eTicket, Sozialticket oder gleich ganz kostenlos? Die Stadt braucht auf jeden Fall mehr Bus- und Bahnfahrer*innen!
Ein Kommentar zur Diskussion um den kostenlosen öffentlichen Nahverkehr
Es ist gut, dass über den öffentlichen Nahverkehr diskutiert wird. Die RNV führt das eTicket zum vergünstigten Erwerb elektronischer Fahrscheine ein, die SPD will ähnliche Kurzstreckentickets auch am Automaten, die Linke erinnert wieder einmal an die längst überfällige Forderung nach dem Sozialticket und die Grünen unterstützen sowieso jegliche Maßnahme zur Förderung des öffentlichen Nahverkehrs. Komplett konträr geht da in Mannheim nur die „Bürgerfraktion“ (Ex-AfD). Der Subventionsbedarf dürfe nicht steigen, meint deren Chef Eberhard Will. Das verwundert nicht unbedingt, ist die Bürgerfraktion doch der Inbegriff rückwärtsgewandter Politik, so auch in dieser Frage.
Amüsant wird es, wenn die progressiven Kräfte in der Stadt unerwartet von der Bundesregierung links überholt werden. Kostenloser Nahverkehr! Eine ureigene, fast schon radikal linke Forderung, die in vergangenen Jahren in Debatten meist als völlig utopisch bezeichnet wurde (was übrigens Quatsch ist, da es den kostenlosen Nahverkehr in anderen Ländern bereits gibt).
Möglich macht diese unerwartete Wendung in der Debatte dann auch noch die EU. Die drohenden Diesel-Fahrverbote wegen zu hoher Stickoxidbelastung in deutschen Großstädten fordern kreative Ideen und die Bundesregierung dazu auf, über ihren Schatten zu springen. Die Utopie des kostenlosen ÖPNV wird auf einmal ganz konkret – und das vor der eigenen Haustür. Mannheim könnte Modellstadt werden. Bürgermeister Christian Specht bestätigt erste Gespräche mit der Bundesregierung.
Umweltschutz und Menschenschutz: Nie wieder Schwarzfahren!
Vorrangig geht es bei der aktuellen Diskussion natürlich um den Umweltschutz. Doch der zweite große Vorteil des kostenlosen ÖPNV wäre die Entkriminalisierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe: die mit wenig finanziellen Ressourcen, die häufig mit zahlreichen Problemen und Herausforderungen in ihrem Leben konfrontiert sind: Hartz-IV Empfänger*innen, Geflüchtete, junge Menschen, alte Menschen, die in Armut leben. Für viele geht der kostenpflichtige Nahverkehr mit einer vermeidbaren Kriminalisierung einher. Sie sind auf Bus und Bahn angewiesen, können sich kein Auto leisten, müssen aber aufgrund ihrer Lebensumstände mobil sein. Das „erwischt werden“ beim Schwarzfahren ist oft nur eine Frage der Zeit. Da es eine Straftat darstellt (§ 265a StGB „Erschleichen von Leistungen“), ist es auch ein Schritt in die Kriminalität. Wer einmal im Bereich der Drogenhilfe gearbeitet hat, kennt das Dilemma in der krassesten Form. Viele Menschen sind ernsthaft bemüht, bei allen Widrigkeiten ihr Leben in den Griff zu bekommen. Die Sucht ermöglicht es aber nicht, finanzielle Ressourcen für ein Ticket bereit zu stellen. Gleichzeitig müssen sie mobil sein. Die Folge ist, dass viele Suchtkranke gar nicht wegen Drogendelikten im Gefängnis sitzen, sondern einfach nur wegen wiederholtem Schwarzfahren und den nicht vorhandenen finanziellen Mitteln, die Geldstrafe zu zahlen. Wo ist hier der Sinn? Ein einziger Tag im Gefängnis kostet den Steuerzahler rund 100 Euro – mehr als ein Rhein-Neckar-Monatsticket, mit dem man im ganzen Verbundgebiet herumfahren kann.
Wer soll den kostenlosen ÖPNV bezahlen?
Natürlich soll der Steuerzahler den öffentlichen Nahverkehr finanzieren. Das ist Infrastruktur, die der Staat zur Verfügung stellt, genau wie Autostraßen und Gehwege, daher ist die Steuerfinanzierung nur logisch. Der Steuerzahler ist in diesem Sinne auch nicht der „kleine Mann“, der schon wieder geschröpft wird. Der Steuerzahler sollte in diesem Fall jede Form eines Steuerpflichtigen sein, daher insbesondere natürlich auch die reichen Unternehmen. Denn sie sind es doch, die die täglichen Fahrten der Pendler*innen in die Städte und wieder zurück überhaupt erst erforderlich machen. Ich finde es jedenfalls gerecht, Menschen und Unternehmen im Verhältnis zu ihren tatsächlichen finanziellen Möglichkeiten für Infrastruktur zahlen zu lassen. Ungerechter finde ich dagegen, wenn alle Bahnfahrer*innen gleich viel für ihr Ticket zahlen müssen: 84,90 Euro jeden Monat, egal ob beschäftigt als Mini-Jobber mit Transferleistungsbedarf oder Top-Managerin.
Wenn dann noch der Umweltschutz in einen steuerfinanzierten ÖPNV eingerechnet wird – umso besser. Die Unternehmen, die Profit aus der Zerstörung der Umwelt schlagen, seien es Autohersteller oder Kohlekraftwerke, sollen auch für die Gegenmaßnahmen bezahlen.
Bus und Bahn und ich
Was würde kostenloser Nahverkehr für mich selbst bedeuten? Ich würde Bus und Bahn mehr nutzen, aber nicht sehr viel mehr. In der Stadt fahre ich immer noch lieber mit dem Fahrrad an den Autoschlangen vorbei, als mich im Feierabendverkehr in die überfüllten Bahnen zu quetschen. Strecken aufs Land mit ungünstiger Busanbindung werde ich weiterhin mit dem Auto anfahren, so bequem bin ich nun mal. Wenn es aber im Winter richtig kalt ist oder es in Strömen regnet, freue ich mich darüber, einfach in die Bahn steigen zu können – ohne Angst vor einem Kontrolleur und ohne das schlechte Gefühlt, über 5 Euro für einmal kurz in die Innenstadt und wieder zurück verplempert zu haben.
(cki)