Zusammenstöße von Polizei und Jugendlichen am Plankenkopf – zwei Perspektiven auf einen Konflikt
Laut Polizeimeldung kam es zunächst am Freitagabend, 8.5.2020 zu einer ersten Auseinandersetzung zwischen einer größeren Jugendgruppe und der Polizei, die am Plankenkopf (dem Ende der Fußgängerzone gegenüber Wasserturm) sogenannte “Corona Streifen” durchführte, also die Einhaltung der Corona-Verordnung kontrollierte, insbesondere das Kontaktverbot. Bis zu 150 Personen hätten sich dort in Kleingruppen aufgehalten.
Eine Gruppe von 3 Personen habe sich „besonders uneinsichtig“ gezeigt und sollte daher einer genauen Kontrolle unterzogen werden. Dabei eskalierte die Situation. Laut Polizeimeldung hätten ein 16- und ein 17-Jähriger die Polizei angegriffen, was jedoch abgewehrt werden konnte. In der Folge sei es zu einem Solidarisierungseffekt gekommen, wobei auch eine Glasflasche gegen ein Polizeifahrzeug geworfen wurde. Die große Gruppe Jugendlicher habe nur durch ein Aufgebot der Polizei von 20 Streifenwagenbesatzungen bewältigt werden können.
Polizeipressemeldungen zu den Vorfällen am Plankenkopf
Pressemeldung Nr. 1 vom 8.5.2020
Pressemeldung Nr. 2 vom 10.5.2020
Die Sicht der Jugendlichen auf den Vorfall
Die zwei Jugendlichen, die festgenommen wurden, sagen, dass es ganz anders war. Der 17-jährige Scherief aus Ludwigshafen war mit seinem Mannheimer Cousin Mohammad (16) am Plankenkopf unterwegs. Der Plankenkopf sei ein beliebter Treffpunkt, man habe sich schon öfter dort aufgehalten und bisher keine Probleme gehabt. An besagtem Freitag, sei die Polizei sehr aggressiv gewesen. Scherief schildert den Vorfall im Gespräch mit dem KIM folgendermaßen: Die Polizei habe einzelne Personen angesprochen und nach Ausweisen gefragt. Er habe zugeschaut und sich daneben gestellt. Ein ihm unbekannter Mann sei zu ihm gekommen und habe gefragt, was los sei. Er habe geantwortet, er wisse es auch nicht genau. Daraufhin sei ein Polizist zu ihm gekommen und habe ihm gesagt, dass er jetzt eine Anzeige wegen Verstoß gegen die Corona-Verordnung bekommen würde.
Scherief sagt, er hätte daraufhin dem Polizisten erklärt, dass er den Mann gar nicht kenne und ihm nur kurz geantwortet hätte. Der Polizist sei davon unbeeindruckt gewesen und verlangte weiter nach seinem Ausweis. Scherief will dann noch einmal gesagt haben, dass er damit überhaupt nichts zu tun habe und einfach nur gehen wolle. Plötzlich sei Scherief von einem Polizisten zu Boden gerungen worden. Er habe das Knie gegen seinen Kiefer gedrückt. Außerdem habe er drei Faustschläge gegen den Kopf bekommen und sein Arm sei verdreht worden, was sehr schmerzhaft gewesen sei. Der Polizist soll gesagt haben: “Ich brech‘ dir deinen Arm, das geht ganz schnell”. Aufgrund der starken Schmerzen habe Scherief Angst gehabt, dass der Polizist das wirklich tue und sei ruhig gewesen.
Sein Cousin sei die ganze Zeit dabei gewesen und habe sich, als er vor Schmerzen schrie, zu ihm herunterbeugen wollen. Ab diesem Moment, so erklärt es Scherief, sei der Vorfall auf einem Video dokumentiert.
Man sieht in dem wenige Sekunden dauernden Clip, wie ein Mann auf dem Boden liegt, offenbar von zwei Polizisten fixiert. Scherief sagt, dass sei er selbst.
Ein Video verbreitet sich im Netz
Dann sieht man einen Mann im blauen Hemd, der daneben steht. Scherief sagt, dass sei sein Cousin Mohammad. Im Video sieht man, wie der Mann im blauen Hemd neben zwei Polizistinnen steht und offenbar von ihnen beruhigt wird, so wirken zumindest deren Gesten. Auch Mohammad wirkt mit herunter hängenden, offenen Armen nicht gerade aggressiv.
Plötzlich springt einer der Polizisten, die am Boden auf Scherief knien, auf und reißt Mohammad mit einem Griff gegen den Kopf zu Boden. Mit seinem Knie drückt er gegen das Gesicht von Mohammad. Ein Passant ruft „Hey“. Vermutlich vom Polizisten kommen die Worte „Bleib auf dem Boden. Bist du bescheuert oder was?“ Jemand anderes ruft „Du Hurensohn“ vermutlich in Richtung Polizei. Der Polizist sagt zu Mohammad mit ausgestecktem Zeigefinger: „Wenn du noch einmal meiner Kollegin in den Rücken, Alter, dann fällst du aber sowas von.“ Vermutlich sagt der Filmende darauf: „Der hat aber nichts gemacht, ich war da.“ Daraufhin entgegnet der Polizist: „Der hat nichts gemacht, du Spasti [undeutlich] Der ist meiner Kollegin in den Rücken gesprungen. Ist mir scheißegal, mach‘s Handy aus.“ Dann kommt ein anderer Polizist auf den Filmenden zu und das Video endet.
Das Video wurde über soziale Medien, wie Instagram, WhatsApp und Twitter im Netz verbreitet und hat offenbar mehr als 100 000 Aufrufe.
Scherief sagt am Montagabend im Gespräch mit dem KIM „Ich kann es mir nicht erklären, warum die so gehandelt haben. Ich habe nichts gemacht.“ Er vermutet, dass die Polizisten wegen den Corona-Kontrollen gestresst waren.
Er, sein Cousin und ein Dritter seien mit auf die Polizeiwache genommen worden und erst spät in der Nacht wieder frei gelassen. „Ich habe eine Anzeige wegen Körperverletzung oder Landfriedensbruch bekommen, ich weiß auch nicht warum“, sagt er mit ruhiger Stimme.
Das Video wurde in verschiedenen sozialen Netzwerken verbreitet. Wir haben es aus einem Twitter-Kanal kopiert, Gesichter möglicher Straftäter unkenntlich gemacht und die Dialoge (soweit verständlich) transkribiert. Ob es nur ein Ausschnitt aus einem längeren Video ist, wie die Polizei vermutet, ist uns nicht bekannt.
Auf Nachfrage bei der Pressestelle der Polizei gibt es mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen keine detaillierteren Auskünfte zu den Vorfällen am Freitagabend. Man wolle sich zunächst einen Gesamtüberblick verschaffen, die Arbeit der Ermittlungsgruppe gehe weiter voran. Im Verlauf des Gesprächs gibt es dann aber doch noch die eine oder andere Anmerkungen, welche die Perspektive der Polizei verdeutlicht. Man bemühe sich, bei den Jugendlichen Verständnis für die Corona-Verordnung und das Kontaktverbot zu erreichen und bei vielen gelinge das auch. Dazu seien Jugendsachbearbeiter*innen und Kommunikationsteams im Einsatz. Wenn aber Beleidigungen und Beschimpfungen in Richtung der Beamt*innen kämen, würden diese eben reagieren, zum Beispiel mit den Worten: „So, jetzt mal her mit dem Ausweis.“
Auf die Frage, ob auch wegen Fehlverhaltens von Polizist*innen am Freitagabend ermittelt werde, gibt es als Antwort nur den Hinweis: „Wir bewerten die Gesamtsituation“. Das in den sozialen Medien veröffentlichte Video sei Teil der Ermittlungen und es werde – sollte es sie geben – die ungekürzte Version des Videos gesucht, um die Situation besser beurteilen zu können.
Erneute Eskalation am Samstag mit Böllerwürfen und Schüssen aus Schreckschusspistole
Der Vorfall am Freitagabend hatte offenbar sehr viele jugendliche Zeug*innen, die Scheriefs Version bestätigen, und als sich das Video der Festnahme verbreitete, wurde dazu aufgerufen, gegen Polizeigewalt und Rassismus zu protestieren. So kam es, dass sich am Samstagabend laut Polizeimeldung noch einmal rund 250 Jugendliche am Plankenkopf versammelt hatten. Diesmal soll die Stimmung deutlich aggressiver gewesen sein. Es kam zu einem Großeinsatz der Polizei. Nach Böllerwürfen seien drei 13-, 16- und 17-Jährige festgenommen worden. Die Polizei berichtet von zwei leicht verletzten Beamten, die ein Knalltrauma durch Böllerwürfe erlitten. In der Fressgasse habe jemand mit einer Schreckschusspistole geschossen.
Scherief sagt, die Eskalation am Samstagabend sei eine Reaktion auf die Vorfälle am Freitag gewesen: „So viele waren von der Gewalt der Polizei schockiert“. Das Video habe sich schnell verbreitet und viele hätten in den sozialen Medien aufgerufen, zum Plankenkopf zu kommen.
Er selbst sei am Samstagabend aber nicht am Plankenkopf gewesen. Er sei zu dieser Zeit im Krankenhaus gewesen, um seinen Verletzungen vom Freitagabend behandeln zu lassen.
Wer trägt die Verantwortung für derartige Eskalationen?
Die Polizei nahm die Vorfälle offenbar sehr ernst und richtete eine 9-köpfige „Ermittlungsgruppe Plankenkopf“ ein, welche die Vorfälle aufklären soll. Besonderes Augenmerk wird dabei auf Böllerwürde, tätliche Angriffe und die Schüsse aus der Schreckschusspistole gelegt. Die Ermittlungsgruppe soll auch mit Hilfe von Datenanalyst*innen soziale Medien auswerten. Es wird zudem öffentlich nach Zeugen gesucht. Gemeinsam mit städtischen Sozialarbeiter*innen wurde am Sonntag eine Strategie entwickelt, wie dem Anziehungspunkt für Jugendliche, wie der Plankenkopf bezeichnet wird, begegnet werden kann. Oberbürgermeister Peter Kurz liefert im am Dienstag veröffentlichten Interview mit dem MM die so einfache, wie wichtige Erklärung: „Bei der Gruppe der jungen Männer am Plankenkopf spielt nicht allein das Thema Regeln eine Rolle, sondern ebenso, dass im Augenblick kaum Freizeitangebote zur Verfügung stehen.“
Derweil kursieren in sozialen Netzwerken zahlreiche Aufrufe, gegen Polizeigewalt zu protestieren. Der Treffpunkt gegenüber dem Wasserturm scheint dabei der Anziehungspunkt zu bleiben und so zeigt auch die Polizei dort weiterhin Präsenz. Welche der Aufrufe ernst zu nehmen sind und was halbstarke Prahlerei in der vermeintlichen Anonymität des Internets ist („Ihr könnt Waffen aller Art mitnehmen“), wird auch für die Analyst*innen der Polizei schwer zu filtern sein. Der Vorfall mit der Schreckschusspistole am Samstag zeigt, dass sich viel Wut aufgestaut hat, die zu gefährlichen Eskalationen führen kann.
Jugendliche in der Corona-Pandemie
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie treffen die Menschen unterschiedlich hart. Ältere, gefährdete Menschen, nehmen sie als Schutzmaßnahmen für sie selbst wahr. Jugendliche zählen dagegen nicht zur Risikogruppe und haben meist einen größerem Drang zum raus gehen, Freund*innen treffen und der häuslichen Isolation entfliehen. Insbesondere für diejenigen, die in kleinen Wohnungen, mit vielen Geschwistern und in einfachen Verhältnissen wohnen, war es die letzten Wochen schwer auszuhalten. Die soziale Spaltung der Gesellschaft in arm und reich, jung und alt, kommt in der Pandemie besonders schwer zum Tragen.
Auch für Polizist*innen ist die Zeit der Corona-Pandemie besonders hart. Während sich andere im Home Office schützen können, zählen Polizist*innen zu den Berufsgruppen, die vollumfänglich weiter arbeiten müssen, teils neue, komplizierte Aufgaben bekommen und einem erhöhtem Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Die Durchsetzung der Corona-Verordnung muss eine unangenehme Aufgabe sein. Ständig neue Vorschriften verunsichern und verwirren, führen zu Diskussionen und Unverständnis. Es ist den Bürger*innen schwer vermittelbar, dass zwar Fußballmannschaften wieder zum Training zusammen kommen, man aber nicht zu dritt auf einer Parkbank sitzen darf. Ist es sinnvoll, dass die Polizei mit einem Schlauchboot den Neckar auf und ab fährt und Gruppen von drei oder vier Jugendlichen anbrüllt, dass sie verschwinden sollen?
Was genau der Auslöser für die Eskalation am Freitagabend war, wem zuerst die Sicherungen durchgebrannt sind, wird das Geheimnis der Beteiligten bleiben, die ohnehin ihre subjektive Sicht auf die Geschehnisse haben werden. Die Polizei gibt den Jugendlichen die Schuld, die Jugendlichen sagen, die Polizei hat angefangen.
Am Ende wird es so sein, dass sich mit der Zeit die Lage entspannen wird und die Lockerungen der Corona-Verordnung auch das besonders repressive Handeln der Polizei nicht mehr erfordern. Die festgenommenen Jugendlichen werden wohl verurteilt werden, da die Polizei die Deutungshoheit inne hat, sowohl in der Medienlandschaft, wie auch vor Gericht. Die Jugendlichen haben dort keine Stimme, die Gewicht hat. Welche langfristigen Folgen derartige Vorfälle auf das Demokratieverständnis der Jugendlichen und deren Haltung zum Staat haben, ist schwer abzuschätzen. Mit Sicherheit werden solche Gewalterfahrungen ihre negativen Spuren hinterlassen.
(cki)