Von wegen Grundrechte – “Querdenken” und Corona
Grundrechte scheinen derzeit bedrohter als Eisbären. Aber ähnlich wie bei der Erderwärmung, handelt es sich weniger um eine Krise, als um eine stetige Entwicklung.
Bei Betrachtung einiger Argumente gegen die aktuelle Politik zur Bekämpfung der Covid- Pandemie in Deutschland, fällt auf, dass es durch die Reihen der Kritiker*innen – ob Rechtsgelehrte, Liberalos, Querdenken und/oder Verschwörungsideolog*innen – immer wieder um den Begriff Grundrechte geht und die Behauptung, dass diese aktuell massiv und unzulässig eingeschränkt würden.
Erfreulicherweise haben sich die Mannheimer*innen im Großen und Ganzen davon nicht beeindrucken lassen, sodass es der sogenannten Querdenken-Bewegung hier nach anfänglicher Euphorie kaum gelungen ist eine große Anzahl von Menschen zu gewinnen und auf die Straßen zu bringen. Die Lügen, Widersprüche und Paradoxien ihrer Ideen und Forderungen sowie die teils chaotische Organisation und Kommunikation bei Veranstaltungen oder in Chats, haben die örtliche Gruppe zuletzt marginalisiert. Auch wenn die in unregelmäßigen Abständen stattfindenden Aktionen wie Infostand oder Picknick im Luisenpark, wenig öffentlichen Zuspruch erfahren, sollte die Gruppe im Auge behalten werden. Das Pendel der Aussagen schlägt zwischen esoterisch- hippiesken Heileweltversprechen und radikal umstürzlerischen Anfeuerungsversuchen hin und her und eine weitere Radikalisierung Einzelner oder ganzer Gruppen ist nicht auszuschließen. Auf Grund ideologischer Nähe kann sich zunehmend auch rechtes Gedankengut etablieren. Sich stets wiederholende Abgrenzversuche, zeigen eher auf, wie wenig Sensibilität bei Querdenken überhaupt dafür herrscht, was schon menschenverachtende Aussagen sein können. Auch vor dem Hintergrund der Entwicklungen bei der Präsidentschaftswahl in den USA, zeigt sich, dass in der örtlichen Telegram-Gruppe von Querdenken demokratiefeindliche Einstellungen vertreten sind und sich Verschwörungserzählungen festigen und zur hauptsächlichen Grundlage ihres Handelns werden.
Zu den wesentlichen Eigenschaften unserer Grundrechte zählen unter anderen, dass sie keiner besonderen Qualifikation bedürfen und letztlich auch niemandem weggenommen oder selbst abgetreten werden können. So gelten folgerichtig Grundrechte auch für Menschen, die Grundrechte anderer nicht respektieren, was zugegebenermaßen seltsam wirkt, konsequent und wichtig bleibt. Aber sind Grundrechte aktuell tatsächlich bedrohter als in den vergangenen Jahrzehnten neoliberaler Hegemonie in Politik und Gesellschaft?
Bei Gruppen wie Querdenken und ihren Verbündeten, die sich zum Großteil sonst nie um die Einschränkung von Grundrechten anderer gekümmert haben, sollte es stutzig machen, wenn diese sich nun gebetsmühlenartig auf die Verteidigung der Grundrechte berufen und ihren Kampf unter das Banner des Friedens und der Freiheit stellen. Dabei trägt die Tatsache, dass das Grundgesetz selbst – bis auf eine Ausnahme – Einschränkungen und Konkurrenzen verschiedener Rechte vorsieht, überhaupt erst zur Handlungsfähigkeit der Gesellschaft bei. Bei Betrachtung der Forderungen dieser Gruppen, scheint es oft gar nicht um allgemeine Grundrechte zu gehen, sondern um die persönliche Freiheit tun und lassen zu können was sie wollen und sich dabei von niemandem hineinreden zu lassen. Im Zweifel auch gegen die Rechte anderer. Und das während Millionen von Menschen auf Grund von Armut, Prekarisierung, Diskriminierung oder gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit tatsächlich um ihre Grundrechte fürchten. Beispielsweise zunehmende staatliche Überwachung und polizeiliche Befugnisse, massiver Rückbau des Sozialstaates bei gleichzeitiger Privatisierung öffentlicher Infrastruktur oder auch die Einschränkungen des Asylrechts bis hin zum europäischen Grenzregime, haben ja immer nur Andere betroffen.
Der Ruf nach Eigenverantwortung folgt dabei oft einem neoliberalen Mantra mit seinem stark verkürzten Freiheitsbegriff, der nur noch das als Freiheit begreift und als Handlungsfreiheit verpackt, was den Konsum- und Wirtschaftskreislauf am Leben hält. Nicht zufällig begründen deshalb viele ihre Kritik an den staatlichen Maßnahmen mit der Mahnung, dass die Wirtschaft doch nicht geopfert werden dürfe. Dabei wird einerseits offensichtlich, dass mit Grundrechten also nicht diejenigen aller gemeint sein können und andererseits, dass lediglich der freiheitliche Aspekt von Eigenverantwortung betont wird, aber nicht derjenige, auch selbst die Konsequenzen für das Handeln zu tragen. Denn auch hier tritt das neoliberale Phänomen zum Vorschein, dass die Kosten überwiegend vergesellschaftet werden, wenn die sich nicht zur Risikogruppe zugehörig Fühlenden, die Folgen ihrer sogenannten Freiheit anderen aufbürden, weil sie selbst in keiner Weise bereit sind auch nur geringste Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Um ihre Ignoranz zum Widerstand aufzuwerten, wird hinter jedem Mund-Nase-Schutz eine kommende Diktatur herbeifantasiert, wenn nicht sogar perfide, weil dessen Opfer verhöhnende, Vergleiche mit dem Nationalsozialismus angestellt werden. So wird auch die Forderung nach Wahrung der Grundrechte nur noch zur Maskerade für die eigenen Interessen einer lauten Minderheit, die dann durch ihr Verhalten Risikogruppen (nach Schätzungen bis zu 20 Mio. Menschen in Deutschland) in Geiselhaft zu nehmen bereit ist. Dafür sind sie dann durchaus bereit, Rechte in Frage zu stellen, aber doch bitte nur die der Anderen.
Da schließt sich dann aber auch der Kreis zwischen Gruppen wie Querdenken und Liberalos, die Eigenverantwortung statt Ge- oder Verboten propagieren, dabei aber meist nur das „Eigen“ im Sinn haben, statt auch die Verantwortung mitzudenken. Weil nämlich unbedingte Eigenverantwortung nur dort vertretbar sein kann, wo durch das eigene Handeln nicht andere unverhältnismäßig und fahrlässig gefährdet werden. Das hat viel mit der egozentrisch- neoliberalen Auslegung der Grundrechte zu tun, welche diese, sich selbst gern als kritisch und freiheitlich bezeichnenden, Personen und Gruppen vornehmen.
Das Virus wird hoffentlich irgendwann zu bekämpfen und schließlich zu kontrollieren sein. Bis dahin bleibt es allerdings nicht nur wichtig dessen Verbreitung im Namen der vulnerablen Personen einzudämmen, sondern auch zu hinterfragen, welche gesellschaftlichen Zustände überhaupt dazu beigetragen haben, dass ein nahezu komplettes Herunterfahren des öffentlichen Lebens notwendig scheint. Natürlich müssen die getroffenen Maßnahmen, besonders in obrigkeitsstaatlicher Form, wie wir sie aktuell verstärkt erleben, jederzeit einer kritischen Prüfung unterzogen werden, die vor allem auch von einer aufgeklärten Öffentlichkeit getragen wird. Aber dafür reicht es eben nicht aus einen stark verkürzten Begriff der Grundrechte in Stellung zu bringen. Dies zeugt eher von argumentativer Ohnmacht und Unkenntnis von Herrschaftsstrukturen, als von konstruktiven und solidarischen Ideen, wie Grundrechten ein tieferer Gehalt beigemessen werden kann, der über neoliberale Freiheits- und Selbstverwirklichungskonzepte hinausgeht.
Letztlich bleibt es deshalb für progressive politische Kräfte unerlässlich an eigenen Lösungen in Zeiten der Pandemie zu arbeiten und zu fordern, dass die Folgen und Kosten nicht gleichmäßig, sondern gerecht verteilt werden und zum Beispiel nicht einzelne Sektoren, wie Kultur- oder Gastronomiebetriebe die Lasten tragen, während täglich Millionen Menschen pendeln und sich einem Risiko aussetzen müssen, um weiterhin Gewinne zu produzieren, an denen sie viel zu gering beteiligt werden. Es braucht überhaupt Diskussionen über eine Neugestaltung der Arbeits- und Lebenswelten, der Organisation von Städten und Mobilitätskonzepten, aber auch der gerechteren Umverteilung gesellschaftlichen Wohlstandes und der Demokratisierung auf mehreren Ebenen. Und natürlich eine bedeutendere Wertschätzung all derer, auf die in einer solchen Krise Verlass sein muss. Es wird Zeit nicht nur dem Virus, sondern auch den Zuständen etwas entgegen zu setzen.
D.B.