertrag beitrat, habe sie das mit folgendem Vorbehalt getan: Sollte es einmal dazu kommen, dass Atomwaffen der Verfügungsgewalt der EU unterstellt würden, sei der Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag hinfällig.
In der UNO verhandeln derzeit 138 Staaten über ein Atomwaffenverbotsabkommen. Die meisten Atomwaffen-NATO-Staaten weigerten sich mit fadenscheinigen Argumenten daran teilzunehmen. Dass die historisch zu nennenden Verhandlungen gegen den massiven Druck der Atommächte zustande kamen bewertet Zumach als einen riesigen Erfolg der weltweiten Friedensbewegung. Die deutsche Regierung hingegen verunglimpfe die Verhandlungen als gesinnungsethische Veranstaltung ohne Sinn und Zweck, die den Atomwaffensperrvertrag unterhöhle.
Krim und Ukraine – Entzauberung Steinmeiers
Auf die Gefährlichkeit der NATO-Ost-Ausdehnung ging Zumach im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen in und um die Ukraine und die Krim ein. Er rief in Erinnerung, dass der EU-Beitritt (Assoziierung; Red) für die Ukraine mit gravierenden Einschnitten für die dortige Bevölkerung verbunden gewesen sei und dass das auch für die von der deutschen Bundesregierung mitgetragene Politik gelte. In der zugespitzten Lage in der Ukraine im Februar 2014 reisten Frank Walter Steinmeier und der französische Außenminister zu Vermittlungsgesprächen nach Kiew. Steinmeiers Auftreten und Politik werde von vielen – wie Zumach meinte, zu Unrecht – sehr gelobt. Als Vertreter einer Konfliktpartei habe Steinmeier nicht gleichzeitig als unabhängiger Vermittler auftreten können. Nur wenige Stunden nachdem Steinmeier abgereist war, kam es in Kiew unter nicht ganz geklärten Umständen zum Machtwechsel. Die neue Regierung ignorierte nicht nur die von Steinmeier ausgehandelte Vereinbarung, sondern gab der rechtsradikalen Svoboda-Partei drei Ministerposten. Weder der Bruch der Vereinbarung noch die Aufnahme faschistischer Kräfte in die Regierung seien von Steinmeier kritisiert oder gar sanktioniert worden. Im Allgemeinen sei Steinmeier kein Scharfmacher und spreche sich auch meist für Gespräche mit Russland aus. Die Verantwortung des Westens für die Spannungen zwischen Westen und Russland durch die NATO-Ausweitung werde von Steinmeier nicht eingesehen.
Zumach kritisierte die Annexion der Krim durch Russland als völkerrechtswidrig und die Abstimmung als nicht rechtmäßig und frei. Die selbst in Kreisen der NATO und Teilen der Friedensbewegung mittlerweile zu hörende Einstellung „Schwamm drüber“ hält Zumach für falsch. Die Krimfrage bedürfe der Lösung, weil sie sonst ein Stachel im Fleisch jeder künftigen ukrainischen Regierung bleibe. Er sprach sich für eine erneute Abstimmung auf der Krim unter Kontrolle der OSZE aus mit drei Abstimmungsalternativen: Verbleib bei Russland, Verbleib in der Ukraine, Verbleib in der Ukraine mit weitgehenden Autonomierechten. Das wäre auch eine für Putin gesichtswahrende Lösung, nicht zuletzt auch deswegen, weil die finanziellen Leistungen für die Krim-Bevölkerung den russischen Etat stark belasteten.
Gefahrenpotenziale
Weder ist die Situation in der Ukraine gut noch die Beziehung zwischen den NATO-Staaten und Russland. In der Ukraine werde das Minsk-II-Abkommen laut Aussagen der OSZE-Beobachter von beiden Konfliktparteien weder eingehalten noch umgesetzt. Durch die Stationierung von Truppen in den baltischen Ländern und damit in unmittelbarer Nachbarschaft zu Russland und durch die Intensivierung von Manövern – auf beiden Seiten – sieht Zumach die Gefahr eines Krieges steigen. Allein die räumliche Konzentration von Militär und Manövern habe das Risiko eines versehentlich ausgelösten Krieges gesteigert.
Eine zusätzliche Gefahr sieht Zumach darin, dass US-Präsident Donald Trump die Pentagon- und die CIA-Spitze mit ausgewiesenen Iran-Hassern besetzt habe und den amerikanischen Rüstungsunternehmen Waffengeschäfte mit Saudi-Arabien über mehrere Hundert Millionen US-Dollar ermöglicht habe.
Was trägt zur Deeskalation bei?
Da die Eskalation von der NATO verursacht sei, müsse sie den ersten Schritt zur De-Eskalation machen, der dann von Putin beantwortet werden könnte. Die NATO müsse ihren Beschluss von 2008 revidieren, der die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wie auch Georgiens und Moldawiens beinhalte. Die NATO dürfe ihre geplanten Aufrüstungsmaßnahmen nicht umsetzen. Sowohl Russland als auch die NATO müssten ihre Manöver einstellen. Putin müsse von der angedrohten massiven Erhöhung der Gaspreise für die Ukraine absehen. Des Weiteren solle man der Ukraine die Möglichkeit eröffnen sowohl eine Zollunion mit der EU wie auch mit Russland einzugehen. Auf der Krim müsse eine Volksabstimmung durchgeführt werden.