Karla Spagerer – Arbeiterin, Sozialdemokratin, Waldhöferin – ein Nachruf
Ein Nachruf auf eine kluge Frau und eine echte Mannheimerin – und ein bisher unveröffentlichtes Videointerview aus dem Jahr 2018.
Ich habe Karla erst im hohen Alter kennen gelernt. Zwei mal durfte ich sie zu Hause besuchen, einmal mit Klaus für ein Zeitzeugengespräch 2018, einmal mit Sara für den Film „Verhängnisvolle Fehleinschätzung“ 2023, beide Male waren es ausführliche Interviews. Es gab Kaffee und Kuchen. Wir saßen an ihrem Wohnzimmertisch in ihrem kleinen Häuschen in der Arbeitersiedlung in Mannheim-Waldhof.
Die Besuche waren eindrucksvoll. Zuerst empfing uns Karla mit ihrem großen Hund ganz herzlich und ungezwungen, als würden wir uns schon ewig kennen. Sie erzählte persönliche Anekdoten und Alltagstratsch, der ihr gerade durch den Kopf ging. Dann, im Interview, berichtete sie strukturiert Details aus den 1930er und 1940er Jahren, als sie noch ein Kind war. Sie analysierte die Politik der Gegenwart anhand ihrer historischen Erfahrung mit der NS-Diktatur – klar verständlich und mit einer deutlichen Botschaft: So etwas dürfe nie wieder passieren.
Nun ist Mannheims wichtigste Zeitzeugin gestorben. Sie hinterlässt eine große Lücke, denn so jemanden, wie sie, gibt es nicht mehr.
Arbeiterin, Sozialdemokratin, Waldhöferin
Karla Spagerer wurde 1929 in eine Mannheimer Arbeiterfamilie geboren. Ihr ganzes Leben war sie mit dem Stadtteil Waldhof eng verbunden. In ihrer Kindheit und Jugend verbrauchte sie viel Zeit in der Arbeiterkneipe „Waldschlössel“, die ihre Familie führte. Ab 1939 musste sie das mit ihrer Mutter und Großmutter alleine machen, da ihr Vater zum Kriegsdienst eingezogen wurde.
Im „Waldschlössel“ lernte Karla ihren späteren Ehemann und über ihn die Gewerkschaft, den SV Waldhof Mannheim und die Sozialdemokratie kennen.

Karla Spagerer berichtete bei einer der zahlreichen Veranstaltungen vor dem ehemaligen Wohnhaus der Lechleiters von ihren Kindheitserinnerungen
Walter Spagerer, Karlas Ehemann, war Betriebsrat bei Bopp & Reuther, Gewerkschaftssekretär, Stadtrat und Landtagsabgeordneter der SPD, außerdem Präsidiumsmitglied des SV Waldhof Mannheim. Die gut 10 Jahre jüngere Karla stand im Schatten ihres prominenten Ehemanns. Zur politischen Aktivistin wurde sie erst nach seinem Tod im Jahr 2016. Das war die Zeit, als die rechtsextreme AfD ihren Aufstieg begann.
Karla erkannte früh die Gefahr einer neuen faschistischen Bewegung, denn sie hatte in den 1930er Jahren erlebt, wie die Stimmung kippte. Damals wurden die Juden für alles Schlechte verantwortlich gemacht, heute sind es die Muslime und Flüchtlinge, beschrieb sie die Parallelen in einem Interview.
Für sie wurde die Aufklärung zur Mission und gemeinsam mit ihrem guten Freund, dem SPD Landtagsabgeordneten Stefan Fulst-Blei sprach sie bei unzähligen Veranstaltungen als Zeitzeugin. Für ihr Engagement gegen das Vergessen erhielt sie 2022 das Bundesverdienstkreuz.
Ein Kind des Widerstands
Als Kind hatte Karla Spagerer nicht nur die Sozialdemokratie kennen gelernt, auch den Kommunismus. Ihre sehr geschätzte Großmutter Babette Ries war Kommunistin und aktiv für die Rote Hilfe. 1938 wurde sie zu 18 Monaten Zuchthaus verurteilt, weil sie Lebensmittel und Geld für Familien gesammelt hatte, deren Väter von den Nazis inhaftiert worden waren.
Erinnerungen von Karla Spagerer – Im Videointerview berichtet Karla Spagerer über den Mannheimer Arbeiterstadteil Waldhof, über Widerstand gegen den Faschismus und ihre persönlichen Erfahrungen während und nach dem Krieg. Das Gespräch führte Klaus Dollmann. (Dauer: 48:13 min)
Karla war eng verbunden mit der Lechleiter-Gruppe, der bekanntesten und aktivsten Widerstandsgruppe, die in Mannheimer Betrieben illegale Zeitungen gegen die Hitler-Diktatur verteilten. In dieser Gruppe arbeiteten Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen zusammen.
Karla war es auch, die im September 1942 die roten Plakate entdeckte, die überall in Mannheim angeschlagen waren und die Hinrichtung der verhafteten Widerstandskämpfer um Georg Lechleiter bekannt gaben. Mit eindrucksvollen Worten berichtete Karla, wie sie damals als 13-jährige, Annie Lechleiter von der Ermordung ihres Ehemanns berichteten musste.
Ein kritisches Verhältnis zum Kommunismus
Sie lernte aber auch die dunklen Seiten dessen kennen, was sich Kommunismus nannte. Karlas Onkel Erwin Ries, ein Funktionär der Kommunistischen Partei, musste vor den Nazis flüchten. Es gelang ihm 1934, sich in die Sowjetunion durchzuschlagen. Dort verschwand er und lange Zeit war sein Schicksal nicht bekannt. Karla sah ihn nie wieder. Erst viele Jahre später wurden ihr Gerüchte bestätigt, dass Erwin Ries einer stalinistischen Säuberungswelle zum Opfer gefallen war.
Das prägte ihre Haltung zu den realsozialistischen Staaten des Ostens, obwohl sie ihre kommunistische Großmutter sehr schätzte. Karla konnte differenzieren.
Sie machte im hohen Alter auch noch ihren Frieden mit der VVN. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes wurde 1947 in Mannheim wie vielerorts als gemeinsames Projekt von SPD und KPD gegründet. Doch der Kalte Krieg spaltete auch die VVN, die sich politisch der Sowjetunion annäherte, was einen Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD zur Folge hatte. Mehr als 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist die VVN-BdA heute eine andere, unabhängige und pluralistische Organisation. Karla Spagerer wurde 2023 Mitglied der VVN Mannheim.
Karla Spagerer ist am 16. Mai 2025 im Alter von 95 Jahren gestorben. Karla hinterlässt zwei Söhne und eine Stadt, die den Arbeiterwiderstand und die Erfahrungen mit dem Faschismus nicht vergessen darf. Karlas Erinnerungen wach zu halten, ihr Mahnen fortzusetzen, das hat sie uns als Vermächtnis hinterlassen.
Chris Hölzing