Prozess nach 1.-Mai-Demo: Wollte Gewerkschafter schlichten oder Polizeiarbeit behindern?
Zum Beginn des diesjährigen Gewerkschatfsfestes am 1. Mai auf dem Marktplatz in Mannheim kam es zu einem Polizeieinsatz, der für Kritik aus den Reihen der Gewerkschaften sorgte (KIM berichtete). Im Anschluss an die traditionelle 1-Mai-Demo versuchten Polizeikräfte der sogenannten BFE-Einheiten einen Mann festzunehmen, der einen Rauchtopf gehalten haben soll. Es kam zu einer Verfolgungsjagd quer über den Marktplatz. Ein Gewerkschaftssekretär kam hinzu, um die Sache zu klären. Doch dann wurde er selbst zu Boden gebracht und festgenommen.
Der Vorfall, den zahlreiche Besucher*innen des Festes mitbekamen, sorgte für Empörung. Noch am selben Tag kamen die Verantwortlichen von DGB und Einzelgewerkschaften gemeinsam auf die Bühne und übten scharf Kritik am Polizeieinsatz. Im Nachgang gab es Gespräche zwischen Gewerkschaften und Polizei und aus Sicht von Lars Treusch, Regionsgeschäftsführer des DGB, sei man hierbei übereinstimmend zum Ergebnis gekommen, dass derlei Eskalationen vermieden und der Vorfall gütlich geklärt werden sollte.
Umso überraschender war es nun für den Gewerkschaftssekretär, als er Ende August einen Strafbefehl erhielt: Er soll 100 Tagessätze wegen tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte zahlen. Damit würde er als vorbestraft gelten. Der schriftliche Strafbefehl liegt dem KIM vor.
Vermitteln im Konfliktfall oder Verhinderung einer Festnahme?
Was beim Gewerkschaftsfest geschehen war, ist kein Geheimnis. Zahlreiche Zeugen bestätigen, was aus Sicht des Gewerkschaftssekretärs passiert ist. Nach dem Ende der störungsfreien Gewerkschaftsdemo – es stieg in Höhe des Paradeplatzes zwar roter Rauch aus der Demo auf, dies hatte aber keine weitere Konsequenz auf den Verlauf des Marschs – strömte die Menge auf den Marktplatz, wo das traditionelle Mai-Fest begann. Ein kleiner Trupp der „Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit“ (BFE) aus Bruchsal identifizierte hier offenbar einen Verdächtigen, der den Rauchtopf gehalten haben soll. Als der junge Mann bemerkte, dass die Polizei hinter ihm her war, rannte er über das Fest auf den Marktplatz und der BFE-Trupp hinterher. Dabei wurde viele Menschen angerempelt, es kam zu einigem Aufsehen. Ein Gewerkschaftssekretär ging auf die Polizei zu, gab sich als Veranstalter aus und wollte den Vorfall klären. Dies bestätigen mehrere Augenzeugen. Auch ein Reporter des KIM war vor Ort.
Die Polizei interpretierte die Einmischung offenbar anders und nahm den Gewerkschaftssekretär fest. Er berichtete dem KIM von einem Griff an den Kopf von hinten, der ihn sofort zu Boden brachte. Da der Vorfall mitten auf dem Marktplatz geschah, sorgte er für Aufsehen und viele Menschen mischten sich ein. Die BFE-Polizist*innen verlagerten das Geschehen in eine Seitenstraße.
Widersprüchliche Wahrnehmungen oder bewusste Falschaussagen?
Noch vor Ort informierte sich KIM beim Polizeieinsatzleiter Jörg Lewitzki über den Vorfall. Dieser berichtete, die Polizei habe einen Mann festgenommen, der mit einem Schild auf die Beamten losgegangen sei. Der KIM Reporter entgegnete, dass nirgendwo ein Schild zu sehen war. Herr Lewitzki verwies darauf, dass seine Informationen von der Bruchsaler BFE Einheit stammten und er selbst nicht vor Ort war.
Besagtes Schild ist dann auch in der Aussage des Polizeizeugen POM S., die im Strafbefehl zitiert wird, kein Thema mehr. Stattdessen gibt er an, er sei vom Gewerkschaftssekretär „kräftig mit der flachen Hand gegen die Brust“ gestoßen worden. Verletzungen oder Schmerzen habe er keine erlitten und auch die ursprünglich geplante Festnahme scheint dem BFE Bruchsal später gelungen zu sein. Zumindest wird der beschuldigte Rauchtopf-Halter namentlich im Strafbefehl erwähnt.
“Seiner Art nach zur Verletzung von Personen oder zur Beschädigung von Sachen geeignet”
Wer hatte eigentlich die faktische Leitung des Polizeieinsatzes beim Gewerkschaftsfest? Zunächst muss in diesem Fall noch einmal geklärt werden, worum es eigentlich geht. Aufgabe der Polizei sollte es sein, bei Veranstaltungen für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Beim Abbrennen des Rauchtopfes während der Demonstration schritt die Polizei nicht ein. Tatsächlich ist auch nichts weiter geschehen, es gab keine Verletzten, keine Störungen, keine Beschwerden. Grundsätzlich ist das Verwenden von Pyrotechnik bei öffentlichen Versammlungen verboten. Dies ist in § 2 Absatz 3 des Versammlungsgesetz geregelt, da Pyrotechnik als waffenartiger Gegenstand gilt, der „seiner Art nach zur Verletzung von Personen oder zur Beschädigung von Sachen geeignet ist“.
Doch ganz so eindeutig ist es nicht immer. Nahezu zeitgleich zogen am 1. Mai in Plauen Neonazis durch die Stadt und schwenkten zahlreiche Rauchfackeln – alles anscheinend genehmigt durch die zuständige Versammlungsbehörde und die Polizei. Die Rechtslage lässt demnach der Polizei einen gewissen Spielraum. Sie muss beurteilen, was eine Waffe im Sinne des Versammlungsgesetzes sein könnte und welches Vorgehen im Einzelfall angemessen ist.
Nach dem Aufzug, zum Beginn des Festes auf dem Marktplatz, lange nachdem der Rauch verzogen war, schritt die Polizei dann ein. Im Zuge der Festnahme kam es zur Störung der Veranstaltung, als sich der Polizeitrupp seinen Weg durch die Menge bahnte. Einige Besucher*innen wurden regelrecht umgerannt. Spätestens hier stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit ganz offensichtlich.
Doch keine “gütliche Klärung”
Um die Sache nachzubesprechen, wurde ein Gespräch mit dem Polizeipräsidenten Andreas Stenger vereinbart, berichtete DGB-Geschäftsführer Lars Treusch, denn weder Veranstalter noch Polizei hätten ein Interesse an solchen Vorfällen. Das Gespräch sei konstruktiv verlaufen. Man habe sich gegenseitig darin bestärkt, dass derlei Eskalationen zukünftig vermieden und der Vorfall gütlich geklärt werden sollte. Der Polizeipräsident habe zugesagt, dass er sich nach erneuter Prüfung der Sachlage dafür einsetzen wolle.
Andreas Stenger ist Nachfolger von Thomas Köber. Er hatte am 1. Mai 2019 seinen ersten Arbeitstag und war vor Ort, allerdings wohl nicht unmittelbar bei der Festnahme zugegen.
Hat nun der Polizeipräsident sein Wort gebrochen, als der Strafbefehl gegen den Gewerkschaftssekretär erlassen wurde? Zumindest wurde das Ermittlungsverfahren in seinem Verantwortungsbereich, dem Polizeipräsidium Mannheim geführt, wie die Polizei auf Anfrage bestätigt. Von Gewerkschaftsseite gab es die Vermutung, dass vielleicht die Bruchsaler eigenständig ermittelt hätten. Der Polizeipräsident habe sich laut Gewerkschaften nach dem Gespräch nicht noch einmal gemeldet. Daher sei der Strafbefehl überraschend und unerwartet gekommen. Es kam nicht, wie erhofft, zur Einstellung des Verfahrens.
Gerichtsprozess und weitere Ermittlungen
Der Strafbefehl dürfte nicht das Ende der Geschichte sein. Der Gewerkschaftssekretär hat nach eigenen Angaben Einspruch eingelegt, so dass es zum Prozess kommen wird. Er ist von seiner Unschuld überzeugt und meint: „Ich war Mitveranstalter und Ordner. Meine Aufgabe war es, bei Konflikten zu vermitteln. Dass ich dafür bestraft werden soll, geht gar nicht.“ Es hätten sich bereits viele Augenzeugen gemeldet, die seine Version der Geschichte bestätigten. Auch nach Bildern und Handyvideos werde gesucht, um der Version der BFE-Einheit vor Gericht Fakten entgegen setzen zu können.
Währenddessen berichtet eine Gewerkschafterin von einem weiteren Ermittlungsverfahren. Sie sei vor Ort gewesen und habe die Festnahme ihres Kollegen mitbekommen. Sie habe mit den Polizist*innen gesprochen und ihre Personalien seien aufgenommen worden, „als Zeugin“ sei ihr versichert worden. Nun habe sie erfahren, dass gegen sie ebenfalls wegen tätlichem Angriff auf Polizeibeamte und versuchter Gefangenenbefreiung ermittelt werden. Die Polizei bestätigt, dass in insgesamt drei Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit dem 1. Mai ermittelt werde. Davon sei eines abgeschlossen. Das würde sich mit den drei in diesem Artikel beschriebenen Fällen decken.
„Die Ermittlungen gegen die Zeugin sind der Versuch einer Einschüchterung“, meint der Gewerkschaftssekretär dazu. Soviel ist klar: Wenn gegen sie nun auch ein Strafbefehl erlassen wird, werden sich weitere Augenzeugen des Vorfalls zweimal überlegen, ob sie in einem solchen Prozess gegen die Version der Bruchsaler BFE-Einheit aussagen.
(cki)
[su_box title=”Exkurs: BFE-Einheiten des Polizeipräsidiums Einsatz” radius=”5″]Das Land Baden-Württemberg unterhält neben den lokalen Polizeipräsidien in den Städten ein sogenanntes Polizeipräsidium Einsatz mit Sitz in Göppingen, das bei größeren Einsätzen und speziellen Lagen zur Unterstützung der lokalen Kräfte hinzugezogen wird. Neben mobilem Einsatzkommando, Wasserschutzpolizei und technischen Einheiten gibt es die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (kurz: BFE), die an verschiedenen Standorten, unter anderem in Göppingen und Bruchsal, kaserniert sind. Die BFE-Einheiten sind Sondereinheiten für den Einsatz bei politischen Demonstrationen und anderen Großveranstaltungen. Sie sind den lokalen Einsatzleitern unterstellt. Die BFE-Polizist*innen sind meist in kleinen Trupps anzutreffen, häufig vermummt, mit Schutzausrüstung und einer Videokamera ausgestattet. Taktisch sind die BFE-Einheiten als Aufstandsbekämpfungseinheiten einzuordnen. Die anderen Bundesländer haben vergleichbare Einheiten, teils unter anderem Namen. Auch im Ausland gibt es innerhalb der Polizei fast überall vergleichbare Einsatzkräfte, die international als Riot-Police berüchtigt sind. Durch ihre spezielle Ausbildung und die Unterbringung in Kasernen unterscheiden sich die Angehörigen dieser Einheiten von den konventionellen, im Streifendienst eingesetzten Polizist*innen. Ihr Alltag ist nicht vom Kontakt mit Bürger*innen, sondern von einer permanenten Bedrohungslage durch Krawalle, Ausschreitungen und Terrorgefahr geprägt. So unterscheidet sich auch ihr Verhalten auf Demonstrationen deutlich, wo BFE-Einheiten schnell mit Pfefferspray und Schlagstock bei der Sache sind. Im Zuge des G20 Gipfels 2017 in Hamburg wurde die soziale Konstellation und der kulturelle Habitus solcher kasernierter Einheiten thematisiert. Kritiker*innen werfen ihnen einen ausgeprägten Korpsgeist, eine hohe Gewaltaffinität sowie eine weite Verbreitung autoritärer Gesellschaftsvorstellungen vor. Am 1. Mai 2019 wurden die BFE-Einheiten von den Einsatzplanern des Führungs- und Einsatzstabes des Polizeipräsidiums Mannheim angefordert.[/su_box]