Spazieren oder Flanieren
Am Montag den 20.12.2021 haben sich in der zweiten Woche in Folge mehrere hundert Gegner*innen der Corona-Schutzmaßnahmen zu einem „Spaziergang“ in Mannheim verabredet. Selbstgestecktes Ziel war es, sich gegen 19:00 Uhr um den Wasserturm herum zu versammeln und anschließend gemeinsam durch die Innenstadt zu laufen.
Nachdem die Ordnungskräfte der Stadt Mannheim in der vergangenen Woche etwas überrascht wirkten, versuchten sie diesmal das Zusammenkommen einer größeren Gruppe bereits im Vorhinein zu verhindern. Dennoch gelang es einer Gruppe von etwa 300-500 Menschen in die Planken vorzudringen, wo es zu einer ersten direkten Auseinandersetzung mit Polizeikräften kam. Trotz massiven Polizeiaufgebotes gelang es größeren Gruppen von Menschen sich immer wieder zusammenzuschließen. Erst nach einem etwa anderthalb Stunden andauernden Katz- und Mausspiel zwischen „Spazierenden“ und der Polizei sowie mehreren Festnahmen und Anzeigen beruhigte sich die Lage in der Innenstadt. Spätestens nach dem Zünden mehrerer Böller in der Nähe des Mannheimer Rathauses wurde jedoch deutlich, dass das individuelle Verständnis eines friedlichen Spazierganges unter den Teilnehmenden sehr weit auseinandergeht.
Spaziergang, der (Substantiv, männlich): zur Erholung, zum Vergnügen. (DUDEN)
Zunächst eine gute Nachricht: Entgegen des in den eigenen Telegram- Gruppen immer wieder propagierten „rasanten Anwachsens des Widerstandes“ sind die Zahlen der Teilnehmenden verhältnismäßig überschaubar. Erst recht bei der Betrachtung der Größe der gesellschaftlichen Herausforderung der Pandemie und den wohl bevorstehenden, mutmaßlich notwendigen härteren Maßnahmen gegen eine Welle der Omicron- Variante, erscheinen ein paar hundert Demonstrant*innen in Mannheim und mehrere Tausend bundesweit zahlenmäßig verkraftbar. Es handelt sich immer noch um eine laute Minderheit, die mancherorts leicht wächst, andernorts stagniert oder sogar kleiner wird. Doch „Die, die am lautesten reden, sagen nicht auch die meiste Wahrheit“ (Maeckes).
Nun die schlechte: Wie uns Idar-Oberstein erneut gezeigt hat, reicht jedoch auch die permanente Beschallung einer Minderheit mit rechter Propaganda, Lügen und Verschwörungserzählungen aus, um eine reale Bedrohung für uns alle zu erzeugen. Eine erhöhte Gewaltbereitschaft zeigt sich auch in zunehmenden Angriffen auf Test- Infrastruktur oder das Bedrohen bestimmter Berufsgruppen wie Lehrer*innen oder Ärzt*innen, auch hier in der Region.
Aktuell fällt es schwer ein klares Fazit unter die bisherigen Versammlungen in Mannheim zu ziehen, aber auch die Stärke der Bewegung insgesamt einzuschätzen. Einerseits mögen die Anzahl der Teilnehmer*innen sowie die Bilder, die diese in einer trotz Pandemie gefüllten abendlichen, vorweihnachtlichen Innenstadt erzeugen, auf den ersten Blick erschrecken. Andererseits ist schwer auszumachen, wer der Gruppe zuzurechnen ist und wer sich tatsächlich zum Vergnügen bzw. Shoppen in der Mannheimer Innenstadt aufhält oder den Tross schaulustig begleitet.
Dass es sich bei den Spaziergängen um Versammlungen zur Bildung, dem Austausch und Ausdruck politischer Meinungen handelt und nicht um das bloße Lustwandeln und Flanieren, dürfte auch den meisten Teilnehmenden klar sein. Dass manche ernsthaft damit zu argumentieren versuchen ist dann schon deutlicher Ausdruck politischer Naivität und Inhaltslosigkeit, die sich auch in dem immer wieder, meist eher kläglich wahrnehmbaren Mantra “Frieden, Freiheit, keine Diktatur” ausdrückt. Insofern überwiegt in Mannheim vermutlich weiterhin die von den Versammlungen ausgehende Infektionsgefahr, die tatsächliche politische Relevanz.
Auch in Mannheim hat sich jedoch eine recht heterogene Masse von Menschen am Spaziergang beteiligt. Dies heißt jedoch nicht notwendig, dass damit auch “die breite der Bevökerung” repräsentiert gewesen sei, wie sie selbst gern behaupten. Eigenwahrnehmung und Realität klaffen auch hier weit auseinander, was für eine immer festere Abschottung in ihrer ideologischen Festung spricht.
Ich spaziere also bin ich.
Als einer der wohl bekanntesten Spaziergänger aller Zeiten gilt Immanuel Kant. Einer Anekdote nach hätten dessen regelmäßige Spaziergänge dazu dienen können die Uhren in Königsberg danach zu stellen. Stehen wir also in Anbetracht so vieler Spaziergänge und quer denkender Menschen unmittelbar vor einem erneuten aufklärerischen Umbruch in der Geschichte? Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Eher nicht.
Um wen handelt es sich eigentlich bei den Spazierenden in Mannheim?
Das Gros bei den Veranstaltungen in Mannheim bilden weiterhin Männer mittleren oder gehobenen Alters und aus verschiedenen politischen Spektren irgendwo zwischen Esoterik/Antroposophie, Konservatismus und rechter Ideologien. Darunte sichtlich auch einige mit ausgeprägtem Hang zur Selbstdarstellung und dem Drang Teil oder gar Anführer einer großen Bewegung sein zu wollen. “Mutig” gingen sie voran, auch wenn sie nicht genau zu wissen scheinen wohin und was dort zu tun sei. Eine weitere größere Gruppe bildeten Frauen wohl aus ähnlichen politischen Zusammenhängen, welche sich zusätzlich über ihre Rolle als schützende und sorgende Mütter in der Bewegung wiederfinden, was sich auch in den Argumentationen wiederfindet, wo der Slogan “für unsere Kinder” (Alligatoah lässt grüßen) als kaum überwindbare, aber letztlich inhaltsleere Rechtfertigung für jeglichen Unsinn herhalten muss.
Auf der einen Seite haben wir also die aufopferungsvollen Männer, die sich nicht scheuen alles für ihre gott- oder naturgegebene Aufgabe zum Schutz des “Volkes” zu unternehmen -ob das Volk es will oder nicht- und ihren Führungsanspruch wahrzunehmen. Auf der anderen Seite die Frauen, die stets die Familie/die Bewegung im Blick haben und alles zusammenhalten. Dieser konservative/reaktionäre Kern sorgt womöglich auch für die Anziehungskraft für viele Menschen der sogenannten Mitte. Bei Querdenken finden sich klare Rollenverteilungen und einfache Lösungen gegen eine scheinbar immer komplexer und unübersichtlicher werdende Welt. Es gibt das gute Wir das Volk und das böse Die da oben. Das alte Normale und das bedrohliche Neue. Grundrechte gegen Diktatur. Die altbekannte Klaviatur des Rechtspopulismus spielt einfache Lieder für Teile einer verunsicherten Mittelschicht.
Querdenken zeichnet auch in diesem Sinne ein Abbild extrem konservativer Einstellungen und Deutungsmuster. Insofern scheint es nicht sehr verwunderlich, dass sich auch rechte Ideologien dort ausbreiten können und sie von vielen nicht mal als solche wahrgenommen werden oder als solche sogar verleugnet werden.
Grund? Rechte!
Diese Antagonismen nehmen rechte Akteure seit Beginn der Pandemie dankbar auf und die Einflüsterung ihrer Scheinlösungen und Ideologien in Form von Lügen, Falschbehauptungen und Verschwörungsmythen schreitet zusehends voran, sodass ein Großteil der Bewegung vermutlich kaum mehr rational erreichbar sein dürfte, zumindest nicht für einen demokratischen „Mainstream“. Für die oben genannte Einfachheit zeigen sich vereinzelt zwar auch ehemalige Linke anfällig, aber der Rechtsdrift der Bewegung wird zunehmend deutlicher und wohl auf mittlere Sicht unumkehrbar. Und so wird auch eine weitere Gruppe immer sichtbarer. Im Osten der Republik haben die rechtsextremen „freien Sachsen“ bereits die Organisation der Veranstaltungen gegen die Coronamaßnahmen weitgehend übernommen. Die Symbolik des Fackelaufzuges vor der Privatwohnung einer sächsischen Regierungspolitikerin spricht hierüber Bände.
Auch hier in der Region versucht eine Telegram- Gruppe mit dem Namen „freie Pfälzer“ immer mehr Einfluss auf die Bewegung zu nehmen. Noch findet die verbale Aufrüstung überwiegend in den Chatgruppen statt, aber der Ton und Umgang wird auch auf den Straßen rauer. So sorgten in Mannheim auch aktions- und erlebnisorientierte Jugendliche gemeinsam mit anderen Männern gezielt für die Konfrontation mit der Polizei, wobei sie von den umstehenden Spazierenden eher bestärkt als gebremst wurden. Grundsätzlich gibt es an Konfrontationen mit der Staatsmacht erstmal wenig auszusetzen. Das Problem ist nur, wer sich hier gerade darin übt, die staatliche Macht in Frage zu stellen. Und wie lang wollen die „friedlich Spazierenden“ noch die Augen davor verschließen, dass sie nur als Deckmantel rechter Agitation dienen?
Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass die gesamte Bewegung „Querdenken“ in ihrer Breite den Weg in rechtsextreme Organisationen findet, bietet sie rechten Akteur*innen momentan eine gute Gelegenheit sich in dieser auch für die Sicherheitsbehörden unübersichtlichen Lage, intensiver und breiter zu Vernetzen und Nachwuchs zu gewinnen. Angesichts der zunehmenden rechten Bedrohung in Deutschland, erzeugt jedes noch so kleine Machtvakuum, ob virtuell oder auf der Straße, eine willkommene Gelegenheit für Rechte, dieses zu füllen. Die Misserfolge der AfD bei den vergangenen Wahlen sollten darüber nicht hinwegtäuschen.
Was tun?
Zum Schluss noch ein Lichtblick: Hannah Arendt hat in ihren Überlegungen „Über die Revolution“ darauf hingewiesen, dass manchmal die Macht auch auf die Straße fallen kann und einfach aufgehoben werden müsse. Ein gesellschaftliches Machtvakuum muss demnach nicht zwangsläufig von Rechten ausgefüllt werden und auch der Neoliberalismus kann das immer wieder krisenfördernde seiner Ideologie kaum mehr verdecken. Die sozialen Kämpfe innerhalb unserer Gesellschaft werden auch nach der Pandemie an Brisanz gewinnen und linke, solidarische Antworten werden genauso notwendig sein, um den Kreislauf kapitalistischer Krisen zu brechen, wie die Rückbesinnung auf die antifaschistischen Elemente des Grundgesetzes, um die zunehmende rechte Bedrohung auf allen Ebenen zurückzudrängen. Was uns die Pandemie ebenso eindrucksvoll gezeigt hat? Die wachsende Kluft zwischen den Interessen von Profiteuren in Krisen und Ausgebeuteten ist auf vielen Ebenen noch präsenter geworden. Der Klassenkampf ist nicht im Lockdown. Es wird Zeit ihn wieder aufzunehmen, denn wie sich nicht all zu überraschend abzeichnet, ist auch eine Ampelregierung, keine Lösung für unsere größten gesellschaftlichen Herausforderungen.
Text/Bilder: DeBe