NS-Internierungslager Gurs: Viele gerettete Kinder aus Mannheim und ihre RetterInnen

(Veranstaltungshinweis siehe unten)

Rettet die Kinder

–  ein anderer Blick auf die Geschichte des Lagers Gurs vor 80 Jahren

Henriette Elter wird 1942 aus dem Lager Gurs gerettet und schließt sich der Résistance an (Foto: Henriette Polak)

Am 22. Oktober vor 80 Jahren verschleppen die Nazis 1 972 jüdische Menschen aus Mannheim in das Lager Gurs in Südfrankreich. Unter ihnen sind auch 200 Kinder und Jugendliche. An das Lager, an die Zustände dort, die Mangelernährung, fehlende Hygiene und ärztliche Betreuung, die Verzweiflung, die Toten  und die Verschleppung der Menschen in die Vernichtungslager im Osten ab Mitte 1942 wird alljährlich erinnert.

Drei Viertel der erwachsenen Deportierten aus Mannheim überleben die Nazi-Zeit nicht. Viele „sterben“ im Lager Gurs oder anderen Lagern in Frankreich, die meisten ermorden die Nazis in Auschwitz. Ihre Namen und Schicksale sind erforscht und dokumentiert.

Die geretteten Kinder und ihre RetterInnen

Es fehlt jedoch die andere Geschichte, die Geschichte von Hilfe und Widerstand, die Rettung der Mehrzahl der 200 nach Gurs verschleppten Kinder und Jugendlichen. Über zwei Drittel von ihnen überleben die Deportation, doch ihre Lebenswege sind kaum erforscht: Wer hat die Kinder aus dem Lager herausgeholt ? Wer hat sie mit richtigen falschen Papieren ausgestattet und sie in Frankreich vor dem mörderischen Zugriff der Vichy-Polizei und der Nazis versteckt ? Wer hat sie an die Grenze zur Schweiz geschleust und darüber hinweg bzw. unter dem Stacheldraht durch in Sicherheit gebracht ?

Elisabeth Eidenbenz leitet ein Säuglingsheim in Elne bei Perpignan, in dem auch jüdische Kinder eine sichere Zuflucht finden (Foto: Schweizerisches Rotes Kreuz)

Henriette Elter ist 1920 in Mannheim geboren. Die Nazis verschleppen sie mit ihrer Mutter Lina in das Lager Gurs. Ihr Weg aus dem Lager in das Heim in Lastic-Rosans bei Sisteron, das von der ökumenischen Hilfsorganisation „Amitié Chrétienne“ eingerichtet wurde, ist nicht bekannt. Sie entkommt der Razzia der Vichy-Polizei am 26.8.1942 und schließt sich in Lyon der Résistance an. Sie erhält richtige falsche Papiere auf den Namen „Marie Louise Roth“ und stammt aus dem Elsass. Sie wird verhaftet und kann mithilfe rumänischer Antifaschisten, die zuvor in Spanien gegen Franco gekämpft hatten, aus dem Lager Les Milles fliehen. Im Februar 1943 kommt ihr Sohn Raymond Joseph zur Welt. Sie lebt mit ihm in Elne bei Perpignan in einem Entbindungs- und Säuglingsheim des Schweizerischen Roten Kreuzes unter der Leitung und dem Schutz von Elisabeth Eidenbenz. Nachdem sie ihren Sohn in Sicherheit weiß, geht sie zu ihren kommunistischen FreundInnen, die sie im Lager Gurs kennen gelernt hat, zurück nach Lyon und beteiligt sich an der Résistance: „Wir hatten eine handbetriebene Druckmaschine, die im Garten vergraben war. Mit ihr druckten wir Flugblätter gegen die Besatzung.“ Henriette erlebt 1944 die Befreiung. 1945 erfährt sie, dass ihr Lebensgefährte Arthur Schnierer an den Folgen der Hat in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald gestorben ist. 1947 verheiratet sie sich mit Bernard Polak und 1949 kommt der Sohn Marcel zur Welt und Henriette holt ihren Sohn Raymond, der in einem jüdischen Waisenaus untergebracht war, zur Familie. Die Familie wandert 1953 in die USA aus.

Kurt und Werner Heilbronner mit ihrem Vater vor 1940; sie werden aus dem Lager Gurs gerettet und mithilfe des jüdischen Kinderhilfswerkes OSE und den jüdischen Pfadfindern 1942/43 in die Schweiz in Sicherheit gebracht (Foto: USHMM Washington)

Werner Heilbronner ist 1929 in Mannheim geboren. Die Nazis verschleppen ihn mit seinem Bruder Kurt und den Eltern Flora und Erwin in das Lager Gurs. Die Familie kommt im März 1941 in das Lager Rivesaltes. Mitarbeiterinnen von Hilfsorganisationen retten ihn aus dem Lager und bringen ihn in das Heim der jüdischen Pfadfinder EIF in Moissac. Über eine der Rettungslinien des jüdischen Kinderhilfswerkes OSE, der protestantischen Frauenorganisation CIMADE, der jüdischen Pfadfinder oder der zionistische Jugendbewegung MJS wird er am 16.4.1943 mit Eva und Miriam Cohn, Hans Dalsheim und Paula Reich aus Baden an die Grenze zur Schweiz gebracht. Mithilfe des OSE-Mitarbeiters Georges Loinger gelingt die Rettung über die Grenze. Sein Bruder Kurt wird schon Ende 1942 in die Schweiz gerettet.

Walter Kaufmann ist 1928 in Mannheim geboren. Seine Eltern Else und Hermann bemühen sich um eine Auswanderungsmöglichkeit aus Nazi-Deutschland. Im Mai 1939 kommt seine ältere Schwester Rosi nach Großbritannien und kann dort als Kindermädchen und dann in einer Porzellanfabrik arbeiten. Die Nazis verschleppen Walter mit seinen Eltern in das Lager Gurs. Im März 1941 kommt die Familie in das Lager Rivesaltes. Im Februar 1942 retten Mitarbeiterinnen des jüdischen Kinderhilfswerkes OSE Walter in das Heim in Palavas-les-Flots bei Montpellier, das von Sabine Zlatin geleitet wird. Kurz vor den Razzien der Vichy-Polizei nach jüdischen Kindern am 26.8.1942 bringt ihn das OSE zur protestantischen Familie Dureau in Châteauneuf-sur-Isère im Departement Drôme. Die Eltern Madeleine und Auguste sind Lehrkräfte, sie haben drei Kinder und Walter wird zu einem Neffen mit dem Namen „Jean Dureau“: „Sie haben mich wie ihr eigenes Kind behandelt“. Er besucht die Schule, macht Hausarbeiten und kann – wie früher in Mannheim und 1941 in Montpellier  – Geigen-Stunden nehmen. Er berichtet 1951: „Ich habe in diesem Haus, das ich bis heute als das meinige betrachte, die Jahre der Besatzung und die Wochen der Befreiung [am 22.8.1944] verbracht“. 

Seinen Vater Hermann deportieren die Nazis in das Vernichtungslager Auschwitz. Seine Mutter überlebt in einem Heim der protestantischen Frauenorganisation CIMADE in Le Chambon-sur-Lignon.

Nach der Befreiung beginnt Walter im November 1944 eine Ausbildung an der Hotel-Schule in Grenoble. Nach der Prüfung geht er im Oktober 1946 in das „Hotel Splendid“ in Annecy, 1951 arbeitet er auf Passagierschiffen und wird Ende 1951 zum französischen Militär einberufen. Er stirbt 1961.

Helmut und Irene Krämer mit ihren Eltern Frieda und Markus im Lager Rivesaltes 1941 (Foto: Jewish Traces)

Helmut Krämer ist 1925 in Bonn geboren. Die Nazis verschleppen ihn mit seiner Schwester Irene und den Eltern Frieda und Markus in das Lager Gurs. Im März 1941 wird die Familie in das Lager Rivesaltes verlegt. Dort kommt er in Kontakt mit André Dumas, einem Theologie-Studenten und Mitarbeiter der protestantischen Frauenorganisation CIMADE, der dort eine Pfadfindergruppe gegründet hat. Dumas rettet Helmut am 17.6.1942 aus dem Lager und bringt ihn nach Moissac – in ein Heim der jüdischen Pfadfinder EIF. Am 1.10.1942 versucht Helmut mit zwei Kameraden, in die Schweiz zu entkommen, wird aber festgehalten, der französischen Polizei übergeben und im Gefängnis in Annecy eingesperrt. André Dumas besorgt ihm richtige falsche Papiere, die belegen, dass er christlicher Deutscher ist. Er ist zeitweise in einem Heim der EIF in Lautrec untergebracht und schließt sich dann mit dem Decknamen „Zébu“ den Partisanen der Résistance an. Im Juni 1944 versucht er, mit einer Gruppe ebenfalls bedrohter Jugendlicher nach Spanien zu kommen. Nach einer Woche Fußmarsch, bei dem zwei seiner Kameraden tödlich abstürzen, erreicht er Spanien und kann im November 1944 nach Palästina ausreisen. Seine Schwester Irene und seine Eltern überleben ebenfalls.

Heinz Mayer mit seinen Eltern Hermine und Maximilian im Lager Gurs 1941 (Foto: USHMM Washington)

Heinz Mayer ist 1930 in Neustadt in der Pfalz geboren. Er zieht mit seinen Eltern Hermine und Maximilian 1938 von Neustadt nach Mannheim. Die Nazis verschleppen ihn mit den Eltern in das Lager Gurs. Im Februar 1941 retten ihn Mitarbeiterinnen der Quäker aus dem Lager in das Waisenhaus in Aspet südlich von Toulouse. Das jüdische Kinderhilfswerk OSE organisiert die Rettung von Heinz in die Schweiz. Elisabeth Hirsch bringt ihn auf der Rettungslinie des OSE und der jüdischen Pfadfinder EIF am 11.8.1943 an die Grenze zur Schweiz. Der Grenzübertritt gelingt.

Ein erfolgreiches Rettungswerk

Er und die anderen Kinder bzw. Jugendlichen gehören zu einem bisher nicht wahrgenommenen Rettungswerk: 409 der 560 in das Lager Gurs verschleppten Kinder aus Baden, der Pfalz und dem Saarland überleben den Nazi-Terror.

Von den 54 Kindern und Jugendlichen aus Mannheim, die die Nazis ab 1942 in das Vernichtungslager Auschwitz und andere Konzentrationslager deportieren, überleben Johanna Blum, Ruth Eschwege und Ernst Rosenfeld das Lager Auschwitz, sie werden von der Roten Armee befreit, Gerhard Kuhn im Lager Dachau von der US-Armee.

Georges Loinger rettete über 300 jüdische Kinder aus Frankreich in die Schweiz (Foto: OSE Paris)

Der Vernichtungswille der Nazis macht fast alle geretteten Kinder zu Waisen, die Nazis deportieren ihre Eltern in das Vernichtungslager Auschwitz oder andere Lager „im Osten“. Die Geretteten sorgen mit dafür, dass ihre RetterInnen nicht in Vergessenheit geraten: André Dumas, Elisabeth Eidenbenz und Alice Resch werden von der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.

Die religions- und parteiübergreifende Einheitsfront zur Rettung der Kinder ist die andere Geschichte des Lagers Gurs. Sie ermöglicht in der Erinnerungs- und Bildungsarbeit den Bezug zu heutigen Zuständen und Aufgaben zur Rettung bedrohter Kinder in Lagern.

 

 

Autor/-in: Brigitte und Gerhard Brändle Oktober 2021

 

Veranstaltungshinweis

Vortrag von Brigitte und Gerhard Brändle zu diesem Thema

Donnerstag, 21.10. um 19.30 Uhr

im Saal der Jüdischen Gemeinde Mannheim, F3,4