OB Specht verkündet beim Neujahrsempfang eine Rolle rückwärts der Verwaltung
Kommunalpolitik light
Harte Worte findet der Lokalchef des Mannheimer Morgen, Florian Karlein, über die erste Neujahrsrede des neuen OB Christian Specht: „Mannheims OB Specht hat es verpasst, bei wichtigen Themen die Richtung vorzugeben“ (MM 17.1.24). „Es fehlte der konkrete Blick auf Mannheims Situation und konkrete Lösungen dafür – wie es Christian Specht bei seiner Amtseinführung im September auf dem Toulonplatz noch getan hatte.“ Damals, im September, habe er noch konkrete Projekte angesprochen (MM 27.9.23): „Kostenloser öffentlicher Personenverkehr“ am nächsten verkaufsoffenen Sonntag (gab es schon mal an den Advents-Samstagen), Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung in der City (nur welche? Den Verkehrsversuch bewertet er als nutzlos und Episode der Vergangenheit). Er nannte als eines der drängendsten Themen den Ausbau der Kinderbetreuung, dem er mit einer „Personalgewinnungsoffensive für Erzieherinnen und Erzieher“ begegnen möchte (dass da noch niemand dran gedacht hat! Oder doch?). Und dann natürlich sein Eintreten für das Ehrenamt mit Menschen die sich für Stadtteilfeste oder bei Sportveranstaltungen einsetzen. „Diesen Menschen dürfen wir nicht auch noch mit immer neuen Vorgaben und Verpflichtungen das Leben schwermachen.“ (Kommen die meisten Schwierigkeiten und Bürokratismen nicht aus dem Ordnungsamt, dem Specht so lange Zeit den Weg wies?).
Diese und weitere konkrete Punkte vermisste Karlein also bei Spechts Neujahrsrede. Da war auch wirklich nur ganz wenig, wo sich Specht festlegte. So z.B. für eine selbsttragende Spundwand im Rheindeich, um Bäume zu retten. Dafür gibt es ja auch eine regelrechte Volksbewegung. Ansonsten verharrte Specht auf der Meta-Ebene und formulierte diverse Allgemeinplätze.
Mit dem „Leitbild Mannheim 2030“ auf Kriegsfuß
Aber man darf Spechts Rede nicht unterschätzen. Unauffällig formulierte er doch ein paar Grundsätze, die sich einem erst bei nochmaliger Lektüre erschließen.
Einen überraschend großen Raum nimmt in seiner Rede das „Leitbild Mannheim 2030“ ein, das der Gemeinderat nach intensiver Vorarbeit in der Verwaltung und nach einem bürgerschaftlichen Beteiligungsprozess vor knapp fünf Jahren verabschiedet hat.
Das Leitbild orientiert sich an den 17 Nachhaltigkeitszielen für eine sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Entwicklung, die 2015 von der UNO verabschiedet wurden und weltweite Gültigkeit haben sollen. Vorausgegangen war seit 2008 ein von OB Peter Kurz vorangetriebener Modernisierungsprozess für die gesamte Stadtverwaltung: „Das gesamte Modernisierungsprogramm basiert im Wesentlichen auf zwei Säulen: Ein Masterplan mit 36 Projekten bildet gewissermaßen das Rückgrat. Parallel dazu wird eine grundlegende Kulturveränderung angestrebt, die das Modernisierungsprogramm befördert. Veränderungen bei Haltungen und Herangehensweisen sollen weg vom Spartendenken führen, hin zu einer wirkungsorientierten Denkweise, die von gemeinsamen, für die gesamte Stadtverwaltung geltenden strategischen Zielen ausgeht.“ (V244/2013 Evaluationsbericht CHANGE²). Die strategischen Ziele wurden auf Basis der 17 Nachhaltigkeitsziele auch in den Kommunalhaushalt überführt, kombiniert mit definierten Wirkungszielen für die einzelnen Fachbereiche. Aus dieser Systematik heraus wurde dann das Leitbild Mannheim 2030 entwickelt. Es basiert auf 7 strategischen Zielen und beinhaltet 90 Indikatoren für die Messung der Wirkung der Strategie.
Es kommt beispielsweise bei dem Strategie-Thema Herstellung der Bildungsgerechtigkeit nicht auf den Umfang der eingesetzten Ressourcen als Leitgröße an, sondern auf die erzielte Wirkung z.B. hinsichtlich des Anteils der Schüler*innen, die die Schulen ohne Hauptschul-Abschluss verlassen.
Dieses System von strategischen Zielen, Wirkungskennzahlen und auch noch TOP-Indikatoren ist zweifellos komplex – so komplex wie die ganze Stadtverwaltung mit ihren sehr vielfältigen Aufgaben. Aber es gibt erstmals evidenten Aufschluss über die Wirkung von Verwaltungshandeln und ggf. zu ändernde Maßnahmen.
Zuletzt wurden die Indikatoren von allen Fachbereichen im Jahr 2023 mit den Werten bis zum Jahr 2022 versehen, diskutiert und die Tauglichkeit der Indikatoren überprüft. Einige wurden geändert, weil sie für die strategische Steuerung unfruchtbar oder von der Kommune gar nicht beeinflusst werden können. Außerdem wurden überall Zielwerte definiert. Für die meisten Werte werden auch Vergleiche mit Städten über 250.000 Einwohner:innen dargestellt. Das ganze Werk liegt dem Gemeinderat und der Öffentlichkeit vor ( ANLAGE zur Beschlussvorlage V325/2023: II. TOP-Kennzahlen der Stadt Mannheim und Zielwerte Ergebnisse der Workshops und Zielwerte Dokumentation aus den Zielewerte -Workshops mit den Dienststellen).
OB Specht charakterisiert das Leitbild 2030 zunächst – in einen „sehr herzlichen Dank“ an seinen Amtsvorgänger verpackt – als Produkt des Ehrgeizes von Peter Kurz: „Obgleich eine große Zahl an Bürgerinnen und Bürgern und Verwaltungsbediensteten an der Entwicklung des Leitbildes Mannheim 2030 beteiligt waren, war es doch vor allem der politische Wille von Dr. Kurz und sein persönlicher Einsatz.“
Sodann verkündet er, er wolle nach fünf Jahren Leitbild „in diesem Jahr eine Zwischenbilanz ziehen und prüfen, ob eine Anpassung der Strategie sinnvoll und erforderlich ist“. Die Vorlage 325/2023 scheint an ihm vorübergegangen zu sein. Oder besser ausgedrückt: Die ganze „Strategie“ mit den 7 strategischen Zielen scheint ihm nicht zu passen.
Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg „haben neue Rahmenbedingungen geschaffen. Diese wirken sich unmittelbar auf die Kommune und die Kommunalverwaltung aus.“ Müssen deswegen die Ziele aufgegeben werden? Ist die Erfassung messbarer Wirkungen deswegen in Frage zu stellen? Die Indikatoren verzeichnen für die Krisenjahre seit 2020 schlechtere Werte. Daraus resultiert für die Verwaltung und ggf. für den Gemeinderat die Notwendigkeit, Maßnahmen für die Verbesserung der Situation zu entwickeln. Specht scheint die „Strategie“ zu verfolgen, die Ziele den schlechteren Rahmenbedingungen anzupassen. Als Begründung für seinen Ansatz nennt er sodann den Klimawandel, den Digitalisierungsbedarf und den sich verschärfenden Arbeitskräftemangel – alles Themen, die in den Fachbereichsstrategien berücksichtigt und in den Indikatoren abgebildet sind.
Und Specht legt noch eine Schippe drauf: „Zweitens: Es sind – auch in Mannheim – neue politische Strategien und Prioritäten dazu gekommen. Man denke hier nur an den Local Green Deal.“
Local Green Deal? Dazu äußert die Verwaltung in V325/2023 beispielsweise: „Bisher war die Einflussnahme der Stadtverwaltung auf diese Kennzahl begrenzt; nun hat der Local-Green Deal (LGD) dieses Aktionsfeld im Portfolio mit aufgenommen, die entsprechende Stelle ist besetzt – damit ist zunächst ein Netzwerkaufbau bzw. die Beteiligung an Netzwerken (Foodnet) vorgesehen. Es sollen künftig Vereinbarungen mit Akteuren geschlossen werden.“
Der Jahresbericht 2022 verwirrt den neuen OB
Specht: „Der 124 seitige Jahresbericht 2022 der Stadt Mannheim umfasst 7 strategische Ziele, 33 Teilziele, 30 Fachstrategien und 52 TOP-Indikatoren. Diese TOP-Indikatoren sollen anzeigen, inwiefern wir unsere Ziele erreichen. Besonders bemerkenswert fand ich, dass etwa die Zahl an Kita-Plätzen für die Stadt Mannheim derzeit kein TOP-Indikator ist. Umso dringlicher erscheint mir, dass wir unsere strategische Steuerung fokussieren und verschlanken.“
Dieser „124-seitige Jahresbericht 2022 der Stadt Mannheim“ ist Specht offensichtlich ein besonderer Stein des Anstoßes. So viele Teilziele und Fachstrategien und TOP-Indikatoren!
Der Jahresbericht der Stadt Mannheim, der wahrscheinlich seit den 80er Jahren nicht mehr erschienen war, ist zweifellos ein abschließender Rechenschaftsbericht des scheidenden OB Peter Kurz und so etwas wie ein politisches Vermächtnis.
Seine Position zu den „Rahmenbedingungen“ und ihrem Verhältnis zu den strategischen Zielen erklärt der Bericht im Schlusswort:
„Zusammenfasend bedeutet dies für die Zukunft, in dem Bemühen der Transformation, um Mannheim zu einer sozial gerechten, resilienten, wenig anfälligen und perspektivisch klima-neutralen Stadt zu machen, nicht nachzulassen. Es gilt, noch mehr Projekte, Investitionen und Strategien mit noch größerer Effizienz – unter Wahrung der sozialen Gerechtigkeit- zu entwickeln und fortzuführen, die einerseits der Krisenreaktion dienen, zugleich aber auch der Transformation und Weiterentwicklung der Stadt.“ (S. 113)
Kita-Populismus – in einem Jahr wird sich Specht messen lassen müssen
Specht bemängelt, dass „die Zahl an Kita-Plätzen für die Stadt Mannheim derzeit kein TOP-Indikator ist.“ Die Indikatoren bilden die Wirkung von Maßnahmen ab. Es ist schon ziemlich demagogisch, wenn Specht nach Blick in den Jahresbericht unterstellt, der Stadt sei die Zahl der Kita-Plätze schnurz um dann zu verkünden, er werde das nun zur Chefsache machen.
Vierteljährlich veröffentlich das Jugenddezernat die Entwicklung der Kinderbetreuungsplätze und der Nachfrage, differenziert nach den unterschiedlichen Bedürfnisarten. Es weist die Zahl der unversorgten Kinder aus.
Im Kapitel „Zentrale Fachstrategien“ kommt an zweiter Stelle die Ausbauplanung Kindertagesbetreuung: „Mit dem Gesamtkonzept zur Ausbauplanung für Kindertagesstätten sollen für möglichst viele Eltern adäquate Betreuungsangebote bereitgestellt und somit ein ausgeglichenes Tagesbetreuungsangebot über das gesamte Stadtgebiet sichergestellt werden. Die Ausbauplanung in den einzelnen Stadtteilen folgt dabei einer Priorisierung nach den jeweiligen Bedarfen. Dabei gilt es, sorgfältig zwischen den Faktoren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Verbesserung der Bildungsgerechtigkeit sowie Entwicklung der Konversionsflächen und Neubaugebiete abzuwägen.“ (S. 27) In diesem Zusammenhang wird auf den Ausbau der Kindertagespflege u.a. als Überbrückungsangebote verwiesen. Es wird deutlich: Hier geht es immer noch um den Weg aus der Mangelverwaltung, nicht aber um Untätigkeit.
Letztere unterstellt Specht dem Dezernat III, um dann das System der strategischen, wirkungsorientierten Steuerung in Frage zu stellen, „zu verschlanken“.
Die Obrigkeit und das Volk
Eine dritte Ansage von gravierender Bedeutung macht Specht, wenn er feststellt: Das Leitbild sei zeige ein „Zielbild“ auf, was er als Vorteil wertet. „Der Nachteil besteht aber darin, dass die Grenzen zwischen Verwaltung einerseits und Bürgerschaft andererseits verschwimmen. Damit verwischen aber auch die Rollen von Auftraggeber und Auftragnehmer und die Verantwortlichkeiten der jeweiligen. Mir ist wichtig, dass wir wieder klar formulieren, welche Erwartungen Bürgerschaft, Ehrenamt und Unternehmen an die Verwaltung haben können bzw. welche Leistungen die Verwaltung in welcher Qualität und Quantität erbringen soll.“
So kann man bürgerschaftliche Beteiligungsprozesse und z.B. ehrenamtliche Leistungen, wie sie z.B. in Zusammenarbeit mit der überforderten Verwaltung und den Hilfsorganisationen bei der sog. „Flüchtlingskrise“ 2015 ehrenamtlich geleistet wurde auch bezeichnen: „Verschwimmen der Grenzen“. Das Leben der Stadtgesellschaft, die Gestaltung der Stadt werden schlicht als Verhältnis „zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer“ definiert.
Schnell beeilt sich Specht aber, klarzustellen, dass nicht „der Einzelne die Verantwortung für das Gemeinwesen auf die Verwaltung delegieren kann. Wir alle sind gefordert, Verantwortung für ein respektvolles Miteinander, für Sauberkeit im öffentlichen Raum und die Einhaltung von Regeln selbst zu übernehmen.“ Der Bürger, die Bürgerin soll also ordentlich und ehrenamtlich tätig zu sein.
Meinungsumfragendemokratie
Noch ein Schmankerl bietet Specht in seiner Neujahrsrede: „Bei der Überarbeitung unserer Strategie müssen wir zwei maßgebliche Zielgrößen in den Blick nehmen, die sich gegenseitig bedingen: Zum einen die Qualität unserer Leistungen als Verwaltung, zum anderen die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit unseren Leistungen. Die aktuellen Erkenntnisse der OECD zur Messung von Nutzer-Zufriedenheit mit dem öffentlichen Dienst können uns hierbei wichtige Impulse geben.“ Um was dreht sich das System der wirkungsbasierten strategischen Steuerung und vorher schon der aufwändige „CHANGE-Prozess“ der Stadtverwaltung anderes als um die Qualität der Leistungen. Die vielen Indikatoren der Wirkungsmessung will Specht aber offensichtlich durch die subjektive Messung der Nutzer-Zufriedenheit mit dem öffentlichen Dienst ersetzen. Wie wenig eine solche Messung zielführend ist, zeigt das Thema „Videoüberwachung“ des öffentlichen Raums als Placebo für das „subjektive Sicherheitsempfinden“.
Abschließend wartet Specht noch mit dem großen Schlager der „Aufgabenkritik“ (in den 80er Jahren ein großer Verwaltungshit), mit der „Ressourceneffizienz unserer Leistungen“ (Überprüfung durch Umfragen oder der Wirkung?) und der „regionalen Arbeitsteilung“ in der Metropolregion auf, also v.a. mit Ludwigshafen und Heidelberg. Ganz neu ist auch dieser Vorschlag nicht (die RNV ist ein lebendiger Beweis). Aber die Leistungsfähigkeit der gebeutelten Stadt Ludwigshafen dürfte sicher bei der Arbeitsteilung Grenzen haben.
Trauriges Fazit: Specht macht Anstalten, die „Verschlankung“ in einer Weise zu praktizieren, die die Erfüllung der notwendigen Leistungen gerade für die Nichtwohlhabenden verschlechtern wird und die politische Mitwirkung der Gesellschaft unterbindet.
Und ach ja: „In unserer Stadt ist Armut real.“ Dazu braucht Specht keinen Blick in den Sozialatlas oder auf die viel zu vielen Indikatoren. Es reicht der Blick in die Vesperkirche. Und mehr Antwort auf die Armut bietet er auch nicht als: die ehrenamtliche Vesperkirche.
Noch eine Schlussanmerkung: Nicht alles in der Ära Kurz war glänzendes Gold. Wirklich nicht. Aber kommunalpolitisches Blech braucht niemand!
Thomas Trüper