Ludwigshafen: Wir sind alle Freunde und Helfer der Polizei!
„Besser bezahlen, besser ausstatten“ Dies fordert die fette Überschrift über einem fast ganzseitigen Artikel Ende November in der „Rheinpfalz“. Anfang des Monats hatten sich – wie KIM berichtete – zwei Polizeibeamte, die aus Furcht vor disziplinarischen Konsequenzen anonym bleiben wollten, an die Tageszeitung gewandt (1). Erwartungsgemäß hatte der Artikel – bis hin zum Mainzer Landtag – viel Staub aufgewirbelt. Die „Rheinpfalz“ berichtet nun auch, dass mehrere Zuschriften von Kollegen der beiden Polizisten deren Vorwürfe gestützt hätten. Steffen Gierescher, Chef der Ludwigshafener Redaktion der „Rheinpfalz“ wandte sich deshalb an alle neun Fraktionen des Stadtrats und bat sie um eine Bewertung. Die Antworten der neun Männer (!) sind sich erstaunlich ähnlich – mit einer Ausnahme: Hans-Uwe Daumann von den Grünen betont zwar, die geschilderten Probleme „sollten selbstverständlich ernst genommen werden“, konstatiert aber auch wohltuend sachlich: „Wir sehen keinen Anlass, uns als Kommunalpolitiker einzuschalten.“ Über die Arbeit der Polizei würden die Fraktionen regelmäßig informiert und nach seinem Eindruck könne man „damit in unserer Stadt recht zufrieden sein.“
Überwältigende Einigkeit im Stadtrat
Alle anderen Herren greifen zu dem gleichen Argument mit nahezu gleichen Formulierungen. Es lautet: Keine Sicherheit ohne genug Geld für Ausstattung und Personal der Polizei. SPD-Chef David Guthier: „Wir brauchen eine ehrliche Debatte darüber, wie viel uns unsere Sicherheit wert ist.“ Dazu gehöre eine bessere Bezahlung und Ausrüstung und mehr Personal. Dennis Schmidt für die CDU: „Die Sicherheit der Stadtgesellschaft ist untrennbar mit den Arbeitsbedingungen der Polizisten verbunden.“ Zu diesen zählt er u.a. eine „angemessene“ Entlohnung und ausreichendes Personal. Johannes Thiedig formuliert vollmundig für die AfD, Sicherheit gehöre zu den Fundamenten für ein freies und selbstbestimmtes Leben. „Daher müssen sich Arbeitsbedingungen und Gehalt der auf unseren Straßen für die Sicherheit Verantwortlichen am Niveau Baden-Württembergs orientieren.“ Dem folgen im Großen und Ganzen die Sprecher von FDP, Grünes Forum/Piraten, FWG und Bürger für LU. Auch das wohl ehemalige Mitglied der Partei Die Linke Liborio Ciccarello meint, der Frust bei der Polizei betreffe „letztlich alle Bewohner“ und er sei programmiert, „wenn eine moderne Ausstattung fehlt und unsere Polizisten zusätzlich weniger verdienen als in den meisten anderen Bundesländern.“ Nun liegt zwar tatsächlich Rheinland-Pfalz beim durchschnittlichen Verdienst seiner Polizistinnen und Polizisten im Ländervergleich nur auf dem elften Platz (und Baden-Württemberg auf dem ersten). Was aber Ciccarrello wie sämtliche seiner Stadtratskollegen bei diesem Punkt unerwähnt lassen, ist, dass ihr Verdienst trotzdem um mehr als 200 Euro den Bundesdurchschnitt übersteigt.
Der Innenminister reagiert
Einen ähnlich eleganten Umgang mit Zahlen zeigt Landesinnenminister Thomas Ebling. Er hält der Kritik entgegen, es habe in Rheinland-Pfalz nie mehr Polizistinnen und Polizisten gegeben und deren Anzahl werde weiter wachsen und sich der 10.000er Marke annähern. Was Ebling aber geschickt ausblendet, ist, dass Rheinland-Pfalz (nach den letzten veröffentlichten Zahlen) in Bezug auf seine Polizeidichte mit 224 Polizisten pro 100.000 Einwohnern das absolute Schlusslicht der Tabelle bildet. Es folgt Baden-Württemberg, hier beträgt die Polizeidichte 225, in Berlin aber 473 und in Hamburg 437 Vollzeitstellen pro 100.000 Einwohner. Selbst das ruhige Bayern hat mit 326 Polizisten über 100 Ordnungshüter mehr pro 100.000 Einwohner als Rheinland-Pfalz bzw. Baden-Württemberg. Es gibt also enorme regionale Unterschiede in der Polizeidichte. Ebenso gibt es große Unterschiede in der Zahl der Delikte pro 100.000 Einwohner. Die drei Bundesländer mit der niedrigsten Kriminalitätsbelastung (2022, gerundet) sind Hessen (6.000), Baden-Württemberg (5.000) und Bayern (5.000). Die höchste Belastung findet sich in den Stadtstaaten Berlin (14.000), Hamburg (11.000) und Bremen (12.000) sowie in den Bundesländern Sachsen-Anhalt (8.000), Nordrhein-Westfalen (8.000) und Saarland (7.000). In den Stadtstaaten liegen sowohl die Polzeidichte als auch die Delikthäufigkeit über dem Durchschnitt, und es darf angenommen werden, dass ersteres die Folge des zweiteren ist (und dieses wiederum die Folge der dort konzentrierten Armut). In den Flächenstaaten jedoch zeigt sich dieser Zusammenhang nicht. Sowohl bei hoher als auch bei niedriger Polizeidichte haben einige Länder eine hohe, andere eine niedrigere Kriminalitätsrate.
Sicher durch die Polizei?
Dies führt auf die grundlegende Frage: Führt eine Stärkung der Polizei – sei es bei der Stellenzahl oder bei der Bezahlung oder bei der Ausstattung – zu einer Reduzierung der Kriminalität und damit zu einem Schutz der Bevölkerung vor Straftaten? Mit der oben erwähnten Ausnahme gehen alle interviewten Stadträte völlig selbstverständlich von dieser Annahme aus. Auch in der Mehrheit der Bevölkerung wird sie allgemein geteilt und niemand kommt hier auf die Idee, sie zu hinterfragen. (In diskriminierten Teilen der Bevölkerung gibt es ganz andere Einstellungen.) Aber: Es gibt keine überprüfbaren Fakten, keine Zahlen und keine Studien, die diese Annahme stützen. Hier scheint zuzutreffen, was Otto von Bismarck schon vor langem sagte: „Eine zweifelhafte Behauptung muss recht oft wiederholt werden, dann schwächt sich der Zweifel immer etwas ab und findet Leute, die selbst nicht denken, aber annehmen, mit soviel Sicherheit und Beharrlichkeit könne Unwahres nicht gedruckt werden.“
Zwar kann die sichtbare Präsenz von Polizei Straftaten verhindern, sie senkt aber deswegen nicht die Kriminalitätsrate. Die in der Fachsprache so genannte ‚situative Kriminalprävention‘ wird aus mehreren Gründen auch von KriminologInnen kritisiert. Vor allem, weil sie die tieferen Kriminalitätsurschen ignoriert, und weil sie Kriminalität nur verdrängt und verlagert, oft zum Nachteil sozial Schwächerer. Auch für Videoüberwachungen konnte gezeigt werden, dass Täter dann halt dorthin gehen, wo es weniger wahrscheinlich ist, entdeckt zu werden.
Effektive Strafverfolgung?
In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) veröffentlichen die Länderpolizeien einmal im Jahr Kennziffern zur Entwicklung der Kriminalität der häufigsten Delikte und deren polizeilicher Bearbeitung. In der PKS Rheinland-Pfalz 2022 bspw. werden 5.565 „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ aufgeführt. Laut Tabelle bilden sie 2,3% der Straftaten insgesamt und wurden zu 89,5% aufgeklärt. Wenn auch die Anzahl der Delikte erschrecken kann, entsteht doch der Eindruck, dass die Polizei mit einer Aufklärungsquote von fast 90% einen ganz guten Job macht, dass sie das ihre zur Sicherheit der Bevölkerung beiträgt. Die Realität aber sieht ganz anders aus. Ein vollständigeres Bild entsteht erst, wenn wir weitere Aspekte hinzunehmen, vor allem die Göße des Dunkelfeldes. Dieses beläuft sich nach einer aktuellen BKA-Studie auf 99%, nur eine von hundert Sexualstraftaten wird angezeigt. Daraus folgt nicht nur, dass die Gefährdung der Bevölkerung viel größer ist als es in den Tabellen der Polizei scheint, sondern auch, dass bei dem Anteil der tatsächlich aufgeklärten Sexualstraftaten das Komma um zwei Stellen nach links verschoben werden muss: Nicht 90%, sondern 0,9% der Sexualstraftaten werden tatsächlich aufgeklärt. Die Aufklärung von Straftaten geht nun aber allgemein nur zu 10% auf polizeiliche Ermittlungen zurück und zu 90% auf Angaben von Zeugen und Opfern. In Bezug auf die Effektivität der Polizei müssen wir also das Komma nochmals um eine Stelle nach links verschieben: Nur eine von 900 Sexualstraftaten wird durch die Polizei aufgeklärt.
Zwei Aussagen stehen damit gegeneinander: „Neun von zehn Sexualstraftaten werden aufgeklärt!“ gegen „Nur eine von 900 Sexualstaftaten wird aufgeklärt!“ Keine dieser beiden Aussagen ist falsch, sie stehen aber für unterschiedliche Perspektiven: Die erste ist aus der Sicht der Polizei, die zweite aus der Sicht der Bevölkerung.
Sexualstraftaten wurden hier als Beispiel herangezogen, weil mittlerweile das Dunkelfeld relativ gut abgeschätzt werden kann. In anderen Deliktbereichen ist das Dunkelfeld nach übereinstimmenden Experteneinschätzungen noch wesentlich größer, vor allem beim Menschenhandel, dem Drogenhandel und der Wirtschaftskriminalität.
Was ist mit der Prävention?
Das Polizeirecht weist der Polizei zwei Aufgaben zu: Strafverfolgung und Gefahrenabwehr (Prävention). Die Gefahrenabwehr soll schädigende Ereignisse (nicht nur Straftaten) verhindern, bevor sie eintreten. Sie wird in der Kriminologie häufig als die vorrangige Aufgabe angesehen. Sowohl in öffentlichen Diskursen als auch in den Unterhaltungsmedien geht es jedoch fast ausschließlich um die Strafverfolgung. Obige Ausführungen mögen eine Vorstellung davon abgeben, dass ganz entgegen der weit verbreiteten Ansicht eine effektive Strafverfolgung durch die Polizei nicht wirklich existiert. Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass sich das durch Ausweitung und Aufrüstung der Polizei eher verschlimmert. Die Effektivität der präventiven Arbeit der Polizei ist schwer zu evaluieren. In den letzten Jahren konnte sie wohl einige Terrorakte verhindern, wofür sie Dank und Anerkennung verdient. Nach allem, was bekannt ist, ist aber die Bilanz bei der Prävention anderer Straftaten noch wesentlich düsterer als bei der Strafverfolgung.
Das ist aber nicht die Schuld der Polizei!
Es sind doch die sich beschleunigt ausbreitenden sozialen Krisen (Armut, Sozialabbau, Wohnungs-, Bildungs- und Gesundheitskrise etc.), die in den Blick genommen werden müssen. Sie steigern einerseits die seit langem bekannten Ursachen von Kriminalität, vor allem Armut und Bildungsmängel (bisher konnte noch keine Untersuchung zu geringe Ausgaben für die Polizei als Kriminalitätsursache identifizieren). Andererseits führen sie in dem allgemeinen Rechtstrend zur Präferierung ordnungspolitischer Maßnahmen, d.h. zur populistischen Flucht in Law-and-Order-Politik. Die unbestreitbare Überforderung der Polizei liegt darin begründet, dass sie mehr oder weniger offen und direkt soziale Probleme lösen soll.
Aktuelles Stadtgespräch in Ludwigshafen ist die steigende Zahl von Auto-Aufbrüchen. Allein zwischen Juli und Mitte November wurden 163 Autos aufgebrochen – fast dreimal so viele wie im ganzen ersten Halbjahr. Aufgrund der Vorgehensweise geht die Polizei davon aus, dass es sich dabei meistens um Beschaffungskriminalität für den Kauf von Drogen handelt. Die Polizei reagierte massiv. Der zuständige Kommissariatsleiter Bernd Orth zur „Rheinpfalz“: „Uns fuchst das schon. Wir wollen die Täter kriegen.“ Ende Oktober wurde eine „gezielte Polizeiaktion“ durchgeführt – ohne nennenswerte Ergebnisse. Jetzt werden alle Polizeikräfte fortlaufend über die Lage unterrichtet, Streifenfahrten und Kontrollen intensiviert – bislang ebenfalls ohne Ergebnis.
Auch ohne Glaskugel lässt sich vorhersagen: Solange wir bei Beschaffungskriminalität noch nicht mal über Prävention sprechen – etwa in Form von Drogenberatung, Substitutionstherapien und aufsuchender Sozialarbeit – solange werden wir beides behalten: sowohl eine überforderte Polizei als auch aufgebrochene Autos.
Michael Kohler
(1) https://kommunalinfo-mannheim.de/2023/11/12/was-tun-wenn-die-polizei-um-hilfe-ruft/
(2) https://kommunalinfo-mannheim.de/2022/12/12/wozu-polizei/