Wozu Polizei?
Anfang November erinnerten in Mannheim eine Demonstration und eine Mahnwache daran, dass ein halbes Jahr zuvor ein Mensch durch Polizeigewalt getötet wurde. Wenige Tage danach begann in Ludwigshafen mit einem symbolischen Spatenstich der Neubau des Polizeipräsidiums Rheinpfalz. Landesinnenminister und Bürgermeisterin sind stolz auf das derzeit größte und mit 12 Stockwerken höchste Bauprojekt des Landes Rheinland-Pfalz, für das derzeit 117 Mio. Euro veranschlagt sind. Anfang Dezember kündigt Mannheims Dezernent für Ordnung und Sicherheit Christian Specht (CDU) an, dass noch im Dezember 25.000 zufällig ausgewählte Bürger online zu ihrem Sicherheitsempfinden befragt werden sollen. Zur anstehenden Debatte soll hier ein Beitrag geleistet werden mit der Frage: „Wozu genau brauchen wir die Polizei?“
„Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende bereitet.“ Diese Worte von Karl Kraus wurden im vergangenen Jahr wieder auf bittere Weise bestätigt. Im August allein starben in Deutschland vier Menschen innerhalb von sechs Tagen bei Polizeieinsätzen. Übermäßige Gewalt und Todesfälle durch Polizeieinsätze sorgten 2022 gehäuft für Schlagzeilen und Debatten. Es sind bestimmte Menschen, deren Leben dadurch besonders gefährdet ist, bestimmte Situationen, in denen sich die Gewalt häuft sowie bestimmte von Polizist*innen entwickelte Annahmen, die in diesen Situationen zu Eskalationen führen. Begünstigt wird illegale Polizeigewalt aber auch dadurch, dass nur in den seltenen Fällen, in denen sie durch Aufnahmen unabweisbar belegt ist, jemand zur Rechenschaft gezogen wird. Sie wird zudem systematisch dadurch aufrechterhalten, dass sich Politiker*innen fast des gesamten politischen Spektrums auch in krassesten Fällen so lange wie möglich schützend vor die Täter stellen. Und sowieso ist zu fragen, ob nicht die gesellschaftliche Funktion, die Geschichte und die Kultur der Polizei untrennbar damit verbunden sind, dass sich – nicht immer, aber immer wieder – exzessive Polizeigewalt ereignet.
Wen es wo und warum trifft
In einer Studie in Niedersachsen gaben 58 Prozent der befragten Polizeibeamtinnen und -beamten an, dass sie schon einmal einen illegalen Übergriff durch Kolleg*innen beobachtet hätten oder selbst daran beteiligt waren. „Wenn ich jetzt nicht … (fixiere / fessle / schlage / schieße usw.), dann … (nehmen die mich nicht mehr ernst / stehe ich vor Kollegen schlecht da / scheitert der Einsatz / machen die mit mir, was sie wollen / eskaliert die Situation usw.)“ Vor allem Ängste vor Eskalation und Autoritätsverlust scheinen Polizeigewalt auszulösen. Beides beinhaltet eine absurde Tragik insofern, als die eingesetzte Gewalt exakt das bewirkt, was mit ihr verhindert werden soll.
Wenn Polizeibeamt*innen im Dienst unangemessene Gewalt anwenden, erfüllt dies den Straftatbestand der Körperverletzung im Amt. Trotz intensiver Bemühungen, entsprechende Ereignisse zu verbergen, werden mit unschöner Regelmäßigkeit einige von ihnen öffentlich bekannt, was dann auch großes öffentliches Interesse auf sich zieht, aber bisher erstaunlich wenig empirische Forschung bewirkte. So liegen zu der bedeutsamen Frage, wie groß das Dunkelfeld dieser Delikte ist, noch kaum Erkenntnisse vor. Wer wird zum Opfer und in welchen Situationen? Welche situativen Dynamiken begünstigen übermäßige Polizeigewalt? Wie erleben Opfer diese Situationen und wie werden sie aufgearbeitet? Mit diesen offenen Fragen beschäftigt sich seit März 2018 das Projekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (KVIAPOL) der Ruhr-Universität Bochum unter der Leitung von Tobias Singelnstein. Im Herbst 2019 und 2020 wurden Zwischenberichte veröffentlicht, ein Abschlussbericht soll 2023 erscheinen.
Besonders gewaltbelastete Situationen sind Großeinsätze wie Fußballspiele und Demonstrationen sowie Streitigkeiten, Schlägereien und die Kontrolle ‚verdächtiger Personen‘. Auch hier versuchte die Studie, die Perspektive der Betroffenen zu erfassen. Tatsächlich gaben etwa 80 Prozent der ca. 3.400 Befragten an, Polizeigewalt während einer Großveranstaltung erlebt zu haben, 42 Prozent bei einer Demonstration, 13 Prozent bei einer anderen politischen Aktion wie einer Blockade oder Besetzung und 25 Prozent bei einem Fußballspiel oder einer anderen Großveranstaltung. Dabei fiel auf, dass die Hälfte von ihnen angab, der Grund für die Auseinandersetzung mit der Polizei sei ihnen gar nicht ersichtlich gewesen oder die Polizei sei eigentlich nicht gegen sie, sondern gegen andere Personen vorgegangen.
Die Straftat ‚Körperverletzung im Amt‘
Der Weg von einer sogenannten Straftat bis zu deren Verurteilung beginnt damit, dass die Rechtsverstöße polizeibekannt werden. Dies geschieht zu 90 Prozent durch Anzeigen von Betroffenen, nur zu 10 Prozent durch polizeiliche Ermittlungen oder Beobachtungen. Dann wird entschieden, ob Ermittlungen aufgenommen werden, die drittens zu Ergebnissen führen oder aber eingestellt werden. Der vierte Schritt ist, ob die Anklage zu einer Verurteilung führt oder nicht. Das Ausmaß, in welchem durch diese Prozedur Fälle ausgesiebt werden, weist bei verschiedenen Delikten enorme Unterschiede auf. In der breiten Öffentlichkeit sind die entsprechenden Zahlen kaum bekannt, obwohl sie entscheidend sind für potentielle und tatsächliche Opfer von Straftaten und für die Frage, wie effektiv das deutsche Strafverfolgungssystem überhaupt ist. Zum Anzeigeverhalten gibt es in Deutschland seit den 1970er Jahren viel Forschung, die aber Körperverletzung im Amt weitgehend aussparte, weshalb die Bochumer Studie nun versucht, auch diese Lücke zu schließen. Bei Polizeigewalt unterbleiben Anzeigen hauptsächlich, weil sie für aussichtslos gehalten werden, weil das Polizistenwort mehr gilt oder weil die Beschuldigten nicht identifiziert werden können. Und es werden Gegenreaktionen befürchtet, z.B. dass die Polizei selbst Anzeige stellt. Unter den Opfern übermäßiger Polizeigewalt äußerten 81 Prozent Furcht vor einer Gegenanzeige. Der Chef der Gewerkschaftspolizei Oliver Malchow kommentierte 2019, möglicherweise werde von ihnen oft keine Anzeige erstattet, um eigenes Fehlverhalten zu verdecken. Dieser Äußerung mag es an Logik mangeln, nicht aber an Selbstbewusstsein. Bei Anzeigen wegen Körperverletzung im Amt eine Gegenanzeige zu stellen ist tatsächlich eher Regel als Ausnahme. Wenn die Polizeiliche Kriminalstatistik mehr Angriffe auf Polizisten und mehr Widerstand gegen die Staatsgewalt ausweist, so ist dies zumindest zum Teil Folge dieser Gegenanzeigen und bezeugt insofern nicht Angriffe gegen, sondern durch Polizisten. Gegen den 16-jährigen Mouhamed Lamine Dramé, der in Dortmund von Schüssen aus einem Polizei-Maschinengewehr durchlöchert wurde, fertigte die Polizei noch nach seinem Tod eine Anzeige wegen Bedrohung. Ermittlungen belegten jedoch, dass er sich nicht im geringsten bedrohlich verhalten hatte. Auch in der Fachdiskussion ist umstritten, ob Gewalt gegen Polizeibeamte tatsächlich zugenommen hat. Die KriminologInnen Thomas Görgen und Daniela Hund weisen darauf hin, dass es sich bei den Statistiken „um von der Polizei im Kontext einer fortdauernden politischen Debatte hervorgebrachte Daten handelt.“
Falls Opfer sich dennoch dazu entschließen, Anzeige zu stellen und diese aufgenommen wird (viele Berichte besagen, dass Polizeistellen sich weigern, solche Anzeigen aufzunehmen), führen die Ermittlungen nur in 2 Prozent der Fälle zu einer Anklage. Bei anderen Delikten beträgt diese Quote durchschnittlich 24 Prozent. Die Dunkelziffer bei illegaler Polizeigewalt wurde von der KVIAPOL-Studie „sehr vorsichtig“ auf 1:5 geschätzt. Danach gäbe es in Deutschland nicht, wie amtliche Statistiken angeben, ca. 2.000 Verdachtsfälle illegaler Polizeigewalt, sondern 12.000. Nur bei jedem fünften angezeigten Fall kommt es zu einer Anklage und nur in einem Prozent zu einer Verurteilung. Dies sind fast ausschließlich Fälle, in denen eindeutige Filmaufnahmen vorliegen. Zusammengenommen bedeutet dies, dass nur einer von 600 Fällen illegaler Polizeigewalt eine Verurteilung nach sich zieht. Dieser eine Fall ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt, dass Polizeigewalt folgenlos bleibt.
Als diese Zahlen im September 2019 bekannt werden, meint der damalige Chef der Gewerkschaft der Polizei Oliver Malchow, ein Systemfehler sei durch sie „nicht erkennbar“. Man muss es neidlos zugeben: Der Mann hat Nerven!
Auch 2022 wurde offensichtlich: Das Risiko, zum Opfer von Polizeigewalt zu werden, ist besonders hoch für diejenigen, die arm oder gar obdachlos sind, psychisch krank oder belastet, einen Migrationshintergrund haben oder eine dunkle Hautfarbe. Im September diesen Jahres wurde die deutsche Polizei wieder einmal mit harten Worten von der Anti-Rassismus-Kommission des Europarates gerügt wegen Untätigkeit gegen Racial Profiling (der Bewertung von Personen und entsprechendes Agieren aufgrund von Stereotypen und äußerlichen Merkmalen wie etwa ethnische Zugehörigkeit, Religion oder nationale Herkunft). Schon 2019 war beanstandet worden, dass Personenkontrollen auf der Grundlage von Social Profiling durchgeführt werden. Die damalige Empfehlung, Gegenmaßnahmen zu entwickeln, sei – so die Kommission – nicht umgesetzt worden. Es wird in Deutschland noch nicht einmal statistisch erfasst, wer polizeilich kontrolliert wird. Obwohl unter den mutmaßlichen Opfern der Körperverletzung im Amt der (Hellfeld-)Anteil nicht deutscher Personen mit 25 Prozent mehr als doppelt so hoch ist wie ihr Bevölkerungsanteil von 12 Prozent.
Polizei-Tsunami
Racial profiling und systematische Diskriminierung marginalisierter Menschen führen zu der Frage, wie verbreitet antidemokratisches, nationalsozialistisches, rechtsextremes Gedankengut in der deutschen Polizei ist. Ab Herbst 2019, besonders dann 2020 gelangten entsprechende Berichte verstärkt in die Öffentlichkeit. Thomas Feltes war bis 2019 siebzehn Jahre lang an der Ruhr-Universität Bochum Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft. Außerdem war er bis 2002 Rektor der Hochschule für Polizei in Baden-Württemberg. Die Berichte des Jahres 2020 über Rassismus und Rechtsextremismus in der deutschen Polizei, die Verbreitung von Inhalten, die NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) als „hochgradig fremdenfeindlich und menschenverachtend“ bezeichnete, brachen nach den Worten von Feltes über die Polizei herein „wie ein Tsunami“. Nach seiner Beobachtung lösen sie eine typische Abfolge von Reaktionen aus, die an die Stadien einer Traumaverarbeitung erinnern: Die erste Reaktion sei schweigende Betroffenheit, dem folge das Bemühen um eine „Einzelfallhypothese“, im nächsten Schritt werde Unverständnis und massive Reaktanz gegenüber den “pauschalisierten Vorwürfen“ gezeigt, bevor sich schlussendlich ein „vorsichtiges Problembewusstsein“ einstelle. Otto Diederichs hingegen vom ‚Institut für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit‘ CILIP wundert sich weniger. Derartige Fälle habe es immer gegeben, rechtsradikale Einstellungen seien nur weniger in die Öffentlichkeit getragen und wenn doch, vom Korpsgeist gedeckt worden. Das sei auch in einer traditionell konservativen und streng konservativ geführten Institution nicht sonderlich überraschend. Entsprechende Ereignisse kämen nur deshalb verstärkt in die Öffentlichkeit, weil die rechtsextreme Szene selbstbewusster geworden sei und weil neue digitale Techniken vorhanden sind.
Der Einschätzung, übermäßige Polizeigewalt sei systembedingt, wird häufig entgegengehalten, man dürfe nicht alle Polizist*innen über einen Kamm scheren, die Fehler einzelner nicht verallgemeinern. Aber eine ernstzunehmende Polizeikritik tut das auch nicht. Auch bei der Polizei gibt es solche und solche. Polizeikritik auf einer persönlichen Ebene zu pauschalisieren, ist falsch und ethisch fragwürdig. Es darf jedoch weder geleugnet noch relativiert werden: Sowohl rechtswidrige Polizeigewalt als auch rechtsextreme Tendenzen besitzen beunruhigende Ausmaße. Im Dezember 2020 veröffentlicht die taz eine aus 26 Vorkommnissen bestehende Liste rassistischer Verdachtsfälle des Jahres. Eine Auswahl: Im April 2020 werden in Bayern 67 Polizisten suspendiert, in 25 Fällen wird Anklage erhoben, unter anderem wegen der Zugehörigkeit zu ‚Reichsbürgern‘ und wegen des Besitzes von Drogen und Kinderpornografie. Im September werden in Nordrhein-Westfalen 31 Polizisten ermittelt, die in Chatgruppen rassistisch gehetzt haben sollen. 200 Beamt*innen durchsuchen 34 Polizeidienststellen und Privatwohnungen. Der NRW-Verfassungsschutz spricht von „Hardcore-Rechtsextremisten-Material“. Ebenfalls im September wird in Mecklenburg-Vorpommern gegen 17 Beamt*innen wegen rechtsextremer Chatnachrichten ermittelt. Im Oktober wird bekannt, dass mehr als 25 Berliner Polizist*innen sich in einer rechtsextremen Chatgruppe vernetzt haben. Ein Vorgesetzter war informiert, wollte aber nicht wissen, was in der Gruppe geteilt wurde. In Bielefeld werden ebenfalls im Oktober der Arbeitsplatz und die Wohnung eines Hauptkommissars durchsucht, der rechtsextremes Material mit 50 Polizist*innen geteilt haben soll. Im November werden in Berlin 20 rechtsextreme Polizist*innen suspendiert, die in Chatgruppen gegen Flüchtlinge gehetzt hatten. Bis Dezember hat sich in Nordrhein-Westfalen die Zahl der rechtsextremen Verdachtsfälle auf nunmehr 200 Beamt*innen ausgeweitet. Innenminister Reul (CDU) versendet 5.000 großformatige Kalender mit Auszügen aus dem Grundgesetz an alle Polizeidienststellen im Land.
Obwohl diese Auswahl nur die Spitze des Eisberges zeigen kann, beinhaltet sie 410 einschlägige Ermittlungen, und die Kette reißt seitdem nicht ab. Jüngstes Beispiel: Durch reinen Zufall flog im November eine rechtsextreme Polizei-Chatgruppe in Rheinland-Pfalz auf, die schon vor vier Jahren damit begonnen hatte, nationalsozialistische, rassistische, behindertenfeindliche und frauenfeindliche Inhalte zu teilen. Zunächst war gegen vier Beamte ermittelt worden, inzwischen richten sich die Ermittlungen gegen mehr als 50 Beschuldigte. Übliche Reaktion der Politik besteht ist die Doppeltaktik, einerseits das Problem zu verharmlosen, andererseits das eigene Handeln als entschlossen und energisch darzustellen. Landesinnenminister Michael Ebling dazu in der ‚Rheinpfalz‘ vom 11.11.22 entsprechend: „Es wird mit harter Kante reagiert.“ Sowie: „Es gibt keine Hinweise auf ein strukturelles, rechtsextremistisches Problem in der Landespolizei.“ (Man beachte das Datum!)
Was Daniel Loick und Vanessa E. Thompson am 24.9.22 in ‚Zeit online‘ zur Polizeigewalt schreiben, trifft auch auf die Thematik des Rechtsextremismus zu: „Die Strategie, diese Fälle lediglich als Einzelfälle zu deklarieren, ist selbst Teil dieser Gewalt.“
Wozu überhaupt Polizei?
Die Etats der Polizeien wachsen, es gibt immer mehr immer besser bewaffnete Polizistinnen und Polizisten. Kaum bekannt ist aber, dass die Kriminalitätsraten gar nicht steigen. Außer bei Internet- und Drogendelikten sinken sie vor allem bei der Gewaltkriminalität in allen westlichen Gesellschaften. Und dies seit dem Mittelalter bis zur Gegenwart, mit Ausnahme einer kurzen Periode Ende der 1950er bis Anfang der 1990er Jahre. Nach Ansicht des Polizeiwissenschaftlers Rafael Behr gibt es Interessengruppen, die etwas davon haben, zu sagen, dass die Gewalt steige. Es sind die Erosion sozialer Strukturen und Beziehungen in der Tauschwerte-Gesellschaft, die neoliberale Zertrümmerung des Wohlfahrtsstaates und die multiplen Systemkrisen, die dazu führen, dass die Polizei immer mehr Aufgaben zugewiesen bekommt, vor allem in repressiven Bereichen. Es darf nicht übersehen werden, dass die bei der Polizei Beschäftigten hierdurch zunehmend belastet sind und auch verheizt werden. Die Suizidrate in der Polizei ist nach Gewerkschaftsangaben doppelt so hoch wie in der Bevölkerung, und nicht nur aus Deutschland kommen Berichte, dass in den Polizeien die berufliche Unzufriedenheit explosionsartig zunimmt. Dabei gerät die präventive Polizeiarbeit, mit der das staatliche Sicherheitsversprechen verbunden ist, unter die Räder.
2021 wurden in Deutschland etwa 5 Millionen Straftaten bekannt und registriert (ohne Staatsschutz- und Straßenverkehrsdelikte), zehn Jahre vorher waren es noch ca. 6 Millionen und 2001 sogar 6,4 Millionen. Dies sind die häufigsten:
- 1,5 Mio. Diebstähle (Laden-, Fahrrad-, Taschen-, Wohnungseinbruch- und Kfz-Diebstähle)
- 1 Mio. Vermögens- und Fälschungsdelikte (Betrug, Unterschlagung, Urkundenfälschung, Veruntreuung)
- 740.000 Rohheitsdelikte und Straftaten gegen die persönliche Freiheit (Körperverletzung, Bedrohung, Nötigung, Raub, Stalking)
- 550.000 Sachbeschädigungen
- 360.000 Rauschgiftdelikte
- 235.000 Beleidigungen
- 158.000 Widerstände gegen/tätliche Angriffe auf die Staatsgewalt/Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
- 107.000 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (Vergewaltigung, sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung) (Anteil an allen Straftaten 2,1 %)
Eine niedrige Anzeigequote trägt nach herrschender Auffassung dazu bei, dass Täter ungeschoren und Opfer ungeschützt bleiben. „Besser es wird einem nichts gestohlen. Dann hat man wenigstens keine Scherereien mit der Polizei.“ Diese kluge Erkenntnis von Karl Kraus ist wohl Grund dafür, dass Diebstähle von geringwertigen Gegenständen nur selten angezeigt werden. Trotzdem sind Diebstähle nicht nur das absolut am häufigsten angezeigte Delikt, laut Dunkelfeldforschung ist bei hochwertigen Gegenständen (besonders bei Autodiebstählen und Wohnungseinbrüchen) auch die Anzeigequote besonders hoch. Der Grund: Bevor sie Schadensersatz leisten, verlangen Versicherungen, dass Anzeige erstattet wird. Gleichwohl zählen Diebstähle zu den Delikten mit niedrigen Aufklärungsquoten. (Die höchste Aufklärungsquote haben mit 98,9 Prozent Straftaten gegen das Aufenthalts-, Asyl- und Freizügigkeitsgesetz.) Bei Diebstahl unter erschwerenden Umständen beträgt sie etwa 15 Prozent, ohne erschwerende Umstände etwa 40 Prozent. Das laut Statistik häufigste Delikt kann also, obwohl es auch häufig angezeigt wird, in der großen Mehrzahl der Fälle begangen werden, ohne Folgen befürchten zu müssen.
Praktisch überhaupt keine derartigen Sorgen müssen sich diejenigen machen, die andere vergewaltigen, sexuell nötigen oder sexuell übergriffig sind. Bis vor kurzem wurde die Anzeigenquote bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung auf 5 – 15 Prozent geschätzt. Eine aktuelle BKA-Studie ergab nun aber, dass sie nur 1 Prozent beträgt. Zusätzlich ist die Verurteilungsrate stark gesunken von über 20 Prozent in den 1990er Jahren auf derzeit etwa 7,5 Prozent. Die Polizei verkündet stolz: „Aufklärungsquote bei Vergewaltigungen 85,4 Prozent!“ Die Zahlen zeigen aber: Weniger als eine von tausend Straftaten (0,075 Prozent) gegen die sexuelle Selbstbestimmung führt zu einer Verurteilung. Dazu kommt: nur 10 Prozent der Ermittlungsergebnisse stammen von der Polizei, 90 Prozent liefern Opfer und Zeugen. Das bedeutet: In weniger als einem von zehntausend Fällen führen polizeiliche Bemühungen zur Verurteilung eines Sexualstraftäters. Und schließlich: Noch niemand konnte bisher eine abschreckende, präventive Wirkung dieser Urteile, also einen Schutz der Menschen durch sie belegen. Das Thema sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Kinder (zwei Drittel der Opfer sind Kinder) belegt wie kein anderes, dass das bestehende System der Strafverfolgung beseitigt werden muss. Und ersetzt werden muss durch andere Systeme, die wirklich Schutz und Sicherheit hervorbringen.
Bei anderen Deliktbereichen sind die Verhältnisse ähnlich. Die enorm aufwendige Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität etwa, deren Hauptziel ja ist, Rauschgift vom Markt zu nehmen, um die Menschen zu schützen, konnte bisher immer nur vorübergehende, leichte Preiserhöhungen des „Stoffs“ bewirken. Wieder andere Delikte wie Schutzgelderpressung oder Menschenhandel werden gar nicht erst angezeigt.
Polizei und Gefängnisse abschaffen?
Verurteilungen sollen die Bevölkerung durch ihre abschreckende Wirkung schützen, sowohl verurteilte Täter als auch potentielle andere Täterinnen und Täter davon abhalten, Straftaten zu begehen. Der schwedische Kriminologe Nils Christie bemerkte einmal, kriminelles Verhalten würde durch Strafen etwa so gebremst wie eine Lokomotive durch eine Sommerprise. Dass Strafe die schlechteste aller Möglichkeiten ist, um schädigendes Verhalten zu reduzieren, wurde in der Psychologie und der Pädagogik schon vor mehr als hundert Jahren festgestellt und im Bereich des Strafrechts immer wieder empirisch belegt. Strafverschärfungen, Strafmilderungen, Amnestien füllen oder leeren die Gefängnisse, beeinflussen aber Kriminalitätsraten wenn überhaupt nur kurzfristig. Durch drakonische Strafen gelingt es den USA, gleich zwei Rekorde aufzustellen: Sie nehmen in der Welt den ersten Platz ein sowohl in Bezug auf die absolute Zahl der Gefängnisinsassen als auch auf deren prozentualen Anteil an der Bevölkerung. Über zwei Millionen Menschen sitzen in den USA in Gefängnissen, auf 100.000 Menschen kommen 629 Gefangene (in Deutschland 71). Zusätzlich vier Millionen haben eine Bewährungsstrafe. In den USA sind mehr Menschen im Gefängnis als in China, obwohl China mehr als viermal so viele Einwohner hat. In Deutschland beträgt die Rückfallrate bei Straftaten etwa ein Drittel. Sie steigt mit der Härte von Strafen und nimmt deutlich ab mit deren Aussetzung. Auch Sozialtherapien und Täter-Opfer-Ausgleiche können Rückfallquoten deutlich senken.
Der Mord an George Floyd im Sommer 2020 löste die größte politische Bewegung in der Geschichte der USA aus, die sich in allen Kontinenten ausbreitete, zu einer der größten Sozialbewegungen und zu der größten antirassistischen Bewegung aller Zeiten wurde. Die Bewegung stellte Forderungen auf und setzte sie in einigen Fällen auch durch, der Polizei die Mittel zu entziehen (Defund the police), um mit ihnen in den Bereichen Wohnen, Bildung, soziale Unterstützung und Gesundheitsversorgung soziale Gerechtigkeit herzustellen.
Unter dem Begriff des Abolitionismus entwickelten sich Ansätze, die forderten, Polizei, Gefängnisse und andere staatliche Gewaltinstitutionen zurückzubauen bzw. abzuschaffen. In Deutschland greifen Protestaktionen gegen Polizeigewalt diese Vorstellungen häufig auf. Daniel Loick und Vanessa E. Thompson gaben hierzu jetzt die erste deutschsprachige Textsammlung heraus. Sie enthält auch eine Fülle von Beispielen dafür, wie Aufgaben der Sicherheit und Konfliktregelung erfolgreich und gewaltlos von anderen gesellschaftlichen Strukturen wahrgenommen wurden und werden. Soziale Räume, in denen sich Kontakte, Austausch und vor allem Vertrauen entwickeln können, spielen in diesen alternativen Konzepten eine große Rolle.
(Michael Kohler)
Hinweis der Redaktion: In einer ersten Version des Beitrags hatten wir geschrieben, Prof. Thomas Feltes sei bis 2020 Rektor der Polizeihochschule Baden-Württemberg gewesen. Er war dies allerdings “nur” bis 2002. Wir danken für die freundliche Kenntnisnahme des Artikels und bitten um Nachsicht für die versehentlich falsche Angabe.