Swetlana Alexijewitsch: “Der Krieg hat kein weibliches Gesicht”

Rezension von Irmgard Rother – Für mich eines der wichtigsten Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Tief verstörend, vor allem angesichts der Aktualität der in vielen Teilen der Welt geführten Kriege und ihrer Folgen. Dieses Buch zeigt die erbärmliche Alltagsseite des Krieges – jedes Krieges – erlitten von Frauen, die als junge, auf Leben gespannte Mädchen vom Überfall der Faschisten auf Russland überrascht wurden und alles einsetzen wollten, um den Kampf dagegen zu unterstützen. Sie stürmten die Wehrkomitees, um an die Front zu kommen. Die Konfrontation mit der Realität eines Fronteinsatzes muss grausam gewesen sein.

Durch dieses 1985 nach zwei Jahren Zensorenarbeit erstmals veröffentlichte Buch wurde die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch in der damaligen Sowjetunion schlagartig berühmt (unzensierte Erstveröffentlichung 2004). Sieben Jahre lang suchte die Autorin überlebende, ehemalige Rotarmistinnen auf und protokollierte ihre Erinnerungen, über die sie teilweise seit 40 Jahren geschwiegen hatten. Ergebnis ist eine Montage aus mehr als 400 authentischen Interviews mit Frauen, die im zweiten Weltkrieg in der Roten Armee gekämpft haben: Scharfschützinnen, Sanitäterinnen, Pilotinnen, Partisaninnen, aber auch als einfache Wäscherinnen und Köchinnen hinter der Frontlinie. Der Blick dieser Frauen enthüllt die meistens ausgeblendeten Details des Kriegsalltags, geprägt durch die tägliche Konfrontation mit dem Tod. Es entstand ein tief erschütterndes Bild weiterer Dimensionen des Kriegsgrauens in krassem Widerspruch zum offiziell geltenden Heldenmythos des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion.

Rund eine Million Frauen haben im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee gekämpft und zum Sieg der Sowjetunion über die Hitler-Armee beigetragen. Ihr Schicksal ist jedoch nirgendwo festgehalten. Im Gegensatz zu den Männern, die aus dem Krieg zurückkehrten, galten die Soldatinnen keineswegs als Heldinnen, vielmehr begegnete man ihnen mit Misstrauen, selbst mit Verachtung. Die Soldatinnen schlüpften nach 1945 wieder in ihre herkömmlichen Alltagsrollen und mussten besser schweigen, um nicht als Lügnerinnen oder gar als Kriegshuren gebrandmarkt zu werden.

Zu Beginn des Buches fragt sich die Autorin, „warum haben die Frauen, die doch ihren Platz in einer ursprünglich absoluten Männerwelt behaupteten, ihre Geschichte nicht behauptet? Ihre Worte und ihre Gefühle? Sie haben sich selbst nicht vertraut. Sich nicht anvertraut. Eine ganze Welt blieb uns verborgen. Ein separater weiblicher Kontinent. (…) Es gibt einen Krieg, den wir nicht kennen. Ich möchte die Geschichte dieses Krieges aufschreiben. Die weibliche Geschichte. (…) Die Erzählungen der Frauen sind anders, sie erzählen anders. (…) Darin kommen keine Helden und keine ihrer unglaublichen Taten vor, sondern einfach Menschen, die eine unmenschliche menschliche Arbeit tun(…)“ (S. 14)

Davon, dass heutige Machthaber aus den beiden Weltkriegen nichts gelernt haben, zeugt Swetlana Alexijewitsch‘ Buch „Zinkjungen“ (1991). Es ist Tausenden von jungen Soldaten aus allen Ecken der Sowjetunion gewidmet, die zwischen 1979 und 1985 in Afghanistan zu Tode gekommen und in schlichten Zinksärgen zurückgeführt worden sind. Von diesen Kriegsfolgen sollte die Bevölkerung möglichst wenig erfahren, so dass Swetlana Alexijewitsch‘ Buch als Tabubruch galt und sie wegen Verleumdung und „Besudelung der Soldatenehre“ angeklagt wurde. In dieser Zeit vollzog sich ihre endgültige Wandlung zur kompromisslosen Pazifistin: „Seitdem kann mich niemand mehr zwingen zu glauben, dass es gerechte Kriege gibt. Nirgendwo. Krieg – das ist Wahnsinn, legitimierter Wahnsinn, legitimiertes Verbrechen. Und im 21. Jahrhundert ist keinerlei Rechtfertigung von Krieg mehr möglich. Der Irak – da sind wir nicht ins 21. Jahrhundert gegangen, sondern zurück!“ (zit. nach Deutschlandradio: Schrecken der Schlachten. Büchermarkt. 28.10.2004).

Swetlana Alexijewitsch wurde 2015 für „ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“, der Nobelpreis für Literatur verliehen. Die Reaktionen offizieller russischer Medien auf den Literaturnobelpreis für Alexijewitsch waren knapp. Bis auf wenige oppositionelle Internet-Zeitschriften reagierten die meisten mit Unverständnis und Empörung, ja sogar mit abfälligen Kommentaren.

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Suhrkamp Taschenbuch, 2013, 360 Seiten.