Europa- und Kommunalwahl: Rückblick auf den Wahlsonntag mit Rechtsruck
Mannheim, 16. Juni. Die Wahl zum Europa-Parlament und in einigen Bundesländern, so auch in Baden-Württemberg, die Kommunalwahlen, liegen nun schon über eine Woche zurück. Zeit genug, sich vom Ergebnis und dem davor liegenden Wahlkampf zu erholen – sollte man meinen. Die rechten Kräfte haben einen Durchmarsch gemacht, wie schon befürchtet. Es wird noch viel zu analysieren und über Konsequenzen zu diskutieren sein. In diesem Artikel wird es eine nochmalige Zusammenfassung der Ergebnisse geben und einige Gesichtspunkte, die von Interesse sein könnten.
Zunächst das Ergebnis der Europawahl in Mannheim, das durchaus im Bundestrend liegt:
Die Ampel ist abgestraft samt der Blockiererin FDP, obwohl es ja eigentlich um Europa ging. Die Merz-CDU ist tatsächlich über die 20%-Linie gehubst, aber 7,5% unter dem Bundesergebnis (30%). Die AfD hingegen liegt 1,8%-Punkte unter dem Bundesergebnis.
Aus linker Sicht ist das sehr schlechte Abschneiden der DIE LINKE bemerkenswert: 2,7%, 3 Sitze (- 1). Das BSW hat mit 6,2% 6 Sitze aus dem Stand errungen. Man könnte sagen: Das 1%, das das BSW in Mannheim weniger hat als im Bundesergebnis, ist in Mannheim bei der LINKEN geblieben. Sicherlich überschneiden sich die Wählerschichten der LINKEN, aber auch der Grünen mit denen von VOLT, so dass sie in Konkurrenz liegen.
Ergebnis der Gemeinderatswahl in Mannheim – es geht um die „Brandmauer“
Der wesentliche Punkt aus linker Sicht ist das Ende der bisherigen grün-rot-roten Mehrheit, die zwar nicht die Welt aus den Angeln gehoben hatte, aber wesentliche Errungenschaften erzielte wie das 12-Punkte-Programm für leistbares Wohnen oder – Jahre vorher schon – die Wiedereinführung des Sozialpasses und eines Sozialtickets. Die ohne Not durch die vormalige CDU-geführte rechte Mehrheit um das Jahr 2000 herbeigeführte Senkung des Gewerbesteuerhebesatzes wurde wieder rückgängig gemacht. Zwischenzeitlich entstand der Stadt Mannheim ein Vermögensschaden von ca. 60 Mio. Euro. Auch auf ökologischem Gebiet hatte die progressive Mehrheit einiges für Mannheim und seine Menschen erreicht. Nun verfügt diese Parteienkonstellation nur noch über 22 von 48 Sitzen. Die LINKE (- 1 Sitz) hat sich mit den Einzelstadträt:innen der Tierschutzpartei und neuerdings der Klimaliste zu der Viererfraktion LTK zusammengeschlossen.
Vollkommen unberechenbar sind die zwei Einzelvertreter der Partei DIE PARTEI, die ihr Wahlversprechen „Satire“ während ihrer ersten Amtszeit sträflich gebrochen hat, und der Wählergemeinschaft „DIE MANNHEIMER“, Julien Ferrat. Der war 2014 über die Liste der LINKEN in den Gemeinderat gekommen, obwohl sich die LINKE schon vor der Wahl von Ferrat getrennt hatte, da er der Wahlmanipulation bei der AStA-Wahl an der Uni beschuldigt wurde. Ferrat schloss sich dann der Familienpartei an in der Hoffnung, das einzige Mandat dieser Partei im Europaparlamente zu ergattern, wozu er sich erfolglos für den Bundesvorstand bewarb. Nach Querelen bei der Familienpartei gründete er seine „Mannheimer Volkspartei MVP“, mit der er allerdings den Wiedereinzug in den Gemeinderat nicht schaffte. Ob Thomas Bischoff von der PARTEI sich der Methode des Parteigründers im Europa-Parlament anschließt, sinnfrei wechselweise bei den Abstimmungen Pro und Contra zu stimmen, oder ob er sich zu einigermaßen seriöser Gemeinderatsarbeit durchringen kann, ist ungewiss. Auf jeden Fall sind beide Einzelstadträte keine Basis für eine verlässliche Zusammenarbeit von 24 Stadträt:innen. Auch deswegen nicht, weil der OB eine eigene Stimme hat und bei einem 24:24-Patt mit der rechten Seite des Hauses stimmen würde.
Nun würde die eben genannte Patt-Konstellation jedoch bedeuten, dass die CDU / ML / FDP / MfM (zusammen 17 Stimmen) die Unterstützung der AfD-Fraktion in Anspruch nehmen müssten, um auf die 24+1 Stimmen zu kommen. Im OB-Wahlkampf hatte ja Christian Specht diese Unterstützung kommentarlos gerne in Anspruch genommen – es war ja selbst so schon knapp genug.
Wäre dies Spechts Konzept für die Zukunft Mannheims, wäre dies ein Vergehen an der immer wieder beschworenen „DNA von Mannheim“: Das friedliche Zusammenleben der „Einheimischen“ mit den Zugewanderten aus 160 Nationen. Mannheim – die Einwanderungsstadt seit 1607. Es wäre die Kooperation mit einer sich immer weiter radikalisierenden rechtsradikalen Partei, vom Verfassungsschutz beobachtet, von den Neofaschisten im Europaparlament nicht für die eigene Gruppe zugelassen wegen allzu offener Verherrlichung des NS-Staates. In Mannheim haben deren Vertreter Kreide gefressen, um sich für eine Zusammenarbeit mit den anderen rechten, aber demokratischen Parteien anzubiedern.
Wie ihr letzter großer Wahlkampfauftritt mit drei Landesvorsitzenden aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen zeigte, den sie eine Woche nach der Ermordung des Polizisten Rouven Laur schamlos als Gedenkveranstaltung für bezeichneten, haben sie für alle Probleme nur eine Antwort: Ob es um Müll geht, um „Messermänner“, Morde, Muslime, Mangelverwaltung von Kitas, Schulen und Wohnungen und was auch immer – Vertreibung, als „Remigration“ verharmlosend bezeichnet, ist für sie die Lösung aller Probleme, hinter denen immer Migranten, „islamistische“ Radikale stecken und im Zweifelsfall auch „Linksradikale“. Alle sollen raus.
Wenn sich also eine Zusammenarbeit mit dieser Partei verbietet, wird Specht eben nicht „durchregieren“ können, sondern er wird sich immer wieder einigen müssen mindestens mit Grünen und SPD. Für die neue LTK-Fraktion wird dies eine Herausforderung werden. Und die Brandmauer wird immer wieder verteidigt bzw. eingefordert werden müssen. Denn es gibt jenseits der rassistischen Hetze durchaus Überschneidungen des „kommunalpolitischen Programms“ der AfD und der CDU, z.B. in der Steuerpolitik, dem versuchten Sozialabbau und der „inneren Sicherheit“, die von der AfD immer wieder völkisch in Frage gestellt wird.
Im Mannheimer Morgen vom 15.06. wird Claudius Kranz, CDU-Fratkionsvorsitzender im Gemeinderat, die Gretchenfrage zur AfD gestellt: Ob die CDU zur Überwindung des möglichen Patts im Gemeinderat “diese Mehrheit” (inkl. OB-Stimme) nehmen würde. Er antwortet mit einer äußerst “cleveren” Umgangsweise mit der Brandmauer zur AfD: “Ich habe damit überhaupt kein Problem, wie sich die Mehrheiten am Ende des Tages bilden, wenn ich nicht zur Mehrheitsbildung aktiv irgendwelche Koalitionen oder irgendwelche Absprachen treffe.” So, wie bei der OB-Wahl? Sind solche Absprachen überhaupt notwendig, wenn man sich da und dort unausgesprochen allzu gut versteht? Absprachen mit dem Rest des Gemeinderats sind sicher schwieriger als einvernehmliche Nicht-Absprachen mit der AfD. Sie sind aber für Mannheim und seine Bevölkerung mit Sicherheit besser.
Öffnet das Wahlergebnis der AfD neue Erkenntnisse und letztlich Ansatzpunkte für eine Isolierung dieser Partei?
Eher ist es so, dass alte „Wahrheiten“ über die Anhänger- bzw. Wählerschaft der AfD überprüft werden müssen. Natürlich: ihren Gipfelpunkt an Zustimmung erhält die AfD auch bei dieser Kommunalwahl erneut auf der Schönau: Fast 45% im Wahllokal Johanna-Geissmar-Gymnasium bei einer Wahlbeteiligung von 19,16%. Also eine deutliche Korrelation zwischen ärmerer Bevölkerung, niedriger Wahlbeteiligung und hoher AfD-Zustimmung?
Die Schwierigkeiten beginnen schon beim Wahlgebäudebezirk:
Westlich der Schule leben eher ärmere Menschen in sanierungsbedürftigen GBG-Wohnungen, östlich befinden sich bessere Wohnungen der 80er Jahre. Der Bezirk ist sozialräumlich gemischt.
Wenn sich so wenige Menschen an der Wahl beteiligen, welche sind es dann? Die immer wieder zitierten „Abgehängten“, ohne Perspektive, mit der Faust in der Tasche und Geschimpfe auf den Lippen? Oder sind es eher die Bessergestellten? Denen vielleicht „zu viele Ausländer“ auf den Geist gehen, obwohl sie vielleicht selbst einen Migrationshintergrund haben, die sich unsicher fühlen oder über die hohen Heizkosten klagen?
A propos Wahlbeteiligung:
Wie viele Menschen sich in einem der 220 Wahlbezirke tatsächlich an der Wahl beteiligen, ist unbekannt bzw. geht nicht aus den veröffentlichten Zahlen hervor. Denn die Briefwahl-Stimmzettel werden sämtlich zentral in der IGMH gezählt und dort in größeren Einheiten (17 Stadtteile) zusammengefasst. Im Johanna-Geissmar-Gymnasium gibt es allein Wahlbezirke. Wie haben z.B. die Jungwähler:innen auf der Schönau abgestimmt? In welchem Wahlbezirk leben besonders viele? Der Sozialatlas gibt nur für ganze Stadtteile Auskunft.
A propos Briefwahl und das Messerattentat auf einen Polizisten am 31.5.
Das Wahlverhalten ist innerhalb der Wählerschaft durchaus unterschiedlich. Von den Wähler:innen der AfD stammen 79,1% der Stimmen aus den Urnen, nur 20,9% aus der Briefwahl. Die Briefwahl wird meist deutlich vor dem Wahltag abgegeben. Aktuelle Ereignisse gehen da nicht ein. Der 17,6%-Stimmenteil der AfD an allen in Wahllokalen abgegebenen gültigen Stimmen kam demnach überwiegend eine Woche nach diesem Ereignis zustande, die Wählenden haben auf dieses reagiert. Von den per Briefwahl insgesamt abgegebenen Stimmen hat die AfD nur einen Anteil von 8,2%.
Bei den Grünen-Wähler:innen stammen nur 57,5% der für die Grünen abgegebenen Stimmen aus der Urnen-Wahl, und 42,5% aus der Briefwahl. Stadtweit stammen 36,2% aller abgegebenen Stimmen aus der Briefwahl.
Aus der folgenden Aufstellung kann sich der Leser, die Leserin ein Bild machen, in welchen Stadtteilen (hier mit der Postleitzahl beschrieben) die AfD-Ergebnisse von 30% und mehr herstammen, und aus welchen die Ergebnisse unter 8% kommen.
Die AfD ist sowohl im Mannheimer Norden stark: Schönau, Vogelstang, Käfertal, sowie im Süden Rheinau und Hochstätt, aber auch in der Neckarstadt-Ost im Herzogenried und Exerzierplatz-Siedlung. Das sind meist nicht die gut-bürgerlichen Gebiete. Das gilt aber besonders auch für einige Gebiete, in denen die AfD verhältnismäßig schwach ist (unter 8%): Jungbusch und Neckarstadt-West sowie Quadrate der Unterstadt, alles Gebiete mit einem sehr hohen Migrationsanteil. Lindenhof, Neuostheim, Neuhermsheim, Feudenheim mit hohen Grünen-Anteilen gehören ebenfalls zu den eher schwächeren AfD-Gebieten.
Korrelationen zwischen den AfD-Ergebnissen, der Wahlbeteiligung, der Sozialräumlichkeit inkl. Altersdurchschnitt sind letztendlich schwer zu ziehen. Das Wahllokal mit dem höchsten und dasjenige mit dem niedrigsten Stimmenanteil der AfD (Jungbuschhalle plusX) liegen beide in den als prekär definierten Sozialräumen 5. Der Jungbusch hat nach Gentrifizierung allerdings einen hohen studentischen Bewohner:innen-Anteil.
Kontinuierliche politische Präsenz der demokratischen und linken Kräfte in den Quartieren mit hohem AfD-Anteil ist durch keine Analyse zu ersetzen.
Thomas Trüper
(Quelle des Zahlenmaterials: Stadt Mannheim, https://wahlergebnisse.komm.one/lb/produktion/wahltermin-20240609/08222000/praesentation/ergebnis.html?wahl_id=1677&stimmentyp=0&id=ebene_-10065_id_16232)