„Ich hatte keine Chance“: Gewerkschafter zieht Einspruch zurück und wird wegen Vorfall am 1. Mai verurteilt
Eigentlich hätte vor dem Amtsgericht ein Urteil gefällt werden sollen. Am Donnerstag wurde ein Vorfall vom 1. Mai dieses Jahres verhandelt, bei dem ein Gewerkschafter einen Polizisten tätlich angegriffen und gegen seine Festnahme Widerstand geleistet haben soll. Doch zu einer Entscheidung des Gerichts kam es nicht. In einer Verhandlungspause zog der Angeklagte seinen Einspruch zurück und akzeptierte einen Strafbefehl über 100 Tagessätze. Er gilt damit als vorbestraft.
Rückblick: Am 1. Mai kam es im Anschluss an die traditionelle Gewerkschaftsdemo auf dem Marktplatz zu einem Polizeieinsatz. Ein Trupp der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) hatte einen jungen Mann im Blick, der während der Demo eine Rauchfackel hochgehalten haben soll. Bei der Festnahme rannten sie über den ganzen Marktplatz und ein Ordner, der besagte Gewerkschaftssekretär, mischte sich ein. Nach seiner Darstellung wollte er sich erkundigen, was los sei. Nach Darstellung der BFE-Einheit wollte er die Festnahme verhindern und habe Polizisten tätlich angegriffen. KIM berichtete über diesen Fall. Ein Reporter war vor Ort und hatte das geschehen mitbekommen.
Viel Unterstützung, viel Polizei
Im August hatte der Gewerkschafter einen Strafbefehl erhalten: Er sollte 100 Tagessätze zu je 10 Euro, also 1000 Euro zahlen. Damit wäre er vorbestraft. Der Beschuldigte legte Widerspruch ein. Somit kam es zur Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht.
Der Morgen der Gerichtsverhandlung begann mit Anstehen. Viele Unterstützer*innen aus dem gewerkschaftlichen Bereich kamen zum Gericht und waren irritiert von den strengen Sicherheitskontrollen. Diese waren speziell wegen diesem Fall eingerichtet worden, teilte ein Polizist mit. Alle Besucher*innen wurden durchsucht und durften trotzdem keine Taschen mit ins Gebäude nehmen. Da das Amtsgericht über keine Schließfächer verfügt, empfanden viele diese Maßnahme als Schikane. Vor dem Verhandlungssaal war eine zweite Sicherheitskontrolle aufgebaut. Hier musste man sich ausweisen. Die Ausweisdokumente wurden von der Polizei fotografiert. Wegen des großen Andrangs reichten die Sitzplätze nicht aus. Wer zu spät kam, wurde nicht mehr hinein gelassen.
Vorwurf: Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte
Richterin Ulrike Schrage eröffnete die Verhandlung um 10:15 Uhr. Durch die Staatsanwaltschaft wurde die Anklageschrift verlesen. Der Beschuldigte soll am 1. Mai gegen 10:50 Uhr einem Mann, der wegen des Abbrennens einer Rauchfackel kontrolliert werden sollte, zugerufen haben, er solle wegrennen. Dann habe er sich vor die Polizeibeamten mit seitlich ausgebreiteten Armen gestellt, um sie an der Festnahme zu hindern und einen der Polizeibeamten „mit der flachen Hand gegen die Brust gestoßen“. Aufgrund seiner Körperpanzerung sei der Polizist nicht verletzt worden und habe auch keine Schmerzen verspürt. Der Gewerkschafter wurde daraufhin festgenommen und habe dabei Widerstand geleistet. Er habe sich „massiv“ gegen die Schließung seiner Arme zur Wehr gesetzt. Nur mit großer Kraftanstrengung sei es den Beamten gelungen, ihn festzunehmen.
Der Angeklagte, vertreten von Rechtsanwalt Ekkart Hinney, äußerte sich selbst zu den Vorwürfen. Er berichtete zunächst über seine persönliche und berufliche Situation. Er sei Gewerkschaftssekretär für ver.di und am 1. Mai im Dienst gewesen mit der Aufgabe, als Ordner für einen reibungslosen Ablauf der Demonstration zu sorgen. Dazu habe es auch eine Einweisung in Zusammenarbeit mit der Polizeieinsatzleitung gegeben. „Bisher gab es am 1. Mai nie Probleme“, berichtete er von vergangenen Jahren.
Am Marktplatz dann habe er gesehen, wie der BFE-Trupp einen jungen Mann festnehmen wollte. Er sei dorthin gegangen und habe den Mann gefragt, was los sei. Er habe dann auch versucht, mit der Polizei Kontakt aufzunehmen, sei aber ignoriert worden und dann von einem Polizisten von hinten in den Schwitzkasten genommen und zu Boden gebracht worden. Er bestritt, einen Polizisten tätlich angegriffen zu haben. „Ich habe keinen Polizisten geschubst. Es war ein Arbeitstag für mich.” Es sei seine Aufgabe gewesen, zur Polizei Kontakt aufzunehmen.
Bei der Festnahme sei er verletzt worden (Prellungen und Hämatome). Das habe er ärztlich dokumentieren lassen. Er erwähnte noch, dass es sein könne, dass er bei seiner Festnahme die Arme hoch genommen hätte, aber nicht, um ein Durchkommen der Polizei zu verhindern. Das sei in der Situation gar nicht möglich gewesen.
Was soll das Polizeivideo?
Als nächster Zeuge trat ein Polizist des Polizeipräsidium Mannheim ein. Er sei Sachbearbeiter bei der Kriminalpolizei für Straftaten mit politischem Hintergrund. Seine Aufgabe sei es gewesen, ein ca. 4 minütiges Video auszuwerten, das die Beamten aus Bruchsal übermittelt hätten.
Das Video wurde zur Beweisaufnahme abgespielt – zur Überraschung der Prozessbeobachter*innen allerdings auf einem PC-Monitor, so dass es das Publikum nicht sehen konnte. Direkt daneben stand ein riesiger TV-Bildschirm, ausgerichtet in Richtung Publikum. Die Richterin erklärte, nach der Strafprozessordnung müsse sie das Video nicht so zeigen, dass es die Öffentlichkeit sehen kann. Eine weitere Begründung gab es nicht.
Später berichtete der Beschuldigte, dass auf dem Polizeivideo nicht relevantes zu sehen gewesen sei, was den Tatvorwurf belegt oder widerlegt hätte. Der eigentliche Vorfall wäre nicht im Video vorgekommen. Es habe nur gezeigt, wie er danach auf dem Boden lag, auf ihm mehrere Polizisten, umringt von einer Menschenmenge.
BFE-Beamter belastet Gewerkschafter schwer
Der zweite und letzte Zeuge war der Truppführer der Bruchsaler BFE-Einheit, der die Polizeiaktion zu verantworten hatte. Zunächst berichtete er, dass er mit seiner Einheit eingeteilt gewesen sei, die kurdischen Demonstrationsteilnehmer*innen zu observieren. Als später die Rauchfackel in einem anderen Bereich der Demo gezündet wurde, sei dies durch seinen Trupp gefilmt worden. Man habe den Verantwortlichen auch schnell identifizieren können, was dann zur späteren Festnahme geführt habe. Hier habe er das erste mal Kontakt mit dem Gewerkschaftssekretär gehabt, der versucht haben soll, das Filmen zu verhindern. Später am Marktplatz habe er dann auch die Festnahme verhindern wollen.
Der Polizist beschrieb den ganzen Ablauf erneut und blieb dabei sehr nah an der im Strafbefehl formulierten Version. Er sprach nüchtern, präzise und detailreich. Am Ende wies er darauf hin, dass das Schubsen seiner Meinung nach „willentlich“ gewesen sein müsse und untermauerte damit den Vorwurf des tätlichen Angriffs. Es gab noch ein paar Rückfragen, dann beantragte Verteidiger Hinney eine Pause, um sich mit seinem Mandanten beraten zu können.
„Man muss das machbare sehen“
Nach der Pause kam es nicht mehr zur Fortsetzung. Auf Anraten des Anwalts zog der Beschuldigte seinen Widerspruch zurück. Damit gilt das im Strafbefehl festgesetzte Strafmaß, eine Geldstrafe von 1000 Euro, die über 100 Tagessätze zu jeweils 10 Euro zustande kommt.
Im Gespräch mit KIM erklärte der Anwalt, dass es sehr unwahrscheinlich gewesen wäre, die Richterin von der Version seines Mandanten zu überzeugen. Es stand Aussage gegen Aussage und die Richterin habe ihm zu verstehen gegeben, in welche Richtung sie tendiere. „Man muss das machbare sehen” kommentierte er.
Der Gewerkschaftssekretär wirkte niedergeschlagen, aber auch nicht wirklich überrascht. Er meinte, er habe bei diesem Prozess von Anfang an keine Chance gehabt.
Kommentar: Da war jemand schlecht beraten
Die Strafe für eine „so unnötige Sache“, wie ein Prozessbesucher den Fall kommentierte, ist für den Gewerkschafter sehr ärgerlich. Zwar stehen seine Kolleginnen und Kollegen hinter ihm. Einige waren dabei und haben mit eigenen Augen gesehen, wer gewalttätig war und wer nicht. Dennoch wird ihn die Vorstrafe jahrelang belasten, auch beruflich, denn die Versammlungsbehörde lehnt vorbestrafte Personen immer wieder als Ordner und Versammlungsleiter ab.
Dennoch war es in der Situation am Donnerstagvormittag die richtige Entscheidung. Wäre ein ähnliches Urteil durch das Gericht gefällt worden, hätte dieses die Tagessätze dem realen Einkommen angepasst und die Geldstrafe hätte sich um ein vielfaches erhöht.
Aber hätte die Geschichte überhaupt ein anderes Ende nehmen können? Wie viele andere Menschen, die am 1. Mai auf dem Marktplatz waren, hat ein KIM-Reporter mitbekommen, was wirklich passiert ist. Grundsätzlich kann man die Version des Beschuldigten bestätigen. Er hat sich eingemischt, er ist auf die Polizisten zugegangen, er hat gefragt, was los ist. Vielleicht war er dabei nicht besonders höflich. Keiner, mit denen KIM vor Ort gesprochen hat, sagte, dass sie Gewalt oder Aggression gegen Polizist*innen mitbekommen hätten.
Außer eben die Polizisten vom BFE-Trupp selbst. Deren Motivation scheint klar. Während die Polizist*innen mit den gelben „Anti-Konflikt“-Westen extra zum Reden abgestellt werden, haben es die schwarz gekleideten BFE-Polizisten gar nicht gern, wenn man sich in deren Arbeit einmischt. Das scheint nun die Quittung dafür zu sein.
Kurz nach dem Vorfall verbreitete der Einsatzleiter die Geschichte, dass der Gewerkschafter mit einem Schild auf die Polizisten losgegangen sei. Das hätte ihm die BFE-Einheit berichtet. Vielleicht war es ein Missverständnis. Jedenfalls war das Schild im Prozess kein Thema mehr.
Ärgerlich ist auch die Tatsache, dass kein Videomaterial des eigentlichen Vorfalls zur Beweisaufnahme vorlag. Der BFE Trupp hatte zwar auf dem Marktplatz gefilmt und stets die Kamera hoch gehalten. Der entscheidende Moment fehlte offenbar im Beweisvideo. Hat der Anwalt ausreichend nach entlastendem Material gesucht? Man sollte sich nicht darauf verlassen, dass die BFE-Einheit von sich aus Material zur Beweisaufnahme bringt, das ihre Geschichte in Frage stellt.
Knackpunkt der Geschichte ist die Aussage des Bruchsaler BFE-Truppführers. Er schilderte glaubhaft, detailliert und vor allem sehr nüchtern den Vorfall. Der Angeklagte hingegen war – verständlicherweise – aufgeregt und insgesamt weniger klar in seiner Schilderung. Rechtsanwalt Hinney merkte nach dem Prozess an: „Weder die Richterin noch ich selbst waren vor Ort. Sie muss auf Basis der Zeugenaussage nach juristischen Kriterien entscheiden. Und es war klar, wie sie entscheiden würde.“
Wo waren die Entlastungszeugen?
Die Tatvorwürfe sind im Detail aus Verteidiger-Perspektive problematisch. Auch weitere Zeugen könnten die Tathandlung nur schwer widerlegen. Der erste Vorwurf, der Beschuldigte habe den Rauchfackelhalter gewarnt – hat zwar niemand außer den Polizisten gehört. Das ist aber noch nicht der Beweis des Gegenteils. Der zweite Vorwurf, er habe den Polizisten mit einem Stoß gegen die Brust tätlich angegriffen – hat scheinbar keiner der umstehenden Personen gesehen. Doch auch das ist keine Entlastung. Keiner der im Umkreis befindlichen Menschen hätte in der chaotischen Situation jede Handbewegung mitbekommen können. Daher kann man schwer ein solches Detail ausschließen. Der dritte Vorwurf: Widerstand bei der Festnahme. Ein Standardvorwurf in Konfliktsituationen mit der Polizei – ob der Beschuldigte seine Arme mit “massiver Kraft” gegen die Bewegung der Polizei gedrückt hat, kann sowieso kein Dritter beurteilen. Die Wahrheit bleibt das Geheimnis der unmittelbar Beteiligten.
Es bliebe als letzte Chance der Verteidigung der Gesamteindruck. Hier hätte der Rechtsanwalt ansetzen können. Doch das hat er versäumt. Warum gab es keine Entlastungszeugen? Dutzende haben den Vorfall mitbekommen, manche mehr, manche weniger detailliert. Alle, mit denen KIM noch vor Ort gesprochen hat, waren schockiert über die Brutalität des Polizeieinsatzes. Niemand hatte von aggressivem Verhalten oder gar einem tätlichen Angriff seitens des Beschuldigten berichtet.
Klar, es ist immer schwierig, Zeugen zu finden. Nicht, weil es sie nicht gibt, sondern weil es unangenehm ist, gegen die Version der Polizei auszusagen. Das macht niemand gern. Vielleicht hat es sich auch herumgesprochen, „dass alles nichts bringt“ oder es gibt den wenig hilfreichen Kommentar „ist doch sowieso Klassenjustiz“.
Es ist noch nicht lange her, dass ein ähnlich gelagerter Fall bei einigen den Glauben an eine unabhängige Justiz in Wanken gebracht hat. Auch da gab es jemanden, der sich in Polizeiarbeit einmischte. Auch er wurde durch Polizisten verletzt. Trotzdem wurde am Ende er selbst verurteilt und nicht die Polizisten. Auch damals: Kein abschließendes Gerichtsurteil, stattdessen Akzeptanz eines Strafbefehls aus pragmatischen Gründen.
Zurück zum 1. Mai: Wenn in der Beweisaufnahme lediglich zwei Polizisten und ein Polizeivideo vorkommen, fragt man sich schon, was der Anwalt überhaupt zur Verteidigung beigetragen hat. Eigentlich ist das schon eine vorzeitige juristische Kapitulation. Dabei hatte die Polizei noch nicht einmal ihr ganzes Pulver verschossen. Insgesamt sechs Zeugen, ausschließlich Polizist*innen, wurden im Strafbefehl aufgeführt. Demgegenüber standen null Entlastungszeugen des Angeklagten – obwohl den Vorfall, wie oben geschildert, dutzende Personen mitbekommen haben. Es wäre sicher nicht einfach gewesen, diesen Prozess zu gewinnen. Aber man hätte es wenigsten versuchen können.
(Text&Bilder: cki)
Siehe auch
1. Mai Mannheim: Polizeieinsatz beim Gewerkschaftsfest – viel Rauch um nichts
Prozess nach 1.-Mai-Demo: Wollte Gewerkschafter schlichten oder Polizeiarbeit behindern?