Störfall im Mühlauhafen – ein Container kokelt vor sich hin
Mannheim, 29.08.22. Nun ist es fast eine Woche her, dass die Bevölkerung in Mannheim – sofern sie etwas mitgekriegt hat – erheblich erschreckt wurde: Fenster und Türen geschlossen halten, die Wohnung nicht verlassen, Sirenen-Alarm im Jungbusch, Innenstadt, Neckarstadt-West. Evakuierung von 35 Personen, die in der Nähe des erschreckenden Geschehens wohnen, der Containerumschlag-Firma Contargo, Werfthallenstraße 1-39 im Mühlauhafengebiet. Sperrung eines 1.300-Meter-Sicherheitsradius mit Sperrung der Schumacherbrücke und des Luisen- und Friedrichsrings.
Nachdem zwischen 15 und 15.30 Uhr am 23.08. aus einem Container auf dem Contargo-Grundstück plötzlich Rauchschwaden von z.T. 150 m Höhe aufgestiegen waren, wurde notwendigerweise Großalarm ausgelöst: ein Großaufgebot von Polizei, 150 Feuerwehrleuten mit unterschiedlichsten Einsatzfahrzeugen, das gemeinsame Feuerlöschboot von BASF, Stadt Ludwigshafen und Mannheim, der Turbolöscher der BASF, Hilfsorganisationen, THW. In Mannheim trat der Verwaltungsstab der Stadtspitze zusammen, um die Lage einzuschätzen zu versuchen und geeignete Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu beschließen.
Die Informationslage war merkwürdig unspezifisch: Nach dem Sirenenalarm (für ältere Semester „Luftalarm“ – und das in Zeiten eines Krieges mitten in Europa!) konnte sich, wer konnte, über KATWARN oder NINA ein erstes Bild machen: Chemieunfall, „starke Geruchsbelästigung“ und siehe oben.
Besonders schlecht sei die Information natürlich und „wie immer“ zunächst für die heranrückenden Polizist:innen gewesen, stellt der Direktor des Polizeipräsidiums fest. Sie müssten sich immer in eine unbekannte Situation begeben und zu klären versuchen, was überhaupt vorgefallen sei. Entsprechend seien deshalb durch das Rauchgas 17 Polizist:innen leicht verletzt worden; sie hatten natürlich keinen Atemschutz. Ebenso der Kranführer, der in seiner Kabine mitten in der Rauchwolke saß.
Fragen über Fragen
- Hier sollte man mal grundsätzlich der Frage nachgehen, warum bei Ereignissen mit massiver Rauchentwicklung möglicherweise im Kontext von Herstellung, Verarbeitung oder Logistik chemischer Produkte nicht als erstes die Feuerwehr mit ihrer persönlichen Schutzausrüstung ausrückt, sich ein fachkundiges Bild macht und die Polizei, die sich in gebührendem Abstand bereithält, über Funk unterrichtet.
- Eine weitere grundsätzliche Frage stellt sich: Warum ist die Anbringung der Orangefarbenen Warntafel mit der weithin sichtbaren Kennzeichungsnummer der Gefahr und der UN-Nummer des Gefahrgutes auf Containern nach europäischem Recht nicht verpflichtend? Auch die Feuerwehrleute konnten sich zunächst nicht so dem Container nähern, dass sie den viel kleineren Gefahrzettel mit eingedruckter UN-Nummer hätten entziffern können. Dies war möglicherweise ein Faktor für die späte Bestimmung des rauchenden Containerinhalts.
Die Erkennbarkeit des Containerinhalts wäre mit der orangenen „Kemler-Nummer“ (hier nur beispielhaft) deutlich besser als mit dem kleinen „Gefahrzettel“. (Bild: dl)
Dass es sich um das reizende Gas SO2 handelte, welches Augen, Schleimhäute und Atemwege je nach Konzentration stark schädigt, wurde erst gegen 1 Uhr morgens bekannt gegeben. Es wurde erklärt, dass der havarierte Container Hydrosulfit (Natriumdithionit Na2S2O4) enthalte, eine Chemikalie, die in großen Mengen hergestellt werde und als Bleichmittel zum Einsatz käme, vor allem in der Textilfärberei, aber auch als Bleichmittel für Papiere, Textilien und Lebensmittel wie Zucker. Weiteres erfuhr man erst auf einer Pressekonferenz der Stadt Mannheim am Nachmittag des 24.8. mit Erstem Bürgermeister Christian Specht, einer Vertreterin der BASF und Vertretern von Contargo, der Feuerwehr und des Polizeipräsidiums Mannheim sowie des Eigenbetriebs Stadtentwässerung: Das Produkt im Container sei in 200 Fässer abgefüllt (Material der Fässer wurde nicht genannt), es wiege 22 to. Es habe über den Rhein und den Seeweg in die Türkei ausgeliefert werden sollen.
Über mögliche Ursachen der Havarie schweigen sich alle Beteiligten aus; man werde erst nach Öffnung des Containers mit der Ursachenforschung beginnen können. Klar sei lediglich, dass die Substanz dabei sei, sich zu zersetzen, wobei eben das Schwefeldioxid und Wärmeenergie freigesetzt werden. Seit Eintreffen der Feuerwehr werde der Container deswegen mit großen Mengen Rhein-Wasser (1.000 ltr. pro Minute) gekühlt und freiwerdendes SO2 gleichzeitig gebunden und niedergeschlagen. Auf die Frage, ob ein solches Ereignis schon einmal in der langen Zeit der Produktion und Verwendung der Chemikalie vorgekommen sei, meint die Vertreterin der BASF: Das sei wohl einmal mglw. auf einem LKW der Fall gewesen; da müsse man aber sehr tief in der Historie graben.
Gaaanz lange Ursachenforschung – da hat z.B. die BASF viel Erfahrung. Zum Vergessen.
Da sind also 200 Fässer in einem Container aus Stahlblech mit einem Stoff gefüllt, von dem zwei wichtige physikalische Eigenschaften bekannt sind: Ab 52°C ist die Substanz entzündungsfähig (Flammpunkt) und beginnt sich zu zersetzen, unter Freisetzung von SO2 und Wärme. Bei 80 bis 82°C wird die kristalline Substanz flüssig. Die Außentemperatur betrug zum Zeitpunkt des Ausbruchs bei voller Sonneneinstrahlung 33°C. Lt. Containerhandbuch des Gesamtverbandes der deutschen Versicherer (https://www.containerhandbuch.de/chb/wild/index.html ) gelten „bei Sonneneinstrahlung (… Innen-) Temperaturen von 70-80°C als realistisch.“ Der Innendruck im Container muss sich durch freiwerdendes und sich gleichzeitig weiter erhitzendes Gas über eine gewisse Zeit aufgebaut haben, denn schließlich deformierte sich der Container („dicke Backen“) und ließ durch die entstehenden Spalte den Gasüberdruck entweichen.
- Zu erklären hat Contargo, wo und wie lange der Container von der BASF kommend gelagert wurde. In der obersten, der Sonne voll ausgesetzten oder in der untersten Reihe? Oder in einer Halle? War die Dauer der Lagerung geplant? Oder hatte sie sich vielleicht aufgrund der momentan reduzierten Kapazitäten der Flussschifffahrt verlängert?
- Contargo muss darlegen, wie im Regelfall bei den vorliegenden Witterungseinflüssen in dem Terminal mit Containern voller leichtentzündlicher Substanzen zu verfahren ist. Wie sehen die bei Gefahrstoffen zwingend erforderlichen Gefährdungsbeurteilungen diesbezüglich aus? Gab es Abweichungen hiervon? (Hitzetage gibt es nicht erst seit 2022!)
- Sollten Witterungseinflüsse keine oder keine entscheidende Rolle gespielt haben, so bleiben eigentlich nur Verunreinigungen des Produktes mit reaktiven Substanzen, und sei es zu hohe Wasserfeuchte. Hier muss BASF Analysewerte auf den Tisch legen.
- BASF muss darlegen, welche technischen Anforderungen an Container für die vorliegende Gefahrstoffklasse bestehen und ob der eingesetzte Container diesen Anforderungen unter den klimatischen Bedingungen genügte.
- War der Standort des Containers bei Contargo in einer Zone für Gefahrstoffbehälter? Welche Stoffe oder Materialien wurden in der Umgebung gelagert?
- Warum gelangte schwefelsaures Löschwasser in die städtische Kanalisation? Warum wurde nicht sofort und prophylaktisch das Oberflächenwasser im Rückhaltesystem festgehalten? Contargo schreibt in der Störfall-Broschüre der Stadt für alle Haushalte: „Für die Lagerung von Containern mit Gefahrgütern ist auf dem Terminalgelände eine dafür speziell ausgelegte Lagerfläche eingerichtet. Schutzmaßnahmen für die Anlagensicherheit und gegen Störfälle:
– Ausreichend dimensionierte Auffangmöglichkeiten für auslaufende Stoffe in Form von Rückhaltebecken und mobilen Gefahrstoffwannen (für evtl. Leckagefälle) (…)
– Ausschluss einer Verunreinigung der Abwasser- und Kanalleitungen durch ein in sich geschlossenes Rückhalte- und Absperrsystem.“
All diese Fragen können jetzt schon geklärt werden. BASF lässt ja verlauten, man werde aus diesem „bedauerlichen Vorfall“ zu lernen haben.
Wo bleibt eigentlich der Staatsanwalt?
- Und noch eine grundsätzliche Frage: Wo bleibt eigentlich der Staatsanwalt? Zwar gab es glücklicherweise „nur“ 18 Leichtverletzte. Aber es kam zu einer massiven Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Es war beileibe kein nur interner Störfall bei Contargo.
Die angekündigten Untersuchungen erinnern fatal an die „Aufarbeitung“ der Sexualdelikte innerhalb der katholischen Kirche durch die Bischöfe selbst. Der Anfangsverdacht von folgenreichen Gesetzesverstößen ist zumindest gegeben. Bei aller Kooperationsfreude der Stadt mit für die Metropolregion so zentral wichtigen Wirtschaftsunternehmen wie BASF und Contargo gilt es auch immer wieder die Interessen der Bevölkerung an körperlicher Unversehrtheit und Bewegungsfreiheit und Einhaltung der Umwelt- und Gesundheitsschutzgesetze durchzusetzen.
Als am 17.10.2016 im Hafenbereich der BASF eine Buten-Leitung bei Wartungsarbeiten explodierte und u.a. mehre Angehörige der Werksfeuerwehr zu Tode kamen, wurde der mit der Wartungsarbeit beauftragte Schweißer schuldig gesprochen. Das massive Organisationsversagen der Firmenleitung wurde vom Gericht lediglich mit einer Ermahnung beantwortet. Die BASF gab sich demütig: „Wir müssen lernen. Wir haben den Anspruch, das sicherste Chemiewerk zu sein.“ Immerhin hatte die Staatsanwaltschaft intensiv vor Ort ermittelt.
Am Tag des damaligen Unglücks von Oktober 2016 sollte eigentlich das Ergebnis der staatsanwaltschaftlichen und der eigenen Untersuchungen der BASF zu der Explosionskatastrophe in Oppau am 23.10.2014 vorgestellt werden. Damals war bei Wartungsarbeiten an der gemeinsamen Gaspipeline von Gazprom und BASF Gas ausgetreten. Zwei Tote und 22 teils schwer Verletzte waren zu beklagen. Auch hier hatte natürlich die Staatsanwaltschaft ermittelt. Die unglaubliche Umnutzung der Pipeline von Öl auf Gas ohne vorherige Untersuchung der Leitung war ans Tageslicht gekommen. Nach zwei Jahren Ermittlung geriet diese über die nächste Tragödie in Vergessenheit.
Der aktuelle Störfall hat alles Zeug, auch in Vergessenheit zu geraten. Die Abkühlung des Containers von außen, damit der exotherme Zersetzungsprozess im Inneren zum Stillstand kommt, geht in die zweite Woche. Dann erst wird man den Container öffnen und sehen können, was man jetzt schon weiß: Da kokelte etwas, was nicht kokeln durfte.
Thomas Trüper