Kandel im Ausnahmezustand – Etwa 3000 Menschen demonstrierten aus unterschiedlichsten Motiven (mit Fotogalerie)
Die südpfälzische Kleinstadt Kandel (ca. 8500 Einwohner) war am vergangenen Samstag, den 3.3.2018, erneut im Belagerungszustand. Die Verunsicherung der KandelerInnen ist groß. Geschlossene Fensterläden, ein Polizeihelikopter kreist über der Stadt, die Lage ist angespannt; auch unter den rund 500 polizeilichen Einsatzkräften, die an diesem Tag in Kandel Dienst tun.
Für den 28.1. rief der Mannheimer Marco Kurz, mit seinem zweifelhaften “Frauenbündnis Kandel” zur Demonstration auf (wir berichteten), davor am 2.1. zu einem „Trauermarsch“ (wir berichteten), diesmal war es die AfD um die Landtagsabgeordnete Dr. Christina Baum mit ihrer Initiative „Kandel ist überall – Das Frauenbündnis“. Marco Kurz, mit seiner Bürgerinitiative „Der Marsch 2017“ gescheitert, war von den AfD-Machern für diese Veranstaltung ausgebootet worden und sah sich daher genötigt eine Gegen-Gegen-Demo anzumelden.
Rechte mobilisieren für zwei Protestkundgebungen
Nicht nur auf AfD-Onlineseiten wurde zur Teilnahme an diesen Veranstaltungen aufgerufen, beworben wurden sie auch in einschlägigen rechten Internetforen und per E-Mail in AfD-Kreisen was zur Folge hatte, dass der Zulauf aus dem rechtsextremen, rechtsradikalen Spektrum aus ganz Deutschland und dem angrenzenden Ausland extrem hoch war. Gesicht zu zeigen in Kandel forderte auch die Nazi-Band Kategorie C mit dem Aufruf anschließend zu deren Konzert im Raum Karlsruhe zu kommen. Diese Veranstaltung fand nach Erkenntnissen dieser Redaktion in Malsch, nur 30 Minuten von Kandel entfernt, statt.
Als Versammlungsleiter der AfD-„Kandel ist überall“-Demonstration fungierte, die sich auf dem Mitfahrerparkplatz trafen, das Westerwälder AfD-Mitglied Torsten Frank, der 2015 auf der Facebookseite der Bundesregierung für Furore sorgte, in dem er einen gesunden Rassismus forderte. Dies führte zu einem Parteiausschlussverfahren über dessen Ausgang der Öffentlichkeit keine Erkenntnisse vorliegen. Schon zu Beginn machte der Versammlungsleiter deutlich, dass es an diesem Tag keine rote Linie nach rechts Außen geben würde, er begrüßte die Anwesenden mit dem von Hogesa (Hooligans gegen Salafisten) bekannten Schlachtruf “Ahu!”. „Sie sollten nur daran denken, keine Bilder wie in Köln zu produzieren.“ Frank ist einer der führenden Köpfe der Bewegung „Bekenntnis zu Deutschland“. Die Gruppierung machte durch Proteste gegen eine Erstaufnahmeeinrichtung der Landesregierung Rheinland-Pfalz für Geflüchtete auf sich aufmerksam. Damian Lohr, Bundesvorsitzender der Jungen Alternative, sagte dem ARD-Fernsehen im Interview (sinngemäss): „Die Teilnehmer würden keinem Gesinnungscheck unterzogen werden.“
Vertreter verschiedenster rechtsextremer Gruppierungen und Kleinstparteien kamen nach Kandel. Ob Neonazis vom III. Weg, deren Parteiführung teilweise mitlief, oder Vertreter der seinerzeit vom Verfassungsschutz beobachteten islamfeindlichen Partei „Die Freiheit“ aus Bayern (2016 aufgelöst), PEGIDA-Aktivisten aus Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden, Pseudo-Bürgerwehr-Vertreter von den „Soldiers of Odin“, NPD-Funktionäre, Identitäre Bewegung oder Reichsbürger, gewaltbereite Hooligans, wie beispielsweise „Berserker Pforzheim“. Alle waren bei den beiden rechten Demonstrationen willkommen.
Die Identitäre Bewegung bildete während der Demonstration sogar einen eigenen Block.
Der Fall Kandel zeigt deutlich, dass die AfD und der Marsch 2017 keine Berührungsängste mehr mit Rechtsextremen haben. Die Masken sind an diesem Tag endgültig gefallen. Die Organisatoren feiern den Aufmarsch mittlerweile als “Durchbruch im Westen” – „1989 liegt in der Luft“.
Ein größerer Teil der Demonstranten waren AfD-Anhänger und -Politiker, darunter die Bundestagsabgeordnete Nicole Höchst, der Essener Guido Reil, der Landtagsabgeordnete Rüdiger Klos, der 2016 das Direktmandat im Mannheimer Norden gewann, und allen voran der AfD-Bundestagabgeordnete Thomas Seitz, der ebenfalls zur Demonstration aufrief. Auch Imad Karim, Gründer der islamfeindlichen Facebookgruppe „Deutschland mon Amour“ und für die AfD als Filmproduzent tätig, aus Mannheim trat, wie bereits am 28.1., ans Mikrofon. Gesehen wurden aus Heidelberg die AfD-Stadträte Anja Markmann und Matthias Niebel, sowie der bei der Bundestagswahl 2017 als AfD-Direktkandidat gescheiterte Dr. Malte Kaufmann.
Von Seiten der AfD-Initiative wurde, wie andere Medien berichteten, an diesem Tag nur ein älterer Teilnehmer ausgeschlossen. Dieser empfand eine Rede gegen den Islam als zu hetzerisch und wurde von Ordnern rabiat des Kundgebungsplatzes verwiesen. Insgesamt gab es in den Redebeiträgen keine inhaltlichen Grenzen.
Bevor es im Demonstrationszug durch Kandel ging, verkündeten die Organisatoren noch einen kruden Forderungskatalog (Manifest Kandel), der selbst das Positionspapier von PEGIDA (Dresden) in den Schatten stellt.
Auszug:
-Die deutschen Grenzen sollten geschlossen werden und alle Illegalen seien sofort abzuschieben.
-Keine doppelte Staatsbürgerschaft mehr, nur Assimilation berechtige zum Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. Grundsätzlich solle wieder das alte Abstammungsprinzip für die Vergabe der Staatsbürgerschaft gelten.
-Moscheen solle es nicht mehr geben, nur “unpolitische Muslime”, gleichzeitig fordern sie insgesamt weniger politische Einmischung von den Kirchen und Betrieben.
-Die Wehrpflicht solle wiedereingeführt werden, um unsere Land sicher zu schützen.
-Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz soll sofort gestrichen werden.
Die Reden endeten mit dem zweimaligen Singen der Nationalhymne – und der Aufforderung, sich das Land zurückzuholen.
Während die Demonstration „Kandel ist überall“, mit knapp 2000 Personen, durch die Rheinstraße marschierte, sprach die Polizei von gezielten Provokationen. Laut Mitteilung der Polizei wurden zwei Demoteilnehmer festgenommen und ein Polizeibeamter verletzt. Einmal mussten die Beamten eingreifen – Anlieger der Rheinstraße brachten ihren Unmut gegen die auswärtigen Rechten mit Plakaten an ihren Hauswänden zum Ausdruck- und wurden zunächst verbal und dann körperlich angegriffen. Die Polizei konnte schlimmeres verhindern. Zur Gefahrenabwehr musste Pfefferspray gegen die Angreifer eingesetzt werden, nachdem diese Flaschen und andere Gegenstände geworfen hatten und den Anweisungen der Einsatzkräfte nicht Folge leisteten.
Die Teilnehmer der zweiten rechtsmotivierten Versammlung trafen sich in der Holbeinstraße. Dorthin organisierte Marco Kurz seine eigene Gegen-Gegen-Demo als „Frauenbündnis Kandel – Der Marsch 2017“. Er konnte rund 150 Teilnehmer aus der rechten Szene mobilisieren. Darunter Parteifunktionäre der NPD u.a. aus dem Saarland und mit dem Mannheimer Stadtrat Christian Hehl, der am 5.3. im NSU-Untersuchungsausschuss des Stuttgarter Landtags vorgeladen war. Mit dabei auch die Parteivorstände der Neonazi-Partei „Der dritte Weg“ Klaus Armstroff und Mario Matthes (beides ehemalige NPD-Funktionäre in Rheinland-Pfalz und Hessen). Nur eine sehr überschaubare Anzahl an Teilnehmern waren der Aufforderung von Marco Kurz gefolgt und kamen mit roten Kopfbedeckungen und Karten, um der „Antifa“ die rote Karte zeigen zu können. Ein mitgeführtes Transparent mit der Aufschrift „1933 SA – 2018 Antifa“ wurde von der Polizei beanstandet und musste eingerollt werden.
Die Demonstrationszüge waren durchzogen mit aufgeheizter und aggressiver Stimmung. In einem dieser Redaktion bekannten Fall wurde eine ältere Kandler Bürgerin, die an der Demostrecke lebt, von Angehörigen übers Wochenende evakuiert, um ihre Sicherheit zu gewährleisten.
Kandel wehrt sich
Gegenprotest gab es in Kandel auch. “Wir sind Kandel”, ein vor knapp 10 Tagen gegründetes Bündnis aus Vereinen, Parteien, Kirchengemeinden, Gewerkschaften und Einzelpersonen zeigten, gemeinsam mit der Kurfürstlich Kurpfälzischen Antifa und Aufstehen gegen Rassismus Südpfalz Paroli. Die InitiatorenInnen wollen nicht zulassen, dass ihre Stadt zu einem “Aufmarschgebiet” einer PEGIDA 2.0-Bewegung oder gar einem Hotspot von Rechtsextremen wird. Mindestens 600 Menschen demonstrierten gegen Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung und Rassismus. 200 weiße Luftballons stiegen symbolisch in den Himmel. Damit wollten sie nach eigenem Bekunden ein Zeichen setzen „für ein friedliches Zusammenleben ohne Hass und Fremdenfeindlichkeit.“
Das Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus Südpfalz“ war mit einem Info- und Aufklärungsstand in der Stadthalle Kandel präsent. Über 1.200 Aufklärungsflyer konnten während der laufenden Energiemesse und im Vorfeld an interessierte Personen verteilt werden. Diese Aufstehen gegen Rassismus-Regionalgruppe beteiligte sich mit Vertretern der Regionalgruppen Rhein-Neckar und Weinheim ebenfalls an der Demonstration. Die Gegendemo angemeldet von der Kurfürstlich Kurpfälzischen Antifa unter dem Motto „Für Demokratie und Frauenrechte – bunte Schirme, viel Verstand, Nazis raus aus unsrem Land“ war bunt, friedlich und musikalisch. Unterstützung erfuhr dieser Aufzug durch rund 80 meist junge Antifaschisten*Innen, die kurz davor noch eine Spontankundgebung in der Ortsmitte durchgeführt hatten und von Polizeikräften zum Versammlungsort der Gegendemo in der Nansenstraße eskortiert wurde. Laut und mit bunten Schirmen, Regenbogenfahnen und Transparenten zog dieser Protestzug parallel zu den beiden rechten Demos durch Kandel. Diese Demonstration verlief ohne Vorfälle. Vor und nach der Demo wurden verschiedene Reden gehalten. U.a. vom parteilosen MEP Stefan Bernhard Eck, der bereits bei der Gegendemo am 28.1. gesprochen hatte und von Die Partei unterstützt wird. Musikalisch begleitet wurde diese Veranstaltung von Uli Valnion.
Rechte Presseprovokateure vor Ort
Provoziert wurden die Gegendemonstranten durch den Video-Filmer Michael Stürzenberger (ehemaliger Parteifunktionär „Die Freiheit“, PEGIDA München-Aktivist und Autor bei PI-News) und durch den Fotografen Christian Jung, der auf rechten Blogseiten wie Opposition 24 und Metropolico, publiziert. Beide kritisieren seit dem Wochenende im Internet, dass ihre Arbeit durch die Polizei unterbunden und damit die Pressefreiheit eingeschränkt worden sei. Weiter wird unterstellt, dass die Polizei Hand-in-Hand mit den „Linksfaschisten“ gearbeitet hätte. Unseren Beobachtungen zufolge hatten beide Journalisten des rechten Spektrums, die sich den Demoteilnehmern anfänglich nicht oder gar nicht, als solche zu erkennen gaben, ausreichend Zeit um Videoaufnahmen zu fertigen, Fragen zu stellen und Fotos von den Teilnehmern zu machen. In beiden Fällen haben die Polizeikräfte besonnen und richtig gehandelt. Die geäußerten Unterstellungen, auf einschlägig bekannten Internetseiten in Wort, Bild und im Film publiziert, dass die Polizei parteiisch vorgegangen wäre, sind an den Haaren herbeigezogen.
Solidarität
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) solidarisierte sich mit den Bürgern in Kandel. “Ich sehe mit Erschrecken, wie hier eine Tat für pauschalen Fremdenhass instrumentalisiert wird“. Sie stand mit ihrer Pressemitteilung an der Seite von Bürgern aus Kandel, die sich für ein Miteinander und gegen Hass engagierten. Vertreten wurde die Ministerpräsidentin am 3.3. durch den SPD-Fraktionsvorsitzenden im Mainzer Landtag Alexander Schweitzer.
Quo vadis?
Für den 24.3. kündigt die AfD-Initiative „Kandel ist überall“ eine weitere Demonstration in Kandel an. Eigentlich hatten die Verantwortlichen verlautbart, dass nun Schluss sei in Kandel und man nun den „Widerstand“ auf andere Orte und Bundesländer ausdehnen wolle. Ein Interview des Kandler Stadtbürgermeisters Günther Tielebörger am 5.3. beim SWR scheint diese Überlegungen wieder rückgängig gemacht zu haben.
Ab dem 7. April will „Der Marsch 2017 – Frauenbündnis Kandel“ monatlich bis Ende des Jahres auf dem Marktplatz protestieren.
Im Moment sieht es nicht danach aus, dass in Kandel endlich Ruhe einkehren könnte. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Vor Ort werden die Bündnispartner gegen rechts und Rassismus und für Demokratie, Frauenrechte und Vielfalt augenscheinlich noch länger als gedacht engagiert sein müssen.
(Bericht und Bilder: Johnny Brambach und Christian Ratz)
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