Neckarstadt-West: Wie mit der Subalternen sprechen? – 2. Teil
Transformatives Community Organizing für die Neckarstadt-West
Zweiter Teil des 2-teiligen Artikels
Wie, so lässt sich die Problemstellung des ersten Teils dieses Beitrags [https://kommunalinfo-mannheim.de/2020/09/03/wer-spricht-mit-der-subalternen-neckarstadt-west-zwischen-prekaritaet-und-gentrifizierung/] zusammenfassen, erhält man angesichts der Gemengelage verschiedener Interessen eine deutliche Konfliktorientierung angesichts asymmetrischer Machtverhältnisse, in denen Politik und Wirtschaft versuchen, einen Konsens unter ihren Bedingungen herzustellen? Wie motiviert man Menschen, für ihre eigenen Interessen auch einzutreten, und das in einem kommunikativen Austausch? Wurde das bereits versucht oder muss man ganz von vorne anfangen?
Der erste Teil dieses Beitrags wurde von vielen als Kritik an bestehenden Initiativen aufgefasst. Sicherlich ist er eine Kritik, aber eine an mich selber und mein soziales Umfeld gerichtete. Dass eine solche Kritik immer auch eine Selbstkritik ist, möchte ich betonen, damit dieser Beitrag nicht als am Schreibtisch entstandene Besserwisserei verstanden wird. Teil 2 ließ aus zwei Gründen auf sich warten: Erstens, weil ich bei der Frage „Was tun?“ immer wieder fand, was doch getan wird und zweitens, weil der Anspruch, einfach mehr miteinander zu reden, auch in meiner Praxis nur schlecht funktioniert.
Es geht um die Analyse, dass ein nicht gerade geringer Anteil der Neckarstädter Bevölkerung aus Gründen vermeintlich kultureller, tatsächlich aber sozialer Differenz entweder Desinteresse oder aber zumindest Demotivation auch auf Seiten einer aktiven Linken hervorruft. Das ist keine Frage von bösem Vorsatz oder falscher Strategie, sondern vielmehr eine Frage der Milieus, aus denen sich die Linke rekrutiert und damit der (fehlenden) gemeinsamen Sprache. Was es zuallererst bräuchte, wäre eine Übersetzungsleistung. Wie kommt man überhaupt an die, vor allem osteuropäischen, Mitbürger*innen, vorausgesetzt, man möchte mit ihnen sprechen?
Ich unterstelle also mangelnde Gesprächsbereitschaft bzw. vielleicht auch Resignation, weil die Ansprache schon so oft nicht funktioniert hat. Ich unterstelle aber vor allem ein viel zu traditionelles Repertoire des linken Aktivismus, das nahezu zwangsläufig zu einem solchen Scheitern führt. M. E. braucht es eine umfassende transformative Community Organizing-Perspektive, um die migrantische und proletarische Bevölkerung der Neckarstadt für ihre Interessen zu aktivieren. Das heißt, von Haustür zu Haustür zu gehen, zu klingeln und mit den Menschen zu sprechen, und zwar ausführlich zu sprechen und hauptsächlich die Angesprochenen sprechen zu lassen – und danach auch in diesem Sinne gemeinsam zu handeln. Das sagt sich allerdings leicht, ist aber tatsächlich ein herausfordernder Prozess, der eine entsprechende Motivation und entsprechende Ressourcen voraussetzt. Es sind nicht umsonst am ehestens (semi-)staatliche und kirchliche Institutionen, die sich dieser Herausforderung stellen: Sie haben auf die eine oder andere Art den Auftrag dazu, sie haben eine Mission und durch eine Finanzierung auch die notwendige Zeit für solche Projekte. Diese Ressourcen fehlen den Linken, und es ist eine Willensentscheidung, diese zur Verfügung zu stellen.
Selbstverständlich wird man, wenn man in einem Milieu hausieren geht, in dem es um Prostitution, Tagelöhnerei, ums nackte Überleben geht, Rassist*innen, Nationalist*innen, Sexist*innen und Arschlöcher treffen. Man wird auf Gewalt stoßen, nicht zuletzt auf sexualisierte. Das trifft allerdings z.B. genauso für Flüchtlingshilfe zu. Warum sollten die Menschen anders sein, als der oder die Durchschnittsdeutsche? Warum sollten die einen wie die anderen wirklich glauben, dass es linken Aktivist*innen um sie, ihre Wohn-, Arbeits- und Lebenssituation geht? Ein solches Vertrauen muss erst aufgebaut werden, und zwar von beiden Seiten. Das linke Milieu in Mannheim – und nicht nur hier – traut dem subalternen Milieu gar kein entsprechendes Engagement zu. Für die Mehrheit der Menschen wird das auch zutreffen (das gilt ja für Deutsche nicht weniger), in einer Organizing-Perspektive kommt es darauf an, diejenigen zu finden, auf die es nicht zutrifft. Fangen wir an, mit den Menschen zu reden, statt mit (oder gegen) die Stadtpolitik, Hildebrandt & Hees oder die eine oder andere kulturindustrielle Initiative.
Community Organizing in der Neckarstadt: Grundlagen
Angeblich wurde das schon versucht. Aber unter welchen Voraussetzungen? Es reicht nicht einfach, irgendwo zu klingeln. Und vor allen Dingen darf das nicht einfach so passieren, wie es vielleicht die eine oder andere Partei im Wahlkampf macht. Erstens ist mitzubringen: Zeit und Geduld. Es geht nicht darum, die Menschen von irgendetwas zu überzeugen und es kann erst recht nicht angehen, bei der ersten als rassistisch interpretierten Äußerung wieder einzupacken und zu gehen.
Ein solches Gespräch sollte etwa eine halbe Stunde dauern, dabei geht es nicht darum, von einer Initiative, einer Aktion o.ä. zu berichten, sondern in erster Linie darum, den Menschen zuzuhören. Nichtsdestotrotz braucht man einen Plan, wo das Ganze denn hinführen soll. Wozu möchten wir die Menschen eigentlich motivieren? Was ist das Ziel unserer Ansprachen? Das kann etwas ganz Einfaches sein: Vielleicht geht es uns erst mal gar nicht um eine soziale Veränderung, sondern “nur” darum, Interesse zu zeigen und zu erfahren, wo denn der Schuh tatsächlich drückt. Selbst weitergehende Verabredungen – unumgänglicher Bestandteil in einer Organizing-Perspektive – müssen nicht gleich Aktionen sein, es kann einfach darum gehen, zu einem größeren Austausch einzuladen, individuelle Hilfe und Beratung anbieten zu können oder weitere Kontakte zu knüpfen.
Organizing-Gespräche laufen nach dem AHA-Prinzip ab: Anger – Hope – Action. Es geht erst Mal in einem längeren Teil darum, sich kennenzulernen, die Menschen von ihrem Alltag und ihren Problemen berichten zu lassen. Die Kunst des Organizing besteht in diesem Moment darin, aus diesen Berichten das auch emotional aufwühlende Hauptproblem herauszuhören. Im zweiten Schritt geht es darum, eine Botschaft zu vermitteln: Gemeinsam können wir da was ändern! Willst du das verändern und was bist du bereit, dafür zu tun? Das führt zum dritten Punkt: Action. Wir holen uns eine Zusage ab: Die angesprochene Person/Familie gibt uns eine Telefonnummer, sagt ihr Kommen zu einem Treffen zu (noch mal anrufen!), nennt uns weitere Namen, nennt uns vielleicht Schlüsselpersonen der Community, mit denen wir reden müssen – Menschen, auf die die anderen hören.
Das ist natürlich alles andere als einfach. Aber alles andere – ich klingel’ kurz und erzähle von unserer Aktion, unserem Plan, wie wir mit unseren Problemen umgehen – ist eine Abkürzung. Nicht umsonst heißt eines der meist rezipierten aktuellen Bücher zum Organizing “No Shortcuts”, also “Keine Abkürzungen”. [https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/VSA_McAlevey_Keine_halben_Sachen.pdf] Wenn es nicht anders geht, redet man eben drei-, vier- oder auch zehnmal miteinander. Ohne zu nerven, aber auch ohne locker zu lassen. Fallen lauern überall: Die „Angry Workers“, eine Westlondoner Gruppe, die seit 2014 in einem mit der Neckarstadt-West durchaus vergleichbaren Milieu interveniert, berichtet etwa davon, dass die Schlüsselpersonen (im englischen: Leaders, die Personen, die Einfluss in der Community haben und die es daher eigentlich in einen Organizing-Prozess zu integrieren gilt) gerade in migrantischen Milieus oftmals auch diejenigen sind, die ausbeuten oder autoritäre Politikformen begünstigen (Beispiele: Wohnungen besorgen ist Hilfe, aber auch ein lukratives Geschäft. Hilfe bei Amtsgängen – insbesondere beim ALG II-Antrag – ist gerne gesehen, oft aber auch mit Abgaben an die Helfenden verbunden. Caritative Hilfestellung von religiösen Gemeinschaften kann mit einem Fundamentalismus verbunden sein…). [https://classpower.net/]
Das wird den meisten Linken in ihrem aktuellen Zustand schon zu viel Arbeit sein. Und das ist wiederum völlig nachvollziehbar. Denn erstens sind die Menschen natürlich schwer erreichbar: Warum wohl hat sich Günay Balci nicht an die linken Antigentrifizierungs-Gruppen gewendet, sondern an Amalie, Aufwind und die Neckarschule? Weil diese Kontakte in das Milieu herstellen konnten. Warum kommen hauptsächlich diese drei weißen Deutschen zu Wort? Weil es auch dann noch schwer ist, den direkten Kontakt herzustellen: Es bedarf starker Übersetzungsleistungen, sprachlich wie kulturell. Dabei geht es, das ist zu wiederholen, nicht darum, was ein paar Linke wollen, sondern es geht darum, herauszufinden, wo der Schuh drückt. Hilfreich sind da schon mal alle Kontakte, die entsprechende sprachliche Kompetenzen aufweisen oder auf die eine oder andere Art und Weise schon einen Fuß drin haben: die Lutherkirche etwa, auch das Community Art Center, nicht zuletzt die DGB-Initiative Faire Mobilität, die ein starkes Interesse an einem solchen Projekt haben sollte, weil es auch um die Frage von Tagelöhnerei, Arbeiterstrich u. ä. geht.
Planen und kartieren
In Gesprächen mit den Nachbar*innen, unseren Mitbewohner*innen, geht es keineswegs nur darum, die Angesprochenen zu motivieren. Die Gespräche sind notwendiger Bestandteil eines Prozesses, um diesen Stadtteil überhaupt zu verstehen I(was etwa mir auch nach einem Jahrzehnt noch nicht gelungen ist). Das hat zahlreiche Dimensionen: Wer sind die “Big Player” in den Wettbüros, bei den Zimmervermietungen, in der Prostitution, auf dem Arbeiterstrich? Wie hängen diese und weitere Bereiche zusammen (und damit auch: wie weit reichen Abhängigkeiten: Wenn die Vermieter gleichzeitig die Arbeitgeber sind, steht so manch eine*r vor einem doppelten Problem). Seit 2018 etwa sammelt das Offene Stadtteiltreffen Neckarstadt Daten über Hausverkäufe und veröffentlicht entsprechende Karten. Eine solche Karte ist ein vielversprechender Ansatz, in die man noch viel mehr Daten eintragen könnte: Wem gehören die anderen Häuser? Wer wohnt wo? Wie ist der Zustand der Häuser? Wo befindet sich welches Gewerbe? Wie hoch sind die Mieten? Welche Häuser sind in Privatbesitz, welche Häuser gehören Gesellschaften? Wo stapeln sich Müllberge (und warum: wie viele Menschen wohnen dort wirklich, wie viele sind gemeldet)? Welche Kneipen leben vom Getränkeausschank, welche von illegaler Prostitution?
Ziele bestimmen
Was möchte man nun erreichen mit einer solchen Ansprache? Was sich letztlich ergibt, ist einigermaßen offen, weil es auf den Wünschen, Interessen und Problemen der Angesprochenen basiert. Trotzdem kann und muss man konkrete Angebote machen. Das könnte etwa die Mobilisierung zum Offenen Stadtteiltreffen sein. Und wo wir dabei sind: Warum nicht einfach eine Viertelstunde vort Beginn eines solchen Treffens mal die Ecken des Neumarkts abklappern und erzählen, was man da gerade so macht und spontan einladen? Ein weiteres, schon recht anspruchsvolles Ziel, wäre die Mobilisierung zu der angekündigten Stadtteilkonferenz – oder zumindest, angesichts der fortgeschrittenen Zeit und der Pandemie-Situation, zu einer kommenden.
Grundsätzlich gelten im Organizing zur Bestimmung gemeinsamer Ziele zwei Regeln: Erstens sollte ein Konflikt gewinnbar sein, um auch auf Erfolge aufbauen zu können: Als langfristige Strategie ist das Organizing eine Eskalationsstrategie (eine Gruppe, die einen wenn auch kleinen Konflikt gewonnen hat, zieht weitere Leute an, die bereits Aktiven werden zu weiteren und weitreichenderen Aktionen motiviert). Zweitens muss das definierte Ziel den Wünschen aller Aktiven entsprechen (etwa in dem Sinne: ein allgemeines Rauchverbot in Neckarstädter Kneipen zu erkämpfen ist schwer, wenn die Hälfte der Anwesenden raucht).
Auf der anderen Seite sollte in einem Community Organizing, das sich eskalativ auf einen Grundkonflikt bezieht, der transformative Charakter nicht verschwiegen werden: Dass man es mit mächtigen Gegnern zu tun hat, gegen die man konträr vorzugehen gewillt ist, dass das Mühe und Anstrengung kostet und dass ein solcher Konflikt auch verloren werden kann (gewinnbar heißt ja nicht: garantiert zu gewinnen), muss einbezogen werden und darf nicht zur Demotivierung führen. Drei konkrete Ideen möchte ich zur Diskussion stellen:
Mieten runter, Löhne rauf!
Die Einbeziehung von Strukturen wie z.B. der Fairen Mobilität, aber auch anderen Vereinen, die zu dem Thema prekäre und migrantische Arbeitsverhältnisse tätig sind, ist schon deswegen wichtig, weil wir tatsächlich vor einem sprachlichen Verständigungsproblem stehen würden. Viele von uns werden selbst mit ihren Fremdsprachenkenntnissen nicht viel weiterkommen.
Gruppen und Zusammenhänge, die in diesem Sinne aktiv werden wollen, aber keine fremdsprachlichen Kompetenzen finden, könnten sich parallel zu einer Bewohner*innen-Organisierung um eine Arbeiter*innen-Organisierung kümmern. Konkret: Man könnte den sich ansiedelnden Start-Ups in der Neckarstadt den Spaß verderben, indem man mal mit ihren Angestellten länger über die Löhne spricht. So ließe sich etwa ein Neckarstädter Lohnspiegel erstellen, der verdeutlicht, in welchen Kiosken, Kneipen, Restaurants Löhne gezahlt werden, die zum Leben und für mehr reichen. Belegschaften ließen sich organisieren, um für höhere Löhne, vernünftige Arbeitszeiten, Urlaubs-, Überstunden- und Nachtarbeitsregeln (Zuschläge!) zu kämpfen, mit ausreichend großer Belegschaft auch für Betriebsräte oder andere Vertretungsstrukturen. Und wenn das auch in Kiosk X oder Café Y erst mal unrealistisch erscheint, so ändert sich diese Perspektive vielleicht, wenn sie in mehreren Betrieben gleichzeitig beginnt. Nach dem Vorbild der 15 $-Now-Bewegung, die im Niedriglohnsektor in Seattle/USA erfolgreich einen Mindestlohn von 15 Dollar von unten durchgesetzt hat [http://15now.org/], wäre ein großartiges Kampagnenziel: In der Neckarstadt gibt es keinen Lohn unter 12 Euro. Wer die nicht zahlen will, muss verschwinden. Letztlich muss das nicht nur für neue Start-Ups gelten, sondern ebenso in den osteuropäisch oder migrantisch geprägten Fastfood-Klitschen, Kneipen und Kiosken. Und, um noch einen draufzusetzen, wenn man die Gesprächsebenen kombiniert, müssen auch die osteuropäischen Tagelöhner dem vorbeifahrenden Kleinlaster abwinken, wenn kein entsprechender Lohn in Aussicht gestellt wird. Hängen wir an die Forderung noch eine Null an, so wird auch im Sexwork-Sektor ein Schuh daraus. Und: Kein*e Neckarstädter*in darf gezwungen werden, einen Lohn unter 12 Euro zu akzeptieren. Wenn die Agentur für Arbeit eine Maßnahme wegen der Verweigerung eines Niedriglohnjobs ausspricht, muss die organisierte Neckarstadt intervenieren – damit ist erneut ein Bündnispartner benannt: das Arbeitslosenzentrum in der Lutherkirche.
Würde es gelingen, gleichzeitig einen entsprechenden Druck nach oben auf die Löhne und einen Druck nach unten auf die Mieten auszuüben, dann hätte sogar die Stadt Mannheim das, was sie wollte: Nämlich einen sozial aufstrebenden Stadtteil.
Migration unteilbar machen
Migration ist ein Steckenpferd der weißen deutschen Linken. Das Interesse allerdings ist sehr ungleich verteilt zwischen sogenannter Arbeitsmigration einerseits und Flucht und Asyl andererseits. Hier ist an den jüngsten Aufruf von Pfarrer Peter Kossen aus dem westfälischen Lengerich zu erinnern, der dafür plädiert, dass Initiativen für Flüchtlinge ihr Engagement auf osteuropäische Arbeitsmigrant*innen ausweiten. [https://www.kirche-und-leben.de/artikel/kossen-hilfen-fuer-fluechtlinge-und-arbeitsmigranten-besser-vernetzen] Die Mannheimer Seebrücke ist damit als Bündnispartner angesprochen, das Asylcafé an der Mittelstraße muss seine Türen auch für die osteuropäischen Kolleg*innen öffnen.
Dafür gibt es diverse wichtige Gründe: Erstens ist jede Migration Arbeitsmigration. Historisch hat das Asylverfahren nach Beendigung der “Gastarbeits”-Ära 1973 die Art und Weise, wie sich Migration organisiert hat, geprägt und damit auch den Schwerpunkt linken Engagements verlagert. Nichtsdestotrotz war der Grund der Migration auch dann immer noch eine Suche danach, wie das Überleben gesichert wird, also auch eine Frage der Suche nach Arbeit, von der man leben kann. So wie die Arbeitsbedingungen von gebürtigen Deutschen durch die vordergründige Arbeitsmigration untergraben wird, so auch die der “Arbeitsmigrant*innen” durch Flucht: “Protestieren die Werkvertragsarbeiter eines rumänischen Sub-Subunternehmen, sind sie schnell draußen und werden durch eine andere Konstruktion ersetzt. Dass Geflüchtete in dieser Auslagerungskette auftauchen, ist so sicher wie das Amen in der Kirche.” betont der Kasseler Soziologe Peter Birke. [https://www.rosalux.de/publikation/id/14790/die-arbeiter-sind-total-unzuverlaessig/]
Zweitens macht man sich als engagierte und betroffene Person Illusionen, wenn man meint, die Situation der Flüchtlinge sei schlimmer oder katastrophaler als diejenige von heutigen Arbeitsmigrant*innen. Im psychischen, aber auch im sozialen Sinne ist das Leid der einen nicht anders zu bewerten als das der anderen. Und last but not least sollte sich eine Linke davor hüten, Migration aus wirtschaftlichem Leid von Migration aus Kriegs- oder Verfolgungsgründen zu trennen: Die eine ist so legitim wie die andere und für beide ist eine europäische (Wirtschafts-)Politik mit verantwortlich.
Körperliches Leid sozial thematisieren
Diese Gemeinsamkeit lässt einen letzten wichtigen Aspekt in den Fokus rücken: Ob wirtschaftliche Ausbeutung, ethnisierte Verfolgung oder sexualisierte Gewalt – alles Aspekte, die wir in der Neckarstadt in einem Gesamtzusammenhang wiederfinden: Es geht um das körperliche Wohlergehen der Menschen in einem weitesten Sinne, was auch ökologische Fragen des Milieus – unserer Umwelt – mit einbezieht. Diese kollektive Sorge um uns sollten wir auch kollektiv angehen. M. E. ist es ein starkes Argument für eine gemeinsame Organisierung, wenn diese für das leibliche Wohlergehen auch der Einzelnen erfolgt. Körperliche Unversehrtheit, genug Geld zum Leben, ausreichender Wohnraum einschließlich Privatsphäre und eine nicht deprimierende oder krank machende Umgebung fügen sich zusammen zu einer sozial gedachten Gesundheit, für die sich kollektiv kämpfen lässt.
Dazu breitet sich mittlerweile auch in Deutschland ein Konzept aus, dass sich in Griechenland während der Wirtschaftskrise seit 2007 ausgebreitet hat: die solidarischen Praxen und Kliniken. In Berlin, Leipzig und Hamburg konzipieren Gesundheitskollektive soziale Stadtteilgesundheitszentren. Krankheit wird hier im “Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse” betrachtet, Erkrankungen nicht als individuelle Probleme, sondern als verursacht durch “Lebens- und Arbeitsbedingungen”. Die Arbeit der Stadtteilgesundheitszentren bezieht sich somit nicht nur auf individuelle Beratung und Therapie, sondern auch auf die “politische Auseinandersetzung mit Wohnsituationen und prekären Arbeitsverhältnissen” (Zitate aus einem Interview mit Kirsten Schubert aus dem Gesundheitskollektiv Berlin). [https://www.sozonline.de/wp-content/uploads/2020/07/Beil-SoZexpr.pdf, S. 4]
Eine Infrastruktur für eine solche Initiative finden wir in der Neckarstadt vor: Da ist die Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung in der Zehntstraße, der Gesundheitstreffpunkt in der Max-Joseph-Straße, das ethno-medizinische Zentrum in der Alphornstraße… – damit gehen die Probleme durchaus schon los, denn das “Haus für Vielfalt und Engagement“ in der Alphornstraße 2a ist ein Projekt des GBG und der lokalen Stadterneuerung (LOS).
Gesundheitsförderung besteht im Sinne der oben genannten Initiativen aus einer “Selbstermächtigung des Menschen”. Und genau darum soll es ja auch im Community Organizing gehen. Also, LOS, Neckarstadt: Let’s Organize Solidarity!
Torsten Bewernitz