36 Grad und es wird noch heißer
Der 21. Juli 2024 ist ein Sonntag. In Paris bekommt die US-Amerikanerin Simone Biles die Goldmedaille im Mehrkampf der Frauen – mit 30 Weltmeisterschaftsmedaillen und elf Medaillen bei olympischen Spielen gilt sie als die erfolgreichste Turnerin weltweit. Ein anderer ‚Rekord‘ desselben Tages erhält weniger Aufmerksamkeit: Die National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) und der European Copernicus Climate Change Service (3S) erklärten gemeinsam den 21.7.2024 sowie den gesamten Monat Juli zu den weltweit heißesten seit Beginn der Aufzeichnungen. Sie sprachen zudem die Vermutung aus, dass es auf der Erde seit 120.000 Jahren keinen heißeren Tag und auch keinen heißeren Monat gegeben habe. In der folgenden Woche veröffentlicht die Deutsche Umwelthilfe (DUH) – fast lässt sich sagen passenderweise – die Ergebnisse einer Studie zum Hitzeschutz in deutschen Großstädten. Wie KIM berichtete (1), erreichte Ludwigshafen den schlechtesten Platz unter allen 190 untersuchten Städten. Mannheim kam in der Rangliste auf Platz 181, die sommerlichen Lebensbedingungen sind hier also nur unwesentlich besser. Mannheim hat allerdings ein Grünvolumen von 2,06 m3 pro m2 Fläche. Ludwigshafen kommt nur auf 1,63 m3 Grün / m2 Fläche. Hier könnte Ludwigshafen lernen: Auch bei starker Versiegelung lässt sich der Grünanteil steigern. Untersuchungen zeigen übrigens, dass große Bäume und begrünte Fassaden die meisten positiven Effekte sowohl beim Hitzeschutz als auch beim Klimaschutz bringen. Die DUH fordert deshalb die Bundesregierung auf, bundesweite Standards für die Begrünung, z.B. von Schulhöfen, vorzuschreiben. Ein Blick auf Google Maps zeigt: Hier hätte Ludwigshafen jede Menge Möglichkeiten.
Lokalpresse und Verwaltung verharmlosen
Seit Jahren schlittert Ludwigshafen von einem Imageproblem zum nächsten, entsprechend nervös wirken die Bemühungen der Stadtverwaltung, den jeweils neuesten Imageschaden zu begrenzen. Die Lokalzeitung ‘Die Rheinpfalz’ veröffentlicht am 3.8.24 einen ausführlichen Artikel unter der Überschrift “Zu viel Beton, zu wenig Grün”. Leider scheint sie die Beschönigungen und Verharmlosungen der Verwaltung kräftig unterstützen zu wollen. Indem sie nicht nur, wie es eigentlich ihre journalistische Aufgabe wäre, deren Rechtfertigungen nicht hinterfragt, sondern sich auch selbst einer tendenziösen Wortwahl und Argumentation bedient. Es beginnt mit der durch keinerlei Sachargument gestützten Feststellung, die Methodik der Studie werfe Fragen auf und geht damit weiter, die Deutsche Umwelthilfe zusammenhangslos als Lobbyorganisation zu bezeichnen. Der allgemeine Sprachgebrauch konnotiert Lobbyismus nicht ohne Grund negativ, als eine fragwürdige Einflussnahme, als überwiegend verdeckt betriebene Beeinflussung der Politik, meist für die Interessen großer Konzerne, Wirtschaftsbranchen oder Berufsgruppen. Die DUH ist jedoch eine als gemeinnützig anerkannte Umwelt-, Natur- und Verbraucherschutzorganisation. Zwar ist sie in das Lobbyregister des Deutschen Bundestages eingetragen, dieses Register soll aber alle Organisationen ausweisen, die eine politische Interessenvertretung betreiben. Die von der ‘Rheinpfalz’ benutzte Wortwahl geht zurück auf den ehemaligen CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, der die DUH 2019 als Lobbyorganisation bezeichnete, die Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit untergrabe und die sogenannte Verbrauchermündigkeit bekämpfe. Auslöser war gewesen, dass die DUH vorübergehend in einigen Städten Fahrverbote für ältere Dieselfahrzeuge erstritten hatte. Beides, die Bezeichnung als Lobbyorganisation und die unbelegte Behauptung, die Studie sei methodisch mangelhaft, bedeutet, die DUH anzugreifen und abzuwerten, statt sachliche Argumente vorzubringen.
Nullargumente
Seriöser Journalismus geht anders, es sei jedoch eingeräumt, dass in dem Artikel auch Sachargumente vorgebracht werden, wie z.B. dieses: “Ludwigshafen hat bereits in der Vergangenheit bei ähnlichen Rankings schlecht abgeschnitten, was auch daran liegt, dass das Stadtgebiet mit knapp 77 Quadratkilometern vergleichsweise klein ist – Mannheim verfügt über doppelt so viel Fläche.” Aufmerksam lesende stoßen in diesem einen Satz auf gleich mehrere Merkwürdigkeiten: Warum bitteschön soll ein relativ kleines Stadtgebiet die Ursache für einen schlechten Hitzeschutz sein? Am anderen Ende des Rankings, also unter den Städten mit dem besten Hitzeschutz befinden sich mehrere mit kleinem Stadtgebiet, z.B. Gladbeck mit nur 36 Quadratkilometern. Und: Was besagt das Argument “Mannheim verfügt über doppelt so viel Fläche.”? Warum soll es Ludwigshafen schwerer haben als Mannheim, das zwar doppelt so groß ist, das aber auch fast doppelt so viele Einwohner hat? Wer den Satz flüchtig liest, könnte denken, Mannheim habe doppelt so viel Platz für Grün wie Ludwigshafen. So ist es aber nicht. In Ludwigshafen kommen 2.251 Menschen auf einen Quadratkilometer, in Mannheim 2.186. Das sind in Mannheim drei Prozent weniger als in Ludwigshafen und nicht die Hälfte. Die Rheinpfalz erklärt weiter: “Hinzu kommt: viele große Industriefirmen haben ihren Sitz in Ludwigshafen – unter anderem die weltgrößte Chemiefabrik.” Das Argument erscheint zunächst plausibel, hält aber einer sachlichen Prüfung ebenfalls nicht stand. Auch Mannheim ist eine Stadt mit großen Industrieflächen und trotz Waldpark und vieler weiterer Grünflächen insgesamt stark versiegelt, d.h. bebaut, betoniert oder asphaltiert. In der DUH-Studie lässt sich nachlesen, dass Mannheim mit 56 Prozent Flächenversiegelung den zweiten Platz der am stärksten versiegelten Städte Deutschlands einnimmt, den Negativrekord hält Ludwigshafen mit 58 Prozent (2).
“… nicht wesentlich anders als in anderen Städten …”?
Etwas geschickter versucht es die Stadtverwaltung: “Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass in Ludwigshafen der Versiegelungsgrad in den Wohnsiedlungsbereichen nicht wesentlich anders ist als in anderen Städten.” Leider jedoch ist auch diese Aussage in zweierlei Hinsicht falsch oder zumindest problematisch. Erstens gibt es keine öffentlich bekannten Untersuchungen, die sich nicht auf den Siedlungsbereich (einschließlich Industrieflächen) beziehen, sondern nur auf den Wohnsiedlungsbereich (ohne Industrieflächen). Zweitens gibt es erhebliche Unterschiede beim Versiegelungsgrad, die sich nicht aus der Größe bzw. dem Anteil der Industrieflächen ergeben, sondern aus der Dichte der Bebauung. Bspw. sind Frankfurt, Hannover und Nürnberg wesentlich dichter bebaut als Hamburg oder Berlin, was zu Unterschieden in der Versiegelung von bis zu 15 Prozent führt. Anfang Mai veröffentlichte der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) eine von ihm in Auftrag gegebene Studie zur Versiegelung der Siedlungsgebiete von 134 deutschen Städten (3), die eine etwas weitere Definition von Versiegelung zugrunde legte als die DUH. Auch hier schoss Ludwigshafen mit 67 Prozent Versiegelung den Vogel ab, und Mannheim landete mit 66 Prozent auf Platz zwei. Den niedrigsten Versiegelungsgrad weist das thüringische Suhl mit rund 30 Prozent auf. Der mittlere Versiegelungsgrad in deutschen Siedlungsgebieten beträgt 44 Prozent. Der Versicherungsverband warnt davor, dass die immer noch steigende Versiegelung deutscher Städte zum Problem wird angesichts der wachsenden Gefahr von Extremwetterereignissen wie Starkregen.
Wo bleibt das Verursacherprinzip?
Selbstverständlich trifft es zu, dass große Industrieflächen zu einer starken Versiegelung beitragen, der Knackpunkt ist jedoch, mit welchen Implikationen und mit welchem Unterton diese Feststellung einhergeht. Bei der Ludwigshafener Verwaltung scheint der Unterton zu lauten: “Da kamma nix machen!” Vom Standpunkt der Interessen der Allgemeinheit allerdings müsste die Frage heißen: Was ist mit dem Verursacherprinzip? Wenn die Industrie ein Verursacher des Hitzestress ist, wie kann sie dann zu dessen Bewältigung in die Verantwortung genommen werden? Schließlich besteht eine enorme Belastung der Bevölkerung, besonders für Kinder, alte Menschen, Schwangere, chronisch Kranke, im Freien Arbeitende, Wohnungslose und Menschen in schlecht isolierten Wohnungen. Eine Besonderheit, die auch in Ludwigshafen schon vor Jahren festgestellt wurde, besteht in der Existenz sogenannter Hitzeinseln, vor allem in der Innenstadt. In diesen dicht bebauten und wenig begrünten Bezirken kann die Temperatur bis zu sieben Grad über der des Umlandes liegen. Laut einer Anfang August veröffentlichten Forsa-Umfrage der DAK hat ein Viertel der Deutschen in diesem Jahr bereits unter Gesundheitsproblemen durch extreme Hitze gelitten, v.a. unter Abgeschlagenheit, Kreislaufproblemen und Schlafstörungen, bei Menschen ab 60 Jahren sogar jeder Dritte. In Ludwigshafen und Mannheim, den Hotspots im direkten Sinne des Wortes, dürften die Prozentsätze noch viel höher liegen. Dabei sind es nicht nur die Industrieflächen, durch die große Unternehmen zur Überhitzung der Stadt beitragen, auch der gesamte Straßenbau in der Stadt sowie in der Region ist seit Jahrzehnten maßgeblich von dem (nicht immer erreichten) Ziel geprägt, Berufstätige möglichst rasch und reibungslos zu ihrem Arbeitsplatz und wieder zurück gelangen zu lassen. Ein dritter Faktor, der die Verantwortlichkeit industrieller Unternehmen für die Überhitzung (und bereits für die Klimakatastrophe) begründet, ist deren gewaltiger Energieverbrauch. Allein die BASF verbrauchte 2023 rund 25 Millionen Megawattstunden Energie. Davon waren ca. 4,5 Millionen Megawatt Strom, was ungefähr dem Stromverbrauch von ganz Bremen oder Dresden in einem Jahr entspricht. Der Verbrauch von Erdgas liegt bei 6 Milliarden Kubikmetern. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) errechnete 2021, dass dies etwa so viel Erdgas ist, wie die ganze Schweiz in einem Jahr verbraucht. Angewandt auf deutsche Verhältnisse: die BASF Ludwigshafen verbraucht mehr Erdgas als die Städte Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt, Stuttgart und Düsseldorf zusammen. Bei dieser Gelegenheit erinnern wir uns: Ab Januar 2023 galt – nach Drängen vor allem der BASF – für große Unternehmen eine Gaspreisbremse, die es ihnen ermöglichte, 70 Prozent ihres Gasverbrauchs zu einem subventionierten Preis von 7 Cent pro Kilowattstunde zu beziehen. Verbrauchern wurde vorübergehend die Mehrwertsteuer auf Gas gesenkt und geraten, nicht mehr jeden Tag oder kürzer oder kalt zu duschen.
Michael Kohler
(2)Hitze-Check von Deutschlands Städten – duh.de