Gemeinderat Heidelberg für Rehabilitierung und Entschädigung für Berufsverbot-Betroffene
Heidelberger Gremium beschließt, die von Berufsverbot-Betroffenen und ihre Forderungen zu unterstützen
Am 23. März hat der Gemeinderat in Heidelberg nach viertel-stündiger Diskussion mit etwa zwei Drittel-Mehrheit einen Beschluss zur Unterstützung der von Berufsverbot Betroffenen gefasst. Darin fordert er die „Landesregierung und den Landtag auf, den Forderungen nach Rehabilitierung und Entschädigung nachzukommen“.
Eingebracht hatten dies im Juli 2022 die Fraktion Die Linke, Bunte Linke, Grün-Alternative Liste, „Heidelberg in Bewegung“ und die Grünen (mit 16 von 48 Sitzen die größte Fraktion). Im „Ausschuss für Soziales“ wurde der Antrag am 14.2. vorab beraten und mehrheitlich Zustimmung empfohlen. Auch die SPD stimmte am 23.3. geschlossen für den Antrag, dazu der Vertreter der PARTEI.
Der grüne Ministerpräsident Kretschmann hatte im Januar 2022 in der ARD eine Stellungnahme angekündigt, „sobald die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie der Universität Heidelberg zum Radikalenerlass vorliegen“. Da seit deren Veröffentlichung im Mai die Berechtigung der Forderungen der Betroffenen bestätigt ist, versuchte er sich darauf in Schweigen zu hüllen. Nach vielen Presseartikeln, zwei Anträgen der SPD in Landtagsausschüssen, einer Kundgebung im Oktober mit 70 Teilnehmenden, unterstützt von den Gewerkschaften, und einem weiteren Schreiben Betroffener sah sich der Regierungschef am 19.1. zu einem „Offenen Brief“ an die „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger“ gezwungen. Die Betroffenen-Initiativgruppe lud er zu einem Gespräch am 8.2. in die „Villa Reitzenstein“ in Stuttgart ein.
Entgegen dpa-Berichten, Kretschmann habe um „Entschuldigung“ gebeten, sprach er im Brief nur von teilweisem „Bedauern“: „Einzelne mögen zu Recht sanktioniert worden sein, manche aber eben auch nicht. Das bedauere ich.“ Von kollektiver Rehabilitierung, Entschädigung ohnehin kein Wort. Stattdessen die alte „Hufeisentheorie“: „Der Staat braucht einen breiten Blick auf den Extremismus – auf Linksextremisten, auf Rechtsextremisten und auf religiös motivierten Extremismus“.
Am 2.2. fand in Heidelberg eine von Bunte Linke, Die Linke, DGB und IG Metall Heidelberg veranstaltete Lesung zu der wissenschaftlichen Studie statt, an der über 70 teilnahmen und bei der Betroffene selbst berichteten. Beim Termin mit Kretschmann im Staatsministerium wurde der Altersarmut-Rentenbescheid eines Mannheimer Betroffenen mit 680 Euro im Monat übergeben sowie Rechenbeispielen. Im Vergleich zur „Standardrente“ (45 Versicherungsjahre bei Durchschnittsverdienst) bedeutet dies bis zum durchschnittlichen Lebenserwartungsalter einen Verlust von 139.000 Euro. Entschädigungen würden das Land Hochrechnungen zufolge einmalig einen unteren siebenstelligen Betrag kosten, weniger als 0,1 Promille eines Haushalts.
Der Regierungschef blieb am 8.2. dennoch bei seinem kategorischen Nein zu den Forderungen. Er könne nicht „pauschal entschädigen“, dadurch würden „neue Ungerechtigkeiten“ entstehen. „Vordemokratisches Gnadenrecht“ lehne er ab. Die Betroffenen müssten ihr Anliegen „in jedem Einzelfall gerichtlich durchsetzen“. Wie das nach 50 Jahren noch gehen soll, sagte er nicht.
Die im Forschungsbericht dargelegte Richtlinien der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) erklärte der Ministerpräsident kurzerhand für nicht verbindlich. Das sei schon 1987 so gehandhabt worden. Und: Er habe heute ein „ungutes Gefühl, wenn ein Kind von einem AfD-Mitglied unterrichtet würde“. Darauf eskalierte das Gespräch. Nach lautstarken Wortmeldungen („wir lassen uns nicht mit Nazis in einen Topf werfen“) und empörten Zwischenrufen („Schande“) konnte der auf eine Stunde angesetzte Termin erst nach 90 Minuten zu Ende gebracht werden. Kretschmann habe „zerknirscht“ gewirkt, kommentierte dpa unmittelbar darauf.
In der Begründung des Heidelberger Beschlusses heißt es: „Der sogenannte ‘Radikalenerlass’ hat der Demokratie und dem gesellschaftlichen Klima in der Bundesrepublik schweren Schaden zugefügt. Menschen wurden in ihrer Existenz bedroht. Auch für über 100 Betroffene, die in Heidelberg studiert, gelebt und gearbeitet haben, hatte der Erlass schwerwiegende Folgen.“ Die Berufsverbote-Praxis, wird aus der Studie zitiert, war „von Anfang an als rechtswidrig einzustufen, weil sie mit der Konvention Nr. 111 der ILO nicht übereinstimmt“.
In der Gemeinderatssitzung wies die Vertreterin der Bunten Linken darauf hin, dass die Bedeutung des Beschlussantrags durch das neuerliche Nein des Ministerpräsidenten nochmals gestiegen sei. Gegen die Entschließung stimmten CDU und AfD. Die AfD hetzte gegen die Betroffenen und die Studie: „Was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein. Es ist eine ungeheuerliche Unterstellung gegenüber dem Land Baden-Württemberg zu behaupten, hier sei staatliches Unrecht geschehen.“ FDP, „Heidelberger“ und Freie Wähler enthielten sich bei der Abstimmung. Der Beschluss endet: „Viele der damals Betroffenen spüren die Auswirkungen durch Kürzungen bei ihren Ruhegehältern oder sogar Altersarmut bis heute. Ihre materiellen Nachteile müssen ausgeglichen werden“ (vollständiger Wortlaut des Beschlusses nachzulesen unter Berufsverbote.de).
Inzwischen gibt es in weiteren baden-württembergischen Städten ähnliche Überlegungen und Aktivitäten in Gemeinderatsgremien, um Druck auf Regierung und Landtag auszuüben. Entscheidend wird sein, ob sich Grünen-Stadträte trauen, selbst zu entscheiden, auch gegen die Meinung Kretschmanns. Landtagsabgeordnete berichten inzwischen, die Fraktion wolle das Thema auch nochmals in den Hauptausschuss einbringen.
Martin Hornung