„Mannheim hält zusammen!“ – Große Gedenkstunde auf dem Marktplatz
![](https://kommunalinfo-mannheim.de/wp-content/uploads/2024/06/0034_181724_Mannheim-haelt-zusammen_03.06.2024_Copyright-by-helmut-roos@web.de_-1024x683.jpg)
Gedenk- und Sollidaritätsveranstaltung mit Politiker*innen und Vertreter*innen der Religionsgemeinschaften auf dem Marktplatz | Bild: Helmut Roos
Nach dem ersten Schock über den brutalen Mord an einem jungen Polizisten, der auf dem Mannheimer Marktplatz die Versammlungs-, Meinungs- und Redefreiheit der sog. „Bürgerbewegung Pax Europa“ zu sichern hatte, versammelten sich am Montagnachmittag nach Polizeiangaben 8.000 Menschen auf dem Marktplatz, um ihrer Anteilnahme und Trauer Ausdruck zu verleihen.
Sie waren einem Aufruf des Oberbürgermeisters, „der Fraktionen des Gemeinderats“ und der Religionsgemeinschaften gefolgt. Am Marktplatzbrunnen wurde ein Meer von Blumen abgelegt. Die Kolleginnen und Kollegen des Mordopfers hatten sich in einer beeindruckenden Formation aufgestellt, um nach Ende der Veranstaltung an dem Gedenkort vorbei zu defilieren. Transparente sah man ganz wenige, u.a. von der Ahmadiyya-Gemeinde („Liebe für alle – Hass für keinen“), auch eine israelische Fahne war zu sehen.
Das Programm sah nur eine Rede des Oberbürgermeisters vor, der sich dann aber doch auch eine kurze Rede des obersten Dienstherrn der Polizei, Innenminister Strobel anschloss. Bundesinnenministerin Nancy Faeser war überraschend ebenfalls anwesend, ergriff aber nicht das Wort. In einem zweiten Teil der Gedenkveranstaltung gab es ein „interreligiöses Gebet“ unter Beteiligung des evangelischen Dekans, der zugleich die Veranstaltung moderierte, der City-Kirchen-Pfarrerin, des katholischen Dekans, der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde und ihres Mannes sowie des Kantors der jüdischen Gemeinde, des 2.Religionsbeauftragten DITIB Mannheim, Yavuz Sultan-Selim-Moschee, und einer Vertreterin der alevitischen Gemeinde.
Die versammelte Menschenmenge kann gut und gerne als Querschnitt der Mannheimer Gesellschaft betrachtet werden – nicht sozial, aber politisch, kulturell und ethnisch. Ein solches Zusammenstehen hat Seltenheitswert. Was die Menschen antreibt, kann man der Intensität des Beifalls entnehmen, der immer wieder während der Rede von OB aufbrandet. Das sind zwei herausragende Punkte neben der Trauer- und Anteilnahmebekundung insbesondere für die Eltern und die Lebensgefährtin des ermordeten Polizisten:
Erstens der Dank an die Polizei für ihren schweren Dienst und die Einforderung von Respekt für sie, aber auch für die Feuerwehr, die Sanitäts- und sonstigen Hilfsdienste. Zweitens die klare Aussage: „Mannheim ist der Beleg, dass es möglich ist, in Frieden zusammenzuleben, auch wenn man nicht dieselbe Religion oder dieselbe Nationalität teilt. Eine so pluralistische Stadtgesellschaft bringt auch Spannungen mit sich. Unterschiedliche Sichtweisen, auch Streit, sind nicht verwerflich, wenn sie in gegenseitigem Respekt und auf dem Boden gemeinsamer Werte ausgetragen werden. Für diesen über Jahrzehnte erarbeiteten Zusammenhalt stehen wir gemeinsam ein!“ Specht schließt hier ausdrücklich die Muslime ein: „Die große Mehrheit der in Mannheim lebenden Muslime achtet unsere Gesetze und Werte!“ Specht beendet seine Rede mit der Feststellung: „Wir aber stehen zusammen. Wir lassen uns nicht spalten von Menschen, die behaupten, dass bestimmte Merkmale, wie die Religionszugehörigkeit, die Hautfarbe oder die sexuelle Orientierung Ausschlusskriterien unserer Gesellschaft sind. Mannheim war, ist und bleibt Heimat für alle, die Anstand besitzen und unsere gemeinsamen Gesetze, Werte und Normen achten!“
![](https://kommunalinfo-mannheim.de/wp-content/uploads/2024/06/03_Mannheim-haelt-zusammen_03.06.2024_Copyright-by-helmut-roos@web.de_Prominenz-Blumen-1024x683.jpg)
Blumenniederlegung bei der Gedenk- und Sollidaritätsveranstaltung auf dem Marktplatz | Bild: Helmut Roos
Diesen Gedanken der friedlich zusammenlebenden vielfältigen Gesellschaft bringen auch die Vertreterinnen und Vertreter der Religionsgemeinschaften zum Ausdruck. Sie stehen auf der Bühne nebeneinander, auch der muslimische Imam und der jüdische Kantor: Der katholische Dekan Jung erklärt: „Wir in den Religionen glauben und leben in unterschiedlicher Weise. Wir schöpfen aus unterschiedlichen Traditionen. Wir lesen in unterschiedlichen Schriften. Aber mehr als die Unterschiede wiegt das, was uns gemeinsam ist. Die Liebe zum Leben und der Wert eines jeden Menschenlebens.“
Die Trauer- und Gedenkveranstaltung unter dem Titel „Mannheim hält zusammen“ war für sich genommen eine sehr würdige. Der Innenminister erklärte, es sei nicht die Stunde, Konsequenzen zu diskutieren. Man werde diese aber auf jeden Fall ziehen – was immer das heißen mag. Und es blieben Fragen zurück.
Thomas Trüper
Kommentar: Ein Marktplatz – zwei gegensätzliche „Wir“ und nur eine halbe Antwort
OB Specht wird für seine Rede viel gerühmt. Den multiethnischen und -religiösen Zusammenhalt hat er klar als die Lebensgrundlage einer Einwandererstadt wie Mannheim herausgestellt. “Wir lassen uns nicht spalten”. Das ist wichtig aus dem Mund eines Konservativen.
Scheinbar verzichtete er angesichts der im Vordergrund stehenden Trauer auf politische Wertungen und Reflexionen. Aber nur scheinbar. Ganz klar stellte er heraus, wo er die Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sieht: Beim Islamismus: „Wir brauchen mehr Wachsamkeit gegenüber jeder Form von Extremismus. Wir müssen die staatlichen Organe so ausstatten, dass Gefährder frühzeitig identifiziert und effektiv überwacht werden können. Es muss künftig auch möglich sein, dass Personen ein Aufenthaltstitel versagt wird, wenn sie einen islamistischen Gottesstaat fordern. In unserem Land und in unserer Stadt darf es keine Rückzugsräume für Islamisten geben.“ So weit, so gut und so in aller Regel rechtsstaatlich nicht praktikabel.
Diese Montagsrede von Specht ignoriert vollkommen die Gefährdung durch völkische und rassistische Ideologen, die am Freitag und Sonntag zuvor ihre Sicht der Dinge auf dem Marktplatz zum Besten geben wollten bzw. gaben. Wenn diese von „Wir“ sprechen, so ist dies ein aussonderndes Wir, völkisch, ethnisch sortierend, rassistisch. Specht übernimmt für die Bürgerbewegung Pax Europa die landläufige verharmlosende Bezeichnung „islamkritisch“. Richtig muss es heißen: Islamfeindlich. Die Gefährder sind nicht nur solche, die ggf. abgeschoben werden könnten, sondern auch solche, die seit jeher in unserem Land leben, u.U. mit Zweitwohnsitz in der Schweiz.
Was AfD und Junge Alternative am Sonntag in der Stadt abgezogen haben, war die „Potsdamer Geheimkonferenz“ mitten auf dem Marktplatz. Die Forderung nach Remigration prangte auf den Transparenten und der Tenor war: Der Islam gehört nicht zu Deutschland – er muss raus, und das geht nur, wenn die Träger:innen dieses Glaubens rausgehen bzw. notfalls rausgeworfen werden. Da wurde das Deutschtums-Wir kühn bis in die Zeit 9 n.Chr. zurückverlegt, als Hermann der Cherusker die römischen Truppen des Varus schlug. „Wir haben schon die Römer rausgeworfen – da wird es uns auch gelingen, die rauszuwerfen, die nicht zu uns gehören“. Woher weiß der Redner der AfD, dass er von den Cheruskern und nicht z.B. von den Kalten abstammt? Eine zweifellos idiotische Frage, so idiotisch wie die deutschtümelnde Geschichtsklitterung über ein “Deutschland”, das erst seit 1871 existiert und von Anfang an mit mächtigen Ab- und Zuwanderungsbewegungen gekennzeichnet war.
Die Kellner:innen und Gäste der türkischen Lokale rund um den Marktplatz mussten sich die Remigrations-Drohung gelassen anhören.
Solche ethnizistisch-rassistischen Brandreden sind hochgefährlich. Sie finden immer wieder Leute, die diese Reden schon mal in blutige Taten umsetzen – von Breivik über die NSU-Verbrecher*innen und den “Manifest”-Schreiber und Mehrfachmörder von Hanau bis hin zu den Waffenlager anlegenden Reichsbürger*innen.
Es gibt die islamistischen Hassprediger und es gibt die rassistischen Hetzer*innen, und beide Sorten finden ihre ausführenden Täter*innen. Auf dem Marktplatz ist Blut geflossen von der Hand eines mutmaßlich islamistischen Täters. Das betrauern wir. Die Aufmerksamkeit und der politische Kampf muss sich jedoch auf und gegen beide Gefährderarten richten. Das vermissen wir.
Specht hat Recht, wenn er auch den Islam-Hassern Meinungs-, Rede- und Versammlungsfreiheit zubilligt, solange die in der Bundesrepublik nicht gerichtlich bestätigt verboten sind. So anstrengend ist Demokratie eben. Aber die Augen vor diesen Gefährdern und Brandstiftern zu verschließen, die am kommenden Freitag gleich bundesweit nach Mannheim mobilisieren um die Tat des mutmaßlichen Islamisten aus dem kriegszerrütteten Afghanistan zu instrumentalisieren, das ist auch unmittelbar gefährlich.
Und wenn sich die AfD-Leute im Gemeinderat auch unauffällig wegzuducken versuchen – die Stadtgesellschaft muss sie stellen; auch die Christdemokraten müssen dies tun und nicht auf ihre möglichen Mehrheitsbringer schielen.
Die eben erst beschworene Freude über das 75 Jahre alte Grundgesetz darf nicht dazu verleiten, wegzuschauen und wegzuhören, wenn auf dem Marktplatz die Aufhebung der Religionsfreiheit, der Unantastbarkeit der Würde des Menschen und der Gleichheit vor dem Gesetz für einen ganzen Teil unserer Gesellschaft von Verfassungsfeinden gefordert werden.
Thomas Trüper