Das Recht des Stärkeren: Stadt, Polizei, Parkplatz- und Gewaltprobleme in der Neckarstadt-West
Wer um den Neumarkt herum aufgewachsen ist oder, wie ich, ein paar Jahre im täglichen Einflussbereich der Mittelstraße gelebt hat, der weiß um die Unterschiede zur Oststadt, zu Feudenheim, zu Neckarau oder zu Sandhofen. Der urbane Multikulti-Stadtteil am Neckar hat seine Besonderheiten – im Guten wie im Schlechten. Hier werden die Bordsteine noch nicht um 20 Uhr hoch geklappt. Hier leben die Menschen nicht versteckt hinter Jägerzäunen und Buchsbaumhecken. Hier spielt sich das Leben auf der Straße ab, gerade im Sommer. Der Ton mag zwar etwas rauer sein, aber dafür ist er auch persönlicher, ungezwungener und nicht so spießig, wie anderswo.
Dass hier nicht alles rosarot ist, ist kein Geheimnis. Halbstarke, Möchtegern-Gangster und tatsächliche, Verkehrsrowdys und Machos, aber auch Rassisten und Sexisten können einem in der Neckarstadt schnell den Alltag vermiesen. Straßengewalt, Diebstähle, verbale und körperliche Anmachen sind keine Erfindungen derer, die den Stadtteil schlecht reden wollen. Es sind reale Probleme.
Soweit, so schlecht. Doch regiert hier wirklich das “Recht des Stärkeren”? Sicher nicht immer und überall, aber manchmal leider eben doch. Die Frage ist, wie man damit umgehen sollte. Wie kann die Neckarstadt zu einem besseren Stadtteil werden? Wie kann man das Miteinander fördern und das Gegeneinander bekämpfen?
Mit voller Härte gegen Parksünder
Die Stadt verfolgt hier verschiedene Strategien, über die das KIM bereits berichtet hatte. Eine punktuelle Aktion fand am Freitagabend, 7. Dezember statt. Der Fachbereich Sicherheit und Ordnung hatte Medienvertreter dazu eingeladen, einer groß angelegten Aktion gegen Falschparker beizuwohnen. 12 Fahrzeuge, die im Parkverbot und an unübersichtlichen Kreuzungen standen, wurden abgeschleppt. Es war, wie Bürgermeister Christian Specht betonte, ein “Signal” in den Stadtteil, den man nicht allein lasse. Geltendes Recht werde umgesetzt. Es sei die mittlerweile sechste Aktion dieser Art im vergangenen halben Jahr in der Neckarstadt.
Nun war dies sicherlich eine beeindruckende und für das Dezernat I durchweg erfolgreiche Aktion, die im Stadtteil für Aufmerksamkeit gesorgt hat. Die Stärkeren waren an diesem Freitagabend eindeutig die Mitarbeiter*innen des Ordnungsamtes. Aber ist damit das Problem gelöst?
Die Frage wurde beantwortet, als wir einen Abschleppvorgang an der Ecke Riedfeldstraße/Zehntstraße beobachteten. Ein PKW mit polnischem Kennzeichen stand im Halteverbot, unmittelbar an der Kreuzung. Der blaue Kombi wurde auf den Abschleppwagen gehoben und davon gefahren. Rund 200 Euro dürfte den Halter das kosten. Keine fünf Minuten später kam bereits der nächste angefahren und stellte sich in den selben Bereich an der Kreuzung. Sofort eilten die Mitarbeiter*innen des Ordnungsamtes herbei. Der Fahrer argumentierte, er müsse nur schnell etwas abliefern und fahre gleich wieder weg. Es half nichts, dort durfte er nicht stehen bleiben. Dennoch hatte er Glück. Das teure Abschleppen blieb ihm erspart.
Die Neckarstadt hat ein massives Parkplatzproblem. Hier wohnen viele Menschen auf engstem Raum. Der Stadtteil ist historisch gewachsen. Geplant wurde er in einer Zeit, in der es noch lange nicht so viele Autos gab, wie heute. Viele Menschen im Stadtteil arbeiten, verdienen aber so wenig Geld, dass sie sich keine teuren Hofstellplätze oder Garagen leisten können – sofern es solche überhaupt in ausreichender Zahl gäbe.
Ich kenne das Problem aus eigener Erfahrung. Abends 15 bis 20 Minuten mit dem PKW um die eigene Wohnung kreisen, bis endlich mal einer aus einer Parklücke heraus fährt, war keine Ausnahme, sondern die Regel. In meinem Hinterhof waren die Stellplätze dagegen nur zu einem Drittel vermietet. Auch ich war damals zu geizig, jeden Monat zusätzlich 60 Euro an die Hausverwaltung abzudrücken.
Repression gewinnt, Prävention verliert
Das ist keine Rechtfertigung zum Falschparken, aber eine Erklärung. Die Schwerpunktaktionen des Ordnungsamtes werden das Problem nicht lösen. Ich möchte nicht behaupten, dass es einfach wäre, hierfür eine Lösung zu finden. Aber die Stadt macht es sich trotzdem zu leicht. Law-and-Order-Politik, kombiniert mit professioneller Öffentlichkeitsarbeit – das lässt die Stadt gut aussehen und vermittelt ein “Wir kümmern uns”-Image. Vielleicht wirkt es sich sogar positiv auf das viel diskutierte subjektive Sicherheitsgefühl der Menschen im Stadtteil aus. Ursächliche Probleme werden aber – genau wie bei der Videoüberwachung – nicht gelöst. Das wäre weitaus komplizierter.
Man müsste an die Ursachen ran, bezahlbare Parkplätze schaffen, Halteplätze für Lieferdienste einrichten, Lieferverkehr dezentralisieren und auf Lastenräder umsatteln. Man müsste in den Köpfen und Strukturen vieles ändern, den PKW unattraktiver, ÖPNV und Fahrrad populärer machen. Alles nicht so einfach.
Stattdessen gibt es kurzfristige, oberflächliche, aber medienwirksame Aktionen. Damit einher geht die Stärkung des Repressionsapparates. Mit dem Besonderen Ordnungsdienst (BOD) wurde eine Art Spezialeinheit der Stadt für die Problemstadtteile geschaffen. Diese Mitarbeiter*innen des Ordnungsamtes sind speziell geschult und gehen auch die härteren Probleme, wie Kontrolle von Spielhallen und Alkoholverbot an, sind zudem abends und am Wochenende im Einsatz.
Die Präventionsmaßnahmen haben es dagegen schwer: Kaum Öffentlichkeit und ständige Probleme mit der Finanzierung. Dazu muss man sich ständig selbst rechtfertigen. Von solchem Prestige, wie es die mit rund 1 Million Euro von Stadt und Polizei finanzierte Videoüberwachung genießt, können soziale Projekte der Präventionsarbeit nur träumen.
Große Anstrengungen auch bei der Polizei
Derweil wird in der Neckarstadt weiter um das “Recht des Stärkeren” konkurriert. Bei der Abschleppaktion waren das einen Abend lang die Mitarbeiter*innen von Bürgermeister Specht. Wer sich ebenfalls große Mühe gibt, beim Wettkampf um den Rang der Stärksten nicht den Kürzeren zu ziehen, sind die Polizist*innen in der Neckarstadt. Das haben sie in den letzten Wochen gleich mehrfach bewiesen.
Am Freitagabend beim Stadtteilfest Lichtmeile haben sie es geschafft, die Situation im Anschluss an eine völlig friedliche Demo gegen Kameraüberwachung derart zu eskalieren, dass es Verletzte gab. Zuerst wurde ein Passant festgenommen, der anlässlich eifrig über den Neumarkt wuselnder Polizist*innen im Anschluss an die Demo gesagt haben soll “Die Polizei sind ja nicht gerade die Hellsten”. Als er dann im Polizeiauto saß und über den Lautsprecher fragte, warum er den eigentlich festgenommen wurde, kamen die Polizisten zurück gerannt und bearbeiteten ihn auf dem Rücksitz dermaßen, dass er um Hilfe schrie und Angst hatte, dass ihm das Genick gebrochen würde.
Eine weitere Person, die den Vorfall mit dem Handy filmte und sich nicht sofort der Polizei gegenüber ausweisen wollte, wurde kurzerhand zu Boden gebracht, in ein Geschäft gezerrt und dort weiter bearbeitet. Blutende Verletzungen am Kopf waren für ihn die Folge. Der Betroffene hat daraufhin Anzeige wegen Körperverletzung gegen 4 Polizeibeamte bei der Staatsanwaltschaft eingereicht. Fortsetzung folgt.
Auch mit Falschparkern geht die Polizei nicht gerade zimperlich um. In einer Reportage des Magazins “Spiegel-TV” wird ein Falschparker in der Neckarstadt zunächst kontrolliert. Als der Mann nicht gleich mit kommt und den Griff des Polizisten an seinen Arm versucht abzuschütteln, wird er direkt mit einem Würgegriff um den Hals zu Boden gerungen, von drei Beamten fixiert und mit Handschellen gefesselt.
Ist das noch verhältnismäßig? Der Revierleiter der Neckarstadt, Frank Hartmannsgruber, sagt “Ja”. Seine Kollegen seien angriffen worden. Der Mann habe den Arm des Polizisten weggeschlagen. Daher sei das Vorgehen angemessen gewesen. Angriff? Geschlagen? Die Polizei schafft sich ihre eigenen Wahrheiten, um Gewalt zu rechtfertigen. Im Videobeitrag sieht man sicher nicht jedes Detail, aber genug, um die Situation halbwegs einschätzen zu können. Ja, der Mann ist frech, vielleicht sogar respektlos, aber sicherlich nicht gewalttätig.
Geht es hier tatsächlich um die Durchsetzung geltender Gesetze? Oder vielleicht doch eher darum, zu markieren, wer im Kiez der Stärkere ist? Sich Respekt verschaffen mit Gewalt, das ist in der Neckarstadt leider in vielen Kreisen übliche Praxis.
Weht in der Neckarstadt nun ein anderer Wind?
Gesetzte scheinen von der Polizei recht selektiv wahrgenommen zu werden. Bei Angriffen auf die Kollegen wird sofort reagiert. Da gibt es keine Diskussion. Bei der Verletzung der Rechte von Dritten scheint der gesetzliche Rahmen etwas großzügiger ausgelegt zu werden. Gelassen erzählen Polizisten gegenüber “Spiegel TV” von ihrem Einsatz, während sie in einer Neckarstädter Wohnung stehen, deren Bewohner offenbar kurz zuvor verstorben ist und nebenan auf dem Fußboden liegt. Die Polizist*innen spekulieren, was da wohl passiert sein könnte. Der Kameramann hält voll auf die Leiche drauf. Ein Versuch der Polizei, dies zu unterbinden, ist nicht erkennbar. Im Gegenteil scheint die Reportage sehr eng mit der Polizei abgestimmt worden zu sein. Sogar bei Einsatzbesprechungen darf das Team von “Spiegel TV” filmen.
Revierleiter Frank Hartmannsgruber ist in der Neckarstadt noch kein bunter Hund. Sein Vorgänger Peter Albrecht genoss hohes Ansehen und wurde für seinen gelassenen, vermittelnden Stil von Akteuren des Stadtteils viel gelobt. Warum er vor einigen Monaten überraschend von Hartmannsgruber abgelöst wurde, konnten sich viele nicht erklären. Gerüchte, wonach Albrecht zu lasch gewesen sei und der neue mal ordentlich aufräumen solle, lassen sich schwer überprüfen. Es wird sich mit der Zeit heraus stellen, ob da etwas dran ist.
Es bleibt die Erkenntnis, dass dieser Stadtteil nicht noch mehr Gewalt, nicht noch mehr Härte und Brutalität braucht, von Leuten, die meinen, den Starken markieren zu müssen. Den Menschen in der Neckarstadt täte etwas mehr Kommunikations- und Komprissbereitschaft, Kreativität und Offenheit bei der Suche nach Problemlösungsstrategien gut – anders gesagt: linke Ideen statt konservativer Law-and-Order-Politik. Solidarität statt alle gegen alle. Leider gehen die Repressionsbehörden Ordnungsamt und Polizei genau in die entgegengesetzte Richtung. Sie überschatten mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit von Abschleppaktionen bis Spiegel-TV Reportagen die guten, sinnvollen und wichtigen Konzepte der Stadt, die es durchaus auch gibt – jenseits von Dezernat I.
(cki)
Siehe auch
Spiegel-TV: Reißerischer und tendenziöser Bericht über die Neckarstadt-West und die Schönau