Guter und schlechter Alkoholkonsum. Ein Fall von sozialer Doppelmoral

Mannheim hat ein Alkoholproblem. Und zwar ein doppeltes. Denn in Mannheim wird offenbar gleichzeitig zu viel und zu wenig Alkohol getrunken. Zu viel wird etwa auf dem Paradeplatz getrunken. Seit Jahren gibt es Pläne der Stadt, ein Alkoholverbot auf dem Paradeplatz durchzusetzen, was bisher jedoch an diversen gesetzlichen Hürden gescheitert ist. Dort geschieht das Trinken unter freiem Himmel, zu jeder Tages- und Nachtzeit auf dem Mäuerchen, direkt aus der Flasche.

Zu wenig getrunken wird hingegen wenige hundert Meter weiter, auf dem Marktplatz. Am 22. Juni erschien im Mannheimer Morgen ein Kommentar unter dem Titel „Verdrängung am Marktplatz“. Dort beklagt sich der Autor Christian Schall über die Monotonie eines vorwiegend türkisch und arabisch geprägten gastronomischen Angebots. Aber nicht die regionale Spezifik der hier angebotenen Küche ist es, an der sich der Autor vorrangig stört. Nein, ihm geht es um einen ganz anderen, offenbar urdeutschen Bestandteil der gastronomischen Kultur, der von der Dichte orientalischer Lokale am Marktplatz bedroht wird:

„Eine wichtige Rolle in der Diskussion nimmt der Umgang mit dem Alkohol ein. Nun könnte man entgegnen: Wer gerne trinkt, der kann ja woanders hingehen. Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Ohne alkoholische Getränke verharmlosen zu wollen: Sie sind ein elementarer Bestandteil unserer gastronomischen Kultur. Wer gerne einen Aperitif und einen Wein oder ein Bier zum Essen trinkt, hat in der türkischen Gastronomie nicht die Möglichkeit dazu, weil dort kein Alkohol ausgeschenkt wird. “

Zu „uns“ gehört also, wer zum Essen Alkohol trinkt. Wer aber das kühle Blonde im Biergarten nicht zu würdigen weiß (oder nicht zum Verkauf anbietet), gehört offenbar nicht zum „Wir“ des Autors. Schall fügt hinzu:

„In einem weltoffenen und toleranten Land sollte jedoch ein Gast selbstbestimmt darüber entscheiden können, was er zum Essen trinkt. Toleranz darf keine Einbahnstraße sein.“

Die Argumentation gleicht derjenigen der Rechtspopulisten, die sich darüber beklagen, dass man bestimmte Meinungen nicht mehr aussprechen dürfe, die zugleich aber sofort nach Zensur verlangen, wenn sie abweichenden Meinungen ausgesetzt sind. Der Deutsche muss die Möglichkeit haben, in „seiner“ Innenstadt, wo immer er möchte, Alkohol zu trinken. Das Recht der Ladenbetreiber, anzubieten was immer sie möchten, ist in diesem Fall untergeordnet, da es „einem anderen Kulturkreis“ entstammt. Der Text beginnt mit den Worten:

„Die Schließung des Café Journal, des letzten Lokals mit einem differenzierten Angebot am Marktplatz, ist eine Zäsur und Folge einer jahrelangen Entwicklung, die der Innenstadt nicht guttut. Das Angebot rund um den Marktplatz ist inzwischen von einer derartigen Monotonie geprägt, dass man von einer Verdrängung sprechen muss.“

Ach, „muss“ man wirklich von „einer“ Verdrängung sprechen? Wozu diese kleinlaute Einschränkung? Der Autor ist sich offenbar bewusst, dass etwas mit seiner Argumentation nicht stimmt. Und in der Tat: Der Begriff der sozialen Verdrängung entstammt der soziologischen Debatte zur Stadtentwicklung und dient dort der Beschreibung des Bevölkerungsaustauschs in Quartieren, die von strukturellen Mietsteigerungen betroffen sind (Gentrifizierung). Aus dem Kontext gerissen verliert der Begriff seine präzise Funktion und wird zur effekthascherischen Floskel. „Verdrängung, das klingt irgendwie schlimm!“ werden sich viele denken und als nächstes lesen:

„Um es klar zu sagen: Es wäre genauso monoton, wenn dort statt türkischer nur Restaurants mit deutscher Hausmannskost oder Pizzerien angesiedelt wären. Attraktivität entsteht durch eine abwechslungsreiche Mischung.“

Leicht ist hinter dieser Argumentation eine Geisteshaltung zu erkennen, die ihr Ressentiment hinter leeren Formeln der Diversität versteckt. Die Unredlichkeit dieses Arguments ist offensichtlich: Wahre kulturelle Vielfalt bedeutet eine organisch aus dem Stadtteil hervorgegangene Gewerbelandschaft – und diese ist auf und um den Marktplatz gegeben. Verdrängung wäre es, wenn Stadt und andere Akteure versuchen würden, durch die Beeinflussung des Immobilienmarktes zugunsten erwünschter Lokale („gute“ Diversität) das Gepräge des Stadtteils künstlich umzugestalten. Und eben das geschieht ja auch im Fall des Jungbusch oder der Neckarstadt-West, wo eine multikulturelle, gewachsene Gewerbelandschaft und soziale Zusammensetzung nach und nach durch eine monotone, mittelständische Feier- und Arbeitskultur verdrängt werden. Städtische Institutionen, Investoren und lokale Akteure arbeiten hier zusammen und bewirken einen wirtschaftlichen Strukturwandel in den Quartieren, was zum fortschreitenden Austausch eines Teils der Bevölkerung führt. Eben dies beutetet Verdrängung.

Guter und schlechter Alkoholkonsum

Dass der Autor hier gerade den Alkoholkonsum zum Inbegriff der von Verdrängung bedrohten „einheimischen“ Kultur erklärt, ist besonders in einer Zeit bezeichnend, in welcher andernorts in der Stadt gegen Alkoholkonsum mobil gemacht wird; und das in einer Weise, die sich gegen sozial schwächere Gruppen richtet und somit durchaus mit dem Begriff der Verdrängung im eigentlichen Wortsinn zusammenhängt. Wie bei guter und schlechter Diversität wird dabei zwischen gutem und schlechtem Alkoholkonsum unterschieden. Guter Alkoholkonsum geschieht in Lokalen, fördert die Wirtschaft und ist dort gesellschaftlich akzeptiert, ja sogar erwünscht. Schlechter Alkoholkonsum geschieht auf der Straße, ist nicht besonders einträglich und wird meist von sozial abgehängten Individuen praktiziert und in der Folge kriminalisiert.

So kann es zu absurden Situationen kommen. Auf dem Neumarkt in der Neckarstadt-West ist nun Alkoholkonsum auf einer Seite der Blumenkübel, die die Geschäftsfläche des Lokals „Kiosk“ begrenzen, erlaubt und erwünscht. Zwei Meter weiter ist er jedoch seit einigen Wochen verboten und wird polizeilich geahndet.

Ärgerlich ist das für einige Bürger des Stadtteils, die hier ein Feierabendbier auf der Wiese zu trinken pflegten und die jetzt weiterziehen oder auf kommerzielle Alternativen mit Konzession ausweichen müssen, die von dem Verbot ausgenommen sind. Aber natürlich richtet sich das Verbot, wie im Fall der Verbotsversuche am Paradeplatz, vor allem gegen die sogenannte „Trinkerszene“, deren Präsenz auf dem Platz von vielen Bürgern als Zumutung empfunden wird.

Auf Nachfrage gab ein Mitarbeiter des kommunalen Ordnungsdienstes an, dass die rechtliche Grundlage des Alkoholverbots der Paragraf 10 der Polizeiverordnung bildet, der Alkoholkonsum in „unmittelbare Nähe von Spielplätzen“ verbietet. Hinsichtlich der Anwendung des Paragrafen auf die Situation am Neumarkt wurde aber der angesprochene Mitarbeiter selbst stutzig, befindet sich der von der „Trinkerszene“ frequentierte Hotspot doch, vom Spielplatz aus gesehen, am entgegengesetzten Ende des geräumigen Platzes.

In einer Phase der gezielten Aufwertung der Neckarstadt-West, in welcher der Neumarkt zu einem attraktiven Aushängeschild für den Stadtteil werden soll und in der etwa das Mannheimer Kaffee-Startup „Pourista“ dort eine Neueröffnung plant, drängt sich die Vermutung auf, dass es sich hier um eine gezielte Maßnahme zur Beruhigung des Platzes und dessen Attraktivitätssteigerung für eine neue Klientel handelt.

Dass eine solche Verbotspolitik zur Lösung der der „Trinkerszene“ zugrundeliegenden sozialen Probleme nichts taugt, ist lange bekannt und wurde auch im Bezirksrat diskutiert, als dieser sich mit der Neugestaltung des Neumarkts beschäftigte. Dennoch tun sich auch viele progressiv denkende Einwohner schwer, wenn es um Solidarität mit der sogenannten „Trinkerszene“ geht. Wer kennt sie nicht: Die Szenen, das Geschrei, die Aggression, die in diesen Gruppen bisweilen zu beobachten ist und in aller Öffentlichkeit ausgelebt wird. Vielen fehlt das Verständnis für diese Menschen. Sie werden als störendes Element wahrgenommen. Können sie sich denn nicht zusammenreißen? Können sie nicht einer normalen Beschäftigung nachgehen? Dass diese ärgerlichen Verhaltensweisen zum suchtbedingten Krankheitsbild der Alkoholiker gehören, wird dabei oft gar nicht mehr wahrgenommen, sondern eher als persönliches Versagen gedeutet.

Eine solche – auch unter progressiven Bürgern verbreitete – Ignoranz verkennt die fundamentale Gleichursprünglichkeit von „gutem“ und „schlechtem“ Alkoholkonsum.

An diesem Punkt ist Schall recht zu geben: Alkoholkonsum ist ein elementarer Teil „unserer“ Kultur, insofern er von der Gesellschaft als Risikofaktor in Kauf genommen wird. Das notwendige Resultat dieses Risikos ist, dass ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung einer Suchterkrankung zum Opfer fällt. Sind die Betroffenen Teil einer einkommensstarken Schicht, können sie lange als Alkoholiker „funktionieren“. Beginnt man seine Suchtkarriere jedoch schon als sozial Abgehängter, ist der Weg in die „Trinkerszene“ ungleich kürzer.

Heißt das, man solle nichts tun? Nicht unbedingt. An die „Szene“ gerichtete Betreuungsangebote sind vorhanden und werden auch genutzt. Attraktive Ausweichmöglichkeiten für die Betroffenen können und sollten gefördert werden. Letztlich ist aber auch das Teil einer authentischen und das heißt kompromisslosen Diversität: Die Akzeptanz und das Aushalten der sozialen Schattenseiten des Quartiers, das man sich als Wohnort ausgesucht hat, auch wenn das bisweilen unangenehm ist.

(Patrick Kokoszynski)