Videoüberwachung in Mannheim: Mit Videokameras ein „Grundrecht auf subjektives Sicherheitsgefühl“ durchsetzen?
Im Ausschuss für Sicherheit und Ordnung der Stadt Mannheim wurde wieder routinegemäß über die Fortschritte auf dem Weg zur Videoüberwachung in der City und auf dem Alten Messplatz informiert und danach ebenso routinemäßig über das ganze Unterfangen gestritten.
Kamera-Installation
Für Holger Schmid von der Mannheimer Liste ist es erfreulich, denn sie hätten das schon vor 20 Jahren gefordert: Am Bahnhofsvorplatz sind die neuen Kameras vollständig installiert, am Paradeplatz und auf dem Alten Messplatz fehlen nur noch jeweils zwei. Bald kann es also losgehen, wenn auch die entsprechenden Hinweisschilder (mit QR-Code mehrsprachig) angebracht sind. Dann werden Polizeibeamt*innen erst einmal konventionell auf die übertragenen Bilder auf einer Vielzahl von Monitoren schauen und versuchen zu erfassen, ob z.B. gerade einmal eine Person niedergeschlagen wird. Denn der eigentliche clou des vom Innenministerium bei der Fraunhofer-Gesellschaft in Auftrag gegebenen „lernenden Systems“ muss ja erst von diesem erlernt werden: Entlastung der Beamt*innen durch Reduzierung der Beobachtungstätigkeit auf die Momente, wenn das ansonsten verpixelte Bild scharf gestellt wird, nämlich dann, wenn wirklich „was los“ ist. Und das, was los ist, soll das lernende System erkennen und bewerten lernen. Die labormäßig entwickelte algorithmische Grundausrüstung scheint denkbar bescheiden zu sein. Für den Dienst vor den Bildschirmen haben sich lt. Köber freiwillig Beamt*innen gemeldet, die im Außendienst nur mehr beschränkt einsetzbar sind.
Der „Mannheimer Weg“: interventionistisch
Hinter der ganzen Bemühung stecke das Versprechen, innerhalb weniger Minuten mit Polizeikräften vor Ort zu sein und zu helfen, wenn eine der definierten Sicherheitsstörungen auftrete und durch das Hinschauen per zoomender Kamera verifiziert ist. Die Deliktgruppen „Dealen“ und „Taschendiebstahl“, die einen Großteil der Straßenkriminalität ausmachen und die Statistiken aufblähen, fallen allerdings nicht unter das Raster, das algorithmisch erfasst werden soll – das würde sonst von Händchenhalten bis in die (eigene) Tasche greifen wahrscheinlich zur Dauerpräsentation von Klarbildern in der Lagezentrale führen. Letztlich geht es um Einsatzoptimierung und -effektivierung der Polizei. Dieser „Mannheimer Weg“ finde international Beachtung: Köber habe schon in London, Liverpool, Madrid und Paris über dieses Projekt vorgetragen. Das macht hellhörig; denn mindestens London (wie auch übrigens München) hat noch sehr viel weitergehende „Sicherheits“-Konzepte (s.u.). Köber betont nochmals ausdrücklich, dass weder Gesichtserkennung à la Berlin-Südkreuz oder China einbezogen werde wie auch keine Akustikaufnahmen.
Subjektives Sicherheitsgefühl als Grundrecht?
Warum das Ganze? Die erste Antwort hierauf ist stets die Bezugnahme auf das angeschlagene subjektive Sicherheitsempfinden der Bevölkerung, wie es in den entsprechenden Befragungsaktionen des kriminologischen Instituts der Uni Heidelberg zum Ausdruck komme. Dezernent Specht macht daraus einen „Anspruch auf das Grundrecht, keine Angst haben zu müssen“. Die Videoüberwachung garantiere somit gerade mehr Grundrechtsschutz. Eben der „neue Mannheimer Weg des Verständnisses für Grundrechte.“ Oder mit den Worten von Holger Schmid: „Wir dürfen die öffentlichen Räume nicht verlieren“. Es könne nicht sein, dass sich viele Menschen abends nicht mehr in die Stadt trauen. Schmid ging aber im Übereifer auch von „flächendeckender“ Videoüberwachung aus. Der Oberbürgermeister hatte die Videoüberwachung seinerzeit etwas bescheidener als Maßnahme bezeichnet, etwas gegen den Eindruck des Staatsversagens zu unternehmen. Stadtrat Ratzel (Sicherheitspolitischer Sprecher der CDU) meint zu wissen, dass über 80% der Mannheimer Bevölkerung die Videoüberwachung erwarten. Dem hält Stadtrat Beisel (FDP) entgegen: „Grundrechte sind nicht Umfragen zu opfern“. Wenn es nach Meinungsumfragen gehe, hätte Deutschland seit den RAF-Anschlägen wieder die Todesstrafe (er erntet empörtes Gegrummel).
Auch Thomas Köber legt Wert auf die Feststellung, Recht sei keine Frage der Mehrheiten. Zum Thema Datenschutz verweist er auf den Landesdatenschutzbeauftragten (LDSB). Der könne jederzeit um die Ecke kommen und reinschauen, was da getrieben werde. Man arbeite nicht am LDSB vorbei.
Die Speicherfrist der Originalaufnahmen betrage 72 Stunden. Danach würden sie weder überschrieben. Wenn innerhalb der 72 Stunden, z.B. durch die Anzeige eines Opfers, ein Tatbestand bekannt werde zu dem ermittelt werden müsse, habe man die Möglichkeit, die entsprechende Sequenz auszukoppeln und zu brennen. Auch in Echtzeit können Aufnahmen gesichert werden. Der Vorgesetzte habe dann über das weitere Vorgehen zu bestimmen.
Die Frage, ob es denn nicht zur Verdrängung der Kriminalität in die (noch) nicht ausgeleuchteten Straßen komme, weiß Köber positiv zu wenden. Schlägereien würden nicht verdrängt, die geschähen meist spontan und ohne Rücksicht auf das Entdeckungsrisiko. Dealerei dagegen werde schon verdrängt, und das sei aber auch gut so: Das spiele sich dann nicht so vor den Augen des besorgten Publikums ab und den kleinen Straßen-Dealern komme man mit konventionellen Polizeimitteln ganz gut bei. Also auch ohne Videoüberwachung. Aha!
Datensicherheit
Zur Datensicherheit meint Köber: Alle Welt sondert ständig Daten für die großen privaten Firmen ab und niemand habe Einfluss darauf, was mit diesen Daten geschehe. Dagegen sei der Staat geradezu ein Muster an Transparenz: Er unterliege der öffentlichen Kontrolle und gebe Auskunft über die Datenverwendung. Dirk Grunert (Grüne) fragt, wie man zu verhindern gedenke, dass z.B. ein*e Beamt*in mit dem Handy Fotos mache welche dann ebenso wie der legendäre Anruf von Frau Zehnbauer auf youtube landen (er erntet empörtes Gegrummel). Köber versichert, das System habe keinerlei Verbindung zum Internet und könne somit auch nicht gehackt werden. Auch der Hinweis fehlt nicht, dass die Bürger*innen tagtäglich gefilmt werden, ohne dass irgendwelche Datenschutzregeln existierten: in Läden, vor Privathäusern, oder – worauf Ratzel noch ergänzend hinweist – von den 70 Kameras der Deutschen Bahn AG im Hauptbahnhofskomplex.
In Mannheim soll die Polizei schnell nach der Tat eintreffen, andernorts schon vor der Tat. Der elektronische Sicherheitswahn hat noch viel zu bieten
In London, Chicago oder auch München operiert die Polizei bereits mit Pre-Crime-Sytemen oder „Predicting Policing“. Mit geeigneten Algorithmen ausgestatten und mit einer Unzahl persönlicher Daten versucht Pre-Crime, Verbrechen vorherzusagen: Wer, wann und wo? Die verarbeiteten Daten entstammen den Aufnahmen einer Unzahl von Videokameras und vor allem aus den von Datenkraken-Firmen wie Google und facebook gekauften Datensätzen mit Personenprofilen, Bewegungsprotokollen und Vernetzungsschemata . Wer ist mit wem unterwegs, welche Personen haben schon mal mit Tätern oder als potentielle Täter eingeschätzten Personen Kontakt gehabt? Wo braut sich was zusammen?
Der NDR und arte strahlten dazu am 2.10. einen sehr aufschlussreichen Bericht aus: „Pre-Crime“ (Link: https://www.arte.tv/de/videos/061675-000-A/pre-crime/). „Wie viel Freiheit sind wir bereit, für das Versprechen absoluter Sicherheit aufzugeben? Und können wir uns auf das Urteil von Computern und Algorithmen wirklich verlassen? Die Dokumentation stellt Menschen vor, die täglich mit dieser Technologie arbeiten und sie weiterentwickeln, aber auch Menschen, die zu Opfern dieser Technologie wurden. “Pre-Crime” zeigt, dass uns die Zukunft längst eingeholt hat. Faszinierend und furchterregend zugleich dringen utopische Kontrollszenarien immer mehr in das Leben jedes Einzelnen ein.“ So beschreibt arte die Fragestellungen der Recherche. Wenn man sich nun noch in London für die Mannheimer Fraunhofer-Technologie interessiert, um die „schlechte und böse“ Stadtgesellschaft noch effizienter virtuell in Schach zu halten, ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, wann sich das baden-württembergische Innenministerium für Pre-Crime interessiert. Der Gedanke, durch solide Polizeiarbeit und –Präsenz einerseits und andererseits durch Besserung der sozialen Verhältnisse, die so viel Kriminalität hervorbringen, die Sicherheit der Gesellschaft zu erhöhen, ist da schon ganz weit weg. Für Mannheim heißt das: Mit äußerster Wachsamkeit die Videoaktivitäten der Polizei verfolgen und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verteidigen.
(Text: tht | Bilder: cki)