„Das war die größte Friedensdemonstration“ [mit Bildergalerie und Video]
„Das war die größte Friedensdemonstration, die es in dieser Region je gab“ kann der Mitorganisator der Demonstration „Frieden und Zusammenhalt. Solidarität mit der Ukraine“, Gerhard Fontagnier, gegen Ende der Veranstaltung zufrieden feststellen: 10.000 Menschen kamen nach Polizeiangaben in zwei Demonstrationszügen vom Alten Messplatz in Mannheim und vom Berliner Platz in Ludwigshafen (1.000 Menschen) auf dem Schloss-Ehrenhof und der davor gelegenen Bismarckstraße zusammen. „Schluss mit dem völkerrechtswidrigen Krieg von Putin gegen die Ukraine“ ist der alle Teilnehmenden verbindende Kern der Botschaft. Manche Unterschiede in Sichtweisen und geforderten Maßnahmen werden dennoch vernehmbar, ändern aber nichts am gemeinsamen Zeichen, das alle senden wollen, wie in vielen anderen Städten der Bundesrepublik und Europa auch.
Videobeitrag bei Youtube: https://youtu.be/3a4nqf2OCv0
Gegen 17.45 Uhr eröffnet Fontagnier die Kundgebung auf dem Ehrenhof. Er versucht, deren Ziele in einer Frage-Antwort-Liturgie mit den Teilnehmenden zusammenzufassen: „Was wollen wir? Was sagen wir zum Krieg? – Nein! – Was sagen wir zu Putin? – Nein! – Was sagen wir zum Überfall [auf die] Ukraine? – Nein!“ Manche Ältere gruselt es ein wenig.
Erste Rednerin ist die Sekretärin des Dachverbandes Ukrainischer Organisationen in Deutschland, Kateryna Malakhova. Sie klagt in ihrer emotionalen Rede: „Ich habe mein normales Leben verloren, und ich weiß nicht, wann und wie ich es wieder erlange.“ Sie bezeichnet den Krieg als „Krieg zwischen der Demokratie und dem Totalitarismus“, als „Krieg zwischen der Armee des Lichts und der Armee der Dunkelheit“. „Ukrainer sind Europäer“ ruft sie aus, „und wir schützen durch unseren Kampf auch Europa vor Putin.“ Sie bedankt sich für die große Unterstützung durch Spenden aus der Bevölkerung und fordert u.a.: „Verbot aller Pro-Putin-Medien in Europa. Unterbindung jeglicher wirtschaftlicher Beziehungen mit Russland. Mit diesen Maßnahmen können wir Putin zwingen, den Krieg zu beenden und seine Truppen abzuziehen.“ „Deswegen fordern wir die Unterstützung des Eilantrags der Regierung der Ukraine auf Aufnahme in die Europäische Union.“ „Und das Wichtigste: Die Ukraine braucht mehr Lieferungen von Verteidigungswaffen für Soldaten und die territorialen Verteidiger der Städte.“ Gegen Abschluss ihrer Rede skandiert sie mit einigen Teilnehmer:innen der Kundgebung: „Flugabwehr!, Flugabwehr!….“
Als Nächstes wird ein Text von Larissa Bogacheva krankheitshalber verlesen, einer in der Region lebenden russischen Friedensaktivistin und Putin-Gegnerin. Sie entstammt einem ukrainisch-russischen Elternhaus, die Eltern leben in Russland. Sie bringt ihre Empörung und ihren Schmerz über den russischen Angriffskrieg zum Ausdruck. Diese Empörung werde gegenwärtig von Vielen in Russland geteilt, noch nicht jedoch von der Mehrheit. Wer es wollte, hätte sich bis jetzt über den Krieg informieren können. Es solle später niemand sagen, man habe das nicht gewusst. „Putin führt nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine und die Menschlichkeit – er führt einen totalen Vernichtungskrieg gegen das eigene Land!“. Bogacheva berichtet von einer mutigen Frau, die die Blockade von Leningrad durch die Hitlertruppen überlebt hat, die dort ein Schild hoch hielt: „Soldat, lass deine Waffe fallen, und du wirst ein echter Held sein!“ Abschließend mahnt Bogacheva dringlich, dass Menschen nicht nach Hautfarbe unterschieden werden dürfen, auch nicht Menschen, die vor dem Krieg auf der Flucht sind.
Pfarrerin Anne Ressel folgt als Sprecherin der beiden großen Kirchen. Sie verweist auf die ganz praktischen humanitären Hilfsmaßnahmen, die auch von den Kirchen ergriffen werden. Für die Kirchen könne Frieden nur zusammengedacht werden mit Gerechtigkeit und Erhaltung der Schöpfung. Sie begrüßt die mit überwältigender Mehrheit gefassten Beschlüsse der UN-Generalversammlung gegen den völkerrechtswidrigen Krieg.
„Wir begrüßen alle Bemühungen zu deeskalieren und zu vermitteln.“ „Dazu braucht es den Willen aller Verantwortlichen, sich nicht der Logik der Waffen zu ergeben, die niemals zu dauerhaftem Frieden führt.“ Mit äußerster Klarheit stellt Ressel fest: „Die Friedensinitiativen der Kirchen sind erschüttert über die geplante Aufstockung des Rüstungsetats Deutschlands. Es wird jetzt sehr darauf ankommen, sich nicht Herzen und Sprache vergiften zu lassen. Der Weg zum Frieden führt über Verhandlungen.“
Nach Anne Ressel sprechen die drei Bürgermeister:innen von Ladenburg, Ludwigshafen und Mannheim.
BM Stefan Schmutz spricht dabei auch für mehrere Bürgermeister:innen der Bergstraße und des Rhein-Neckarkreises. Er erklärt Mitgefühl und seine Solidarität mit „allen Ukrainerinnen und Ukrainern, die sich heldenhaft gegen eine militärische Übermacht stellen.“ Nach Auffassung von Schmutz markiert der Überfall auf die Ukraine „eine Zeitenwende, das Ende von über 75 Jahren Frieden in Europa“.
„Der Krieg in der Ukraine ist ein Krieg zwischen dem Prinzip der Herrschaft und der Autokratie und gegen das Prinzip der Demokratie und der Vielfalt.“ Auch Schmutz bezieht sich auf die Generalversammlung der Vereinten Nationen: „Die gesamte freie Welt, 141 Staaten, stehen auf der Seite der Ukraine“. Man stehe auch zu den Schwierigkeiten, die es geben werde aufgrund der Sanktionen gegen die russische Regierung. „Denn in welchem Verhältnis stehen schon Lieferschwierigkeiten und sinkende Dividenden gegenüber Leben von Kindern, Frauen und Männern!“
OB Jutta Steinruck, die sich als „Kind des Kalten Krieges“ bezeichnet, spricht von ihrer zerplatzten Hoffnung, dass es „nach Glasnost und Peristroika“ auf europäischem Boden nie wieder Krieg geben werde. Sie fordert, es nicht zuzulassen, „dass ein Verrückter uns unsere ganze europäische Friedensordnung kaputtmacht“. „Wir brauchen in Europa, dass wir uns bekennen, dass wir uns gemeinsam für Frieden einsetzen – nicht nur heute. Bleibt laut!“
OB Peter Kurz bedankt sich „für dieses großartige Zeichen für Frieden und Zusammenhalt in Europa.“ Der Krieg müsse sofort beendet werden. „Putin hat den Widerstand und den unbändigen Freiheitswillen der Menschen in der Ukraine unterschätzt“. Es sei offensichtlich, dass er die Ukraine nicht kannte und nun die Zivilbevölkerung als Angriffsziel greife. „Sind wir wehrlos?“, fragt der OB. „Nein, wir sind nicht wehrlos“. Er verweist auf die nicht enden wollenden Demonstrationen weltweit. Sie seien ein Zeichen des Nicht-Wegschauens, des Sich-Einmischens und des konkreten Helfens. Putin gelinge nicht die Spaltung der Demokratie. „Die Demonstrationen sind ein Zeichen, dass wir zur Ukraine stehen und auch bereit sind, die Folgen zu tragen.“ „Die Demonstrationen sind kein Akt der Aggression, hier stehen Menschen nicht gegen Russland, sondern für Frieden, Freiheit und Demokratie in der Ukraine. Hier stehen viele Menschen, die wie eine deutliche Mehrheit der Deutschen auf Diplomatie und Verständigung gesetzt haben. Wenn Putin dies als Schwäche sah, hat er sich getäuscht. Putin wird nicht nur nicht gewinnen, er hat jetzt schon verloren.“
Dies mache die Situation jedoch nicht einfacher oder ungefährlich. Kurz beschwört die Einheit Europas und den Kampf für die Erhaltung der Demokratie, auch im Inneren. Mannheim habe sich schon immer als internationale Stadt des friedlichen Zusammenlebens verstanden. Dies zeige sich auch an der überwältigenden Hilfsbereitschaft der Menschen in der Region. Kurz dankt allen Institutionen, Vereinen und Menschen, die sich hier engagieren. Er berichtet, dass die Stadt seit vielen Jahren eine enge Zusammenarbeit mit der westukrainischen Stadt Czernowitz pflege. Man stehe täglich in Kontakt. Die Stadt sei noch nicht angegriffen worden, jedoch seien 15.000 Geflüchtete dort eingetroffen, darunter 3.000 Kinder. Auch die Mannheimer Partnerstädte Bydgoszcz (Polen) und Chisinău (Republik Moldau) nähmen viele Geflüchtete auf. Der Verein „Mannheim hilft ohne Grenzen“ und das Klinikum seien aktiv. Auch in Mannheim seien die notwendigen Strukturen aufgebaut, es gebe eine zentrale Service-Telefonnummer, um alle Hilfsmaßnahmen zu koordinieren. Dies sei praktische Solidarität mit „der Ukraine, die sich mit einer enormen Stärke verteidigt und für ihre Rechte einsteht“. „Unser Protest richtet sich nicht gegen die Menschen aus Russland“, mahnt der OB. „Wer Menschen aus Russland allein wegen ihrer Herkunft aus Russland angeht oder ausgrenzt, arbeitet nicht für sondern gegen den Frieden“. Auch unter diesen Menschen gebe es viel Solidarität und Hilfsmaßnahmen, z.B. seitens der russisch-orthodoxen Gemeinde. „Unsere Stärke ist der Zusammenhalt. Der Krieg muss ein schnelles Ende finden!“
Nach dieser Rede des Oberbürgermeisters von Mannheim schließt sich ein umfangreiches Kulturprogramm an, u.a. mit Ensemblemitgliedern des Nationaltheaters. Danach – es ist mittlerweile etwa 18.40 Uhr – steht ein weiterer Rede-Block der demokratischen Parteien auf dem Programm: Ralf Heller (DGB), Isabel Cademartori MdB (SPD), Nils Olaf Born (Ko-Sprecher Grüne), Christian Hötting (Kreisvorsitzender CDU), Konrad Stockmeier MdB (FDP) und Gökay Akbulut MdB (DIE LINKE). Christopher Probst (Mannheimer Liste) hatte abgesagt. Mehrheitlich verständigen sich die vorgesehenen Redner:innen, auf ihre Beiträge zu verzichten. Der Platz hat sich zu diesem Zeitpunkt fast schon geleert, und die Kälte ist erheblich.
Kommentar
Diese Demonstration und Kundgebung waren ein sehr starkes Zeichen gegen den Krieg, das sich auch bundesweit sehen lassen kann. Die Organisation und Moderation lag bei drei grünen Stadträt:innen und der Ko-Sprecherin des grünen Stadtverbandes [siehe nachträgliche Richtigstellung unten], somit bei der gegenwärtig stärksten Partei (Gemeinderatswahl 2019) der Stadt. Ihre Vernetzung ist für die Anschlussfähigkeit eines Aufrufes nicht unwichtig. Entscheidend für den Erfolg bleibt allerdings der Drang vieler Tausender Menschen, ihrem Zorn über den Angriffskrieg, ihrer Sorge über die Ausweitung zu einem europäischen und am Ende weltweiten Flächenbrand, ihrer Solidarität und ihrer Hilfsbereitschaft sichtbar Ausdruck zu verleihen.
Es wird – so ist zu befürchten – nicht das letzte Mal die Notwendigkeit bestanden haben, massenhaft gegen den Krieg und für Frieden zu demonstrieren. Das Orgateam sollte sich dann aber auf eine breitere Basis stellen, um nicht den Eindruck zu erwecken, man habe das Demo-Wesen in Mannheim gepachtet. Ursprünglich sollte es ja um „Uffbasse!“ und Corona gehen (vom selben Team lanciert). Eine Erweiterung des Orgateams setzt jedoch die Bereitschaft der Erweiternden zur Aufbringung enormen Fleißes voraus. Sonst wird das nichts.
Unter der Oberfläche der eindrucksvollen Demonstration schwelen natürlich jetzt schon Konflikte um unterschiedliche, teils widersprechende Aussagen und Strategien. Das Orgateam machte gegenüber Redner:innen-Anmeldungen aus dem dezidiert linken und friedensbewegten Milieu deutlich, es gehe hier nun mal nicht um eine politische Diskussionsveranstaltung, sondern um das eine klare Ziel: Schluss mit dem Krieg!
Unvermeidlich setzten die sechs Redner:innen, bei denen es dann blieb, deutlich unterschiedliche Akzente: Kateryna Malakhova forderte (defensive) militärische Unterstützung für die Ukraine – ihr gutes Recht, Unterstützung bei der Selbstverteidigung überall zu fordern, wo es nur geht. Die Resonanz hielt sich jedoch in Grenzen. OB Kurz strich die Kraft der Solidarität, der politischen Isolierung Putins, des Zusammenhalts Europas und der Verteidigung der Demokratie sowie der praktischen Hilfeleistung heraus. Von Waffen sprach er nicht. Und er wandte sich gegen ethnische Frontenbildung der Gestalt, dass z.B. Russ:innen allein wegen ihrer Nationalität ausgegrenzt werden. Die Russin Larissa Bogacheva erinnerte immerhin auch an die Geflüchteten anderer Hautfarbe; sie hatte ja auch auf den Syrienkrieg geblickt. Tatsächlich hungern und erfrieren Geflüchtete an den Außengrenzen von Belarus, die jetzt keineswegs vergessen werden dürfen wie all die anderen.
Auf das militärpolitische Geschehen weit über den aktuellen Ukrainekonflikt hinaus, welches der Deutsche Bundestag mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen hat, kam ausschließlich Pfarrerin Anne Ressel zu sprechen und zeigte sich entsetzt.
Es geht hier und heute bereits um die Frage, wie der Weltfrieden hergestellt und erhalten werden kann. Momentan findet ein beängstigendes Roll-back der „Friedenspolitik“ Richtung „Alles eine Sache der besseren Bewaffnung“ statt. Kein Wort von internationaler und sozialer Gerechtigkeit, von der Beendigung unfairer Handelsbeziehungen, von der Verelendung riesiger Landstriche aus reiner Profitgier Weniger, vom Nährboden des internationalen Terrorismus. Stattdessen wird die Frage aufgeworfen, warum die Bundeswehr angeblich so schlecht ausgerüstet sei, wo das ganze Geld für „Verteidigung“ geblieben sei. Gab es denn nicht die teure Umstellung der Territorialarmee auf eine international einsetzbare professionelle Eingreiftruppe? Waren „wir“ nicht in Afghanistan, „unsere“ Freiheit” zu verteidigen? War das billig? Nun soll wieder das Rad auf den Kalten Krieg zurückgedreht werden?
Wer hier verantwortlich agieren will, darf sich nicht in Rhetorik von „Licht gegen Finsternis“ verirren. Es ist viel, viel komplizierter. Die beiden jüngeren Bürgermeister:innen scheinen glatt vergessen zu haben, dass es bis vor 23 Jahren einen furchtbaren „Krieg in Europa“ gegeben hat, der die erste „Flüchtlingswelle“ vom Balkan hierher verursachte, ein Krieg der ethnischen Gewalt und der geopolitischen Neuordnungsversuche. Und auch der letzte Irakkrieg kostete die Menschenleben zwar im Mittleren Osten und nicht in Europa, wurde aber von Heidelberg aus dirigiert, von Ramstein aus über die Luft mit Nachschub versorgt, und Mannheim war das terrestrische Logistikzentrum. Coleman ist es schon wieder, diesmal für die Aufrüstung der NATO-Ostgrenzen. Und dass die 141 Mitgliedsstaaten der UN, die für die Resolution gegen den Ukrainekrieg gestimmt haben, zwar positiverweise das Völkerrecht gestärkt haben, aber nicht unbedingt Teil der westlich definierten „freien Welt“ sind, sollte auch nicht in Vergessenheit geraten.
Die Friedensbewegung weiß dies alles. Sie brachte vor einer Woche nur 350 Menschen auf die Beine, „mangelnde Anschlussfähigkeit“? Wir brauchen noch viel, viel Diskurs und friedenspolitische Verständigung.
Thomas Trüper (Bilder: cki, Friedensbündnis Mannheim)
Richtigstellung: Es handelte sich bei der vierten bühnenpräsenten Person des Orgateams nicht um die Co-Sprecherin des Grünen-Kreisverbandes, Sophia Dittes, sondern um die Mitarbeiterin von Isabel Cademartori MdB (SPD), Annalena Wirth. (Vielen Dank an Gerhard Fontagnier für diesen Hinweis!)
Weitere Bilder der Demonstration